Читать книгу Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson - Страница 13
9.
ОглавлениеVerner hatte ziemlich lange gezögert, aber schlussendlich schluckte er die beiden weißen, ovalen Tabletten. Es war halb fünf am Nachmittag, er hätte seine Medizin nach ärztlicher Anweisung eigentlich schon um zwei nehmen sollen.
Er stand lange im Badezimmer vor dem Schränkchen und betrachtete die Reihe von kleinen Pillendosen. Dann öffnete er eine davon, ließ einige leuchtend gelbe Pillen auf seine Handfläche kullern. Er schloss die Faust, öffnete die Hand wieder, sah auf die Pillen. Dann nahm er zwei davon in den Mund, schluckte sie hinunter und steckte die restlichen in die Hosentasche. Erst danach trank er ein wenig Wasser. Eigentlich brauchte er das gar nicht, denn er hatte nur selten einen trockenen Mund.
Er war auf dem Weg nach draußen. Er würde irgendwo hingehen, vielleicht auswärts essen, dann weiter gehen, um müde zu werden, noch weiter gehen, um erschöpft zu sein, den Tag beenden zu können, schläfrig zu werden, spät nach Hause zu kommen und, wenn möglich, auch einzuschlafen. Nicht träumen, nur schlafen, die ganze Nacht.
Aber Verner wusste, dass das so gut wie nie geschah. Meistens lag er schlaflos im Bett und schlief nur wenige Stunden, fiel erst dann in Tiefschlaf, wenn der Tag dämmerte.
Eine Gruppe halbwüchsiger Jungen stand beim Tabakladen, vielleicht waren es Türken, Kurden oder Zigeuner, Verner wusste es nicht. Er machte einen Bogen um sie, hörte einige Kommentare, ging weiter und kümmerte sich nicht darum, was sie sagten oder taten. Er hatte keine Angst vor ihnen, dennoch war er zur Seite gegangen. Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum, hätte er keine Antwort darauf gehabt.
Der Zug fuhr um fünf nach halb sechs. Er hatte nicht geplant, in die Stadt zu fahren, es kam einfach dazu.
Er stieg am Hauptbahnhof aus, ging die Vasagata in Richtung Kungsgata hinunter, bog nach links zum Hötorg ab, kam an erleuchteten Schaufenstern vorbei und erinnerte sich, wie er dort als Kind mit seinem Vater die Weihnachtsdekorationen betrachtet hatte. Das hatten sie wohl mehr als einmal getan, vielleicht nur um einer Art Tradition willen?
Er hatte seinen Vater nur zu besonderen Anlässen getroffen, seine Eltern hatten niemals zusammengelebt, und er hatte nur vage Erinnerungen an diese Treffen. Aber jetzt trat ein Bild aus dem Dunkel seines Gedächtnisses hervor: Er hielt die Hand seines Vaters, sie standen vor einem Kaufhaus. War es vielleicht das PUB, genau hier, wo Verner sich jetzt befand, viele Jahre später? Das Bild lebte noch einige Sekunden und verblasste dann. Verner konnte sich nicht entsinnen, sich an dieses Erlebnis schon vorher einmal erinnert zu haben, und zunächst zweifelte er, dann war er verwundert. Die Verwunderung dauerte einige Minuten, wurde durch eine stetig ansteigende Unruhe ersetzt und einen Druck auf der Brust. Verner nahm einige der leuchtend gelben Pillen aus der Hosentasche, schluckte sie und ging weiter.
Die Medizin wirkte recht schnell, die Unruhe war im Großen und Ganzen schon weg, als er sich dem Stureplan näherte.
Er aß einen Hamburger bei McDonald‘s, trank ein Glas Milch, dachte an etwas Stärkeres, Whisky vielleicht. Das pflegte er selten zu tun. Seit er angefangen hatte, die Medikamente zu nehmen, trank er nicht mehr.
Es war halb neun. Er setzte seine Wanderung fort, ging für mehrere Stunden planlos in der City herum. Er bekam aber nicht wieder Hunger, ging schnell, hielt nicht an, vermied es, andere Menschen anzusehen.
Zwanzig vor elf war er auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof. Er kam vom Sergels Torg, ging nach links durch die Klarabergsgata zum oberen Eingang und sah zunächst flüchtig hinunter auf das Treiben auf der Vasagata unter der Fußgängerüberführung.
Zum ersten Mal, seit er den Hamburger gegessen hatte, hielt er an und blieb eine Weile stehen, fing an, die Menschen dort unten zu beobachten. Die meisten waren allein, es gab auch Paare und einige Gruppen von Jugendlichen. Jemand stand an der Wand, eine junge Frau. Vielleicht wartete sie? Nein, sie war wohl nicht allein, ein Mann stand ein Stück entfernt neben ihr und kramte in einer Tasche. Dann wandte sich der Mann der Frau zu und ging raschen Schrittes auf sie zu.
Alles ging sehr schnell. Der Mann ließ die Tasche fallen, hob die Hand und schlug die Frau. Sie hielt beide Hände vors Gesicht, doch der Mann schlug weiter. Die Frau, schwer getroffen, sank in sich zusammen und der Mann verpasste ihr noch zwei, drei weitere Schläge. Dann nahm er seine Tasche, stellte sich an die Wand und sah auf die Frau hinunter. Sie saß in der Hocke, stützte sich mit der einen Hand auf den schwarzen Asphalt. Langsam hob sie den Kopf, sah den Mann an, der sich nicht rührte.
Nach einigen Minuten tat der Mann einige Schritte zurück in Richtung der Frau. Er stellte die Tasche ab, auf die gleiche Art und Weise wie zuvor. Und als die Frau sich aufrichtete, schlug er sie wieder.
Jetzt fiel sie der Länge nach hin. Der Mann zog sich zurück, dieses Mal hob er seine Tasche nicht mehr auf.
Verner sah alles von der Überführung aus. Wenn der Mann und die Frau nach oben geblickt hätten, würden sie vielleicht Verners Gesicht über dem Geländer gesehen haben, aber die Frau lag auf dem Bürgersteig, und der Mann starrte auf sie hinunter, mit leicht erhobenen Händen, bereit zu neuen Schlägen.
Einige Minuten vergingen, und die beiden waren immer noch da, sie zusammengekrümmt, er in angespannter Kampfhaltung.
Dann ging Verner davon. Er ignorierte die Treppe, auf der er zu der Frau hätte hinuntergehen können, ging ein Stück weiter, schräg über die Straße und durch die Tür in die obere Eingangshalle des Hauptbahnhofs.
Eine Viertelstunde später saß er im Pendelzug Richtung Alvsjö.
Er ging nicht auf direktem Weg nach Hause. Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Mietshäusern am Törnrosväg, wo er wohnte, hinauf Richtung Krankenhaus, in das kleine Wäldchen hinein. Er ging schnell, rannte, rang nach Atem, wusste, dass bald etwas geschehen würde. Etwas war dabei, nach ihm zu greifen, ein erstickendes Gefühl, eine zunehmende Angst.
Wieder sah er die verprügelte Frau vor sich, den drohenden Mann, und erlebte seine eigene Schwäche, seine Feigheit. Als er seinen Aussichtsplatz auf dem Fußgängerüberweg verließ, hatte er nichts gefühlt. Für eine lange Zeit, für mehrere Jahre vielleicht sogar, war er nicht mehr in die Nähe seines alten Zorns gekommen. Nun näherte der sich, und er kam in Form von Erschrecken und verwandelte sich in Selbstverachtung und Schuld.
Verner war stehen geblieben, ging jetzt aber hastig weiter, fing wieder an zu rennen, zwischen den Häusern von Solberga, vorbei an Spielplätzen, parkenden Autos, aufgestellten Containern. Und er spürte dieses Verlangen nach Schnaps, das er bereits vor einigen Stunden in der Stadt verspürt hatte.
Er rannte immer noch, er war erschöpft, er stolperte, als er am Kristalltorg ankam. Als er die Pizzeria betrat, schnaufte er gewaltig. Es war nach halb zwölf, die Gaststätte würde bald schließen. Aber Verner bekam eine Karaffe mit Rotwein, und er trank sie hastig leer, bestellte eine weitere. Der unrasierte Mann, der servierte, gab Verner die zweite Karaffe nur zögernd. Aber es saßen viele angetrunkene Männer im Lokal, warum sollte dieser Gast leer ausgehen? Er sah nicht heruntergekommen aus wie die meisten anderen, er war wohl nur durstig und hatte es eilig.
Nach drei Vierteln legte Verner drei Hundertkronenscheine auf den Tisch und erhob sich, um das Lokal verlassen. Er schwankte, stützte sich mit der Hand an der Wand ab, taumelte und fiel.
Der Unrasierte war gleich da, ergriff Verners Arm, zog ihn hoch und führte ihn zur Tür.
Verner schaffte es, fünfundzwanzig Meter zu gehen und die Hausecke zu umrunden, bevor er fiel. Er schürfte sich die Wange an einem Fahrradständer auf, schlug sich die Knöchel an der scharfen Bürgersteigkante blutig und blieb liegen.
Als die übrigen Gäste der Pizzeria aufbrachen, gingen sie in die andere Richtung. Niemand sah Verner.
Er lag immer noch da, das Blut gerann auf den aufgeschürften Fingern. Es war halb vier, als er hörte, dass jemand mit ihm sprach.
»Hier kannst du doch nicht liegen!«, sagte der Unbekannte.
Verner antwortete nicht. Jetzt merkte er, wie der, der ihn angesprochen hatte, seinen Kopf hob.
»Hör zu, es ist ein Polizeiauto in der Nähe, wenn du hier liegen bleibst, nehmen sie dich mit!«
Verner hörte das Wort Polizei, und ganz allmählich ging ihm auf, dass das Probleme bedeuten könnte. Er versuchte sich aufzurichten, aber er schaffte es nur, die eine Schulter ein wenig vom Bürgersteig zu erheben.
»Verdammt, so geht das nicht«, sagte der Unbekannte und begann gleichzeitig, an Verners rechtem Arm zu ziehen. Verner half mit, legte den Arm um den Hals des Mannes, schaffte es, dass das eine Bein ihm gehorchte und bewegte sich so langsam in eine halb sitzende Stellung, erhob sich mit Mühe. Sie begannen zu gehen, der Mann stützte, Verner stolperte langsam vorwärts, entlang der Häuserreihe, um eine Straßenecke, hinein in einen Hauseingang. Dort blieben sie stehen und ruhten sich aus.
»Du kannst bei mir schlafen«, sagte der Mann.
Verner antwortete nicht, folgte ihm aber, denn er sah ein, dass er es nicht mehr bis zu sich nach Hause schaffen würde, und erst jetzt begriff er auch, dass das Polizeiauto, von dem der Mann gesprochen hatte, eine wirkliche Gefahr darstellte.
»Ich wohne im Erdgeschoss«, sagte der Mann, als er Verner durch den Hauseingang zum Haus bugsierte.
Verner antwortete nicht, nahm aber an, dass das, was der Mann sagte, etwas Positives war, er war müde und musste jetzt keine Treppen mehr steigen.
Der Mann schloss seine Tür auf, zog Verner hinein, schloss die Tür vorsichtig.
»Ich heiße Stig«, sagte er.
Verner murmelte seinen Namen, sogar auch den Nachnamen, er fühlte, dass er versuchen musste, so deutlich wie möglich zu sprechen.
Es war kurz nach sieben Uhr morgens, als Verner erwachte. Er lag auf einem Sofa, eine Wolldecke über sich gebreitet. Er richtete sich so leise wie möglich auf. Kopfschmerzen schossen ihm in den Nacken wie ein Hammerschlag und drückten ihn aufs Sofa zurück.
Einige Minuten später wagte er wieder einen Versuch, diesmal wesentlich langsamer. Der Schmerz war diesmal nicht ganz so erbarmungslos, trotzdem ließ er sich wiederum zurücksinken.
Der dritte Versuch war immer noch schmerzhaft, aber Verner zwang sich dazu aufzustehen. Ihm wurde schwarz vor den Augen, aber einige Minuten später sah er das Zimmer wieder. Er machte einen Schritt, hielt an, machte dann noch einen. Er schleppte sich in die Küche, zum Wasserhahn, fand ein Glas und trank, füllte es und trank wieder, ein ums andere Mal.
Dann verließ er die Wohnung, ohne den Mann zu wecken, der sich ihm als Stig vorgestellt hatte.
Verner wollte nach Hause. Die Kopfschmerzen waren noch da, der Druck auf der Brust auch und die wachsende Unruhe. Aber er wusste, dass das, was er gerade fühlte, noch viel schlimmer werden konnte. Er wollte seine Medizin nehmen, wie immer, bevor es unerträglich werden konnte. Aber unmittelbar nachdem er diesen Gedanken gedacht hatte, hielt er inne, ihm kamen kurz Zweifel, ein kurzer Einspruch, der im nächsten Augenblick wieder durch eine verstärkte und sich steigernde Unruhe ersetzt wurde, ein starkes Gefühl von Verzweiflung.
Er ging durch Solberga, langsam, atmete tief ein, blieb oft stehen.
Jemand rief nach einem Hund, als Verner in den Hof kam. Er beeilte sich aufzuschließen, setzte sich aufs Bett, ohne sich die Jacke auszuziehen, und blieb dort sitzen, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Vielleicht war der Entschluss schon seit einiger Zeit in ihm gereift, ohne dass er sich dessen bewusst war, aber nun entschied er sich, trotz der Unruhe, trotz der bedrohlichen Angst. Er ging ins Badezimmer, stand eine Weile vor dem Spiegelschrank, nahm eins der Döschen heraus, schraubte es auf, stellte es zurück.
Er wusste, dass das, was er vor sich hatte, unerhört schwer werden würde, vor allem in der nächsten Zeit. Er war überzeugt davon.
Aber er dachte an die misshandelte Frau, die er gesehen hatte, und die Scham, die jetzt wieder in ihm auflebte, war größer als die Angst vor dem, was er würde durchstehen müssen, das Gefühl von Ekel über die Feigheit, bei der er sich selbst ertappt hatte, schien weitaus weniger erträglich.
Dennoch kamen ihm große Zweifel, als er das Döschen wieder aufschraubte. Dann schüttete er den Inhalt in die Toilette, das Gleiche tat er mit den anderen sechs Döschen.
Bevor er spülte, betrachtete er den Haufen unterschiedlich gefärbter Pillen, der sich unter dem ovalen Wasserspiegel der Toilette gesammelt hatte und er dachte, dass das, was er jetzt tat, genauso wahnsinnig war, wie auf einem sinkenden Schiff zu stehen und Löcher in die Rettungsboote zu bohren. Dennoch drückte er die Spülung, wartete und ließ den Spülkasten wieder voll laufen, spülte nochmals und dann noch einmal.
Eine Stunde später fing er an zu weinen.