Читать книгу Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson - Страница 9
5.
ОглавлениеDie Wettervorhersage im Radio hatte einzelne Schauer und einige heitere Abschnitte vorausgesagt, aber der Himmel war bleigrau, als Verner früh am Morgen aus dem Küchenfenster schaute. Die Aussicht war zwar begrenzt durch einen Baum und das Ziegeldach der Waschküche, aber wenn er sich dicht vor die Scheibe stellte und den Blick nach oben richtete, konnte er einen breiten Streifen Himmel über der Häuserfront sehen und auch die bepflanzten Höfe gegenüber.
Es war halb acht. Verner hatte schlecht geschlafen. Er hatte lange wach gelegen und war erst eingeschlafen, als das erste Licht das Zimmer zu erhellen begann, um dann kurz darauf wieder vom Zeitungsboten geweckt zu werden, der an den Briefkästen der Nachbarn klapperte. Er selbst hatte keine Zeitung abonniert, er hatte auch keinen Fernseher und bekam nur selten Briefe, dafür aber eine tägliche Dosis unterschiedlicher Reklameprospekte. Er nickte den Nachbarn zu, wenn er sie im Hauseingang traf, sagte aber selten etwas. Rechts unten wohnten Mihailovic und Mehmet, links unten Järvinen und Malmgren; eine Dreizimmerwohnung, drei Zweizimmerwohnungen und Verners Appartment mit Kochnische. Das Haus war Eigentum der Familjebostäder. Verner wohnte hier seit drei Jahren, genauso lange wie er ohne Arbeit war, seine Medizin nahm und vor sich hin lebte.
Er stand im Bad und rasierte sich, als es an der Tür klingelte. Er hatte nicht vor zu öffnen, denn er nahm an, dass es ein Vertreter war oder Schulkinder, die Geld für ihre Klassenfahrt sammelten. Aber das Klingeln hörte nicht auf, wiederholte sich immer schriller in immer kürzeren Intervallen, nervtötendes Klingeln, das minutenlang anhielt.
Verner hatte sich entschieden, nicht zu öffnen. Als es endlich wieder still war, war er sicher, den Störenfried losgeworden zu sein. Er dachte, dass das vielleicht der Ausdruck eines neuen Zeitalters war, nicht aufzugeben, sich festzubeißen, den widerspenstigen Kunden zu überwältigen. Verkaufen, niederreden, verkaufen.
Da hörte er ein Klopfen am einzigen Fenster des Raumes. Er war gerade fertig mit der Rasur, stand mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken, sah im Spiegel, dass er sich mit der Klinge leicht am Hals geschnitten hatte, denn er blutete. Er wischte das Blut mit dem Handtuch weg, behielt es in der Hand und ging ins Zimmer bis zum Fenster.
Eine Frau stand dort zwischen den Sträuchern. Sie kam näher und hielt etwas in der Hand, das sie dann gegen die Scheibe drückte. Verner konnte sehen, dass es sich um einen Polizeiausweis handelte. Sein Blick traf den ihren und er glaubte, sie wiederzuerkennen. Sie nickte in Richtung Tür und verschwand. Verner zog sich schnell ein Hemd über, bevor er öffnete. Die Frau stand dort, die Hände in den Taschen vergraben. Sie trug lange, dunkle Hosen, eine blaue Sportjacke, hatte kurzes Haar und trug keinerlei Kopfbedeckung.
»Verner?«, fragte sie.
»Mmh«, antwortete er. Sie hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, und er begriff, dass sie entschlossen war. Er konnte sie bitten einzutreten, aber eigentlich war das unnötig. Und jetzt erinnerte er sich wieder an ihren Namen.
»Margret Mattsson, oder?«, fragte er.
Sie war jetzt im Flur, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Sie lächelte ihn an, er erwiderte den Blick, ohne zu lächeln.
»Bist du im Dienst?«, fragte er.
»Sowohl als auch«, antwortete sie.
»Komm rein, kann ich dir etwas anbieten? Eigentlich habe ich nicht wirklich etwas anzubieten, aber du kannst eine Tasse Kaffee haben oder Tee.«
»Danke, ich möchte nichts.«
Er ging ins Zimmer, sie folgte ihm. Das Bett war ungemacht, eine Unterhose lag auf einem der Stühle am Tisch, auf dem anderen lagen zwei Zeitungen. Verner warf die Unterhose aufs Bett und zog hastig die Bettdecke darüber, um sie zu verstecken, und strich die Decke glatt. Dann fegte er die Zeitungen vom anderen Stuhl, zog ihn vom Tisch weg und machte eine einladende Geste in Richtung seines Gastes, selbst setzte er sich auf den Stuhl, der gerade erst von der nicht ganz sauberen Unterhose befreit worden war.
Aber die junge Frau mit dem Polizeiausweis ließ sich nicht nieder, sie ging zum Fenster und öffnete es, erst einen Spalt, dann ein wenig weiter.
»Möchtest du rauchen?«, fragte Verner.
»Nein«, antwortete sie. Schnell sah sie sich im Zimmer um. Es gab nur wenige Möbelstücke, keine Bilder, keine Teppiche. Neben dem Bett hing ein Regal mit einigen Büchern, einem Lexikon, einem Stapel Heftchen. Ganz oben im Regal stand ein Dekorationsgegenstand, und zwar der einzige im ganzen Zimmer: ein bemalter Gipskopf, an die fünfzehn Zentimeter hoch, der ein junges Mädchen darstellte.
Dann setzte sich die Frau Verner gegenüber. Sie sagte eine ganze Weile gar nichts, lächelte ihn aber die ganze Zeit über an, so hatte die Stille nichts Beklemmendes für Verner. Schließlich sagte sie mit fragendem Tonfall:
»Du weißt nicht, warum ich hier bin, Verner?«
»Vielleicht wolltest du ja einfach mal hallo sagen.«
»Schon, aber ich frage mich auch, ob du mir nicht vielleicht bei einer Sache behilflich sein könntest. Diese ›Sache‹ ist vorgestern passiert, das heißt, um genau zu sein, ist sie wahrscheinlich vorgestern am späten Abend passiert oder gestern sehr früh am Morgen.«
»Aha.«
»Du weißt nicht, dass hier etwas passiert ist?«
»Nein.«
»Ein Mann wurde tot aufgefunden, erhängt. Erst sah alles nach Selbstmord aus, aber jetzt wissen wir, dass es nicht so war.«
»Und was war es dann?«
»Der Mann wurde ermordet, erst misshandelt und dann getötet. Stranguliert und dann auf dem Speicher von einem der Aufgänge hier zu deinem Hof aufgehängt. Er hieß Anders Björkman, sagt der Name dir etwas?«
»Ich habe den Namen noch nie gehört. Ich höre manchmal Radio, aber da haben sie nichts davon gesagt. Und ich gucke am Kiosk auf die Schlagzeilen.«
»Die Abendzeitungen bringen es heute Abend, da kannst du dir sicher sein.«
»Aha.«
»Und du hast nichts gehört oder gesehen?«
»Nein.«
»An diesem Abend beziehungsweise in dieser Nacht, warst du da hier?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst?«
»In meiner Erinnerung verschwimmt das alles oft, das kommt von den ganzen Medikamenten, die ich nehme. Ich vergesse die Zeit.«
»Denk bitte nach.«
Verner sah aus dem Fenster und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. Die Tage glichen sich und die Nächte ebenso, schlaflos und unruhig, so dass er manchmal aufstand und einige Stunden spazieren ging.
»Vielleicht war ich draußen und bin eine Runde gegangen.«
»Hier in der Gegend?«
»Anzunehmen.«
»Und du hast nichts besonderes gesehen oder gehört?«
»Wie ich gesagt habe, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich in der Nacht wirklich draußen gewesen bin, vermutlich war ich das, aber ich kann die Tage nicht auseinanderhalten.«
»Okay Verner, ich glaube dir, aber wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, kannst du mich gerne anrufen, falls die Erinnerungen sozusagen zurückkommen sollten.«
»Das tun sie für gewöhnlich nicht.«
»Aber falls doch, dann rufst du an, ja?«
»Wo bist du denn zu erreichen?«
»Ich bin jetzt bei der Bezirkspolizei, bei der Kriminalabteilung.«
»Du warst dort wohl gerade neu, als ich aufgehört habe.«
»Ich war noch in der Ausbildung, als du verschwandest, wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, du hast damals Vorlesungen für uns gehalten, erinnerst du dich?«
»Auf der Polizeihochschule?«
»Nein, die hatte ich da bereits hinter mir, das war während der praktischen Ausbildung.«
»Ach so, ja. Sie hatten mich ab und zu darum gebeten, euch Vorträge zu halten.«
»Weil du dein Handwerk verstanden hast, Verner.«
»Das ist lange her.«
»Aber du konntest dich noch an meinen Namen erinnern.«
»Das muss Zufall gewesen sein, vielleicht hast du irgendeinen besonderen Eindruck hinterlassen.«
»Obwohl drei Jahre ja auch wieder nicht so lang sind.«
Verner erhob sich und ging in die Kochnische. Er drehte den Wasserhahn auf, spülte zwei Tassen aus und setzte den Wasserkessel auf. Die junge Polizeiinspektorin blieb sitzen, sie begriff, dass er über das, was passiert war, nicht sprechen wollte.
»Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinaus in den Flur, öffnete die Tür zum Badezimmer, machte sie hinter sich zu und schloss ab. Sie stand eine Weile still, bevor sie ein Stück Papier von der Rolle zog, es zusammenknüllte und es in die Toilette fallen ließ und spülte. Dann öffnete sie das Spiegelschränkchen, fand Rasierer, Zahnpasta, Pflaster, eine Rolle Kupferdraht und fünf Pillendöschen mit Etiketten: Tolvin, Cipramil, Valium, Rohypnol, Leponex. Dazu noch zwei Döschen ohne Aufschrift. Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Namen der Präparate auf.
Als sie wieder in den Flur kam, stand Verner noch in der Kochnische. Das Wasser hatte angefangen zu sieden.
»Ich möchte am liebsten Tee«, sagte sie.
Als er nicht antwortete, ging sie zum geöffneten Fenster hinüber, zog es ein Stück weiter zu und sah einige Kinder vorbeigehen, ein Mädchen und zwei Jungen, der eine trug eine leuchtend gelbe Mütze. Margret erinnerte sich, dass das Mädchen, mit dem ihr Kollege gesprochen hatte, orangefarbene Kleidung getragen hatte, das hatte im Bericht gestanden, als ob dieses Detail wichtig gewesen wäre.
»Es war ein kleines Mädchen, das das Mordopfer gefunden hat«, sagte sie.
»Aha«, murmelte Verner und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.
»Ja, ein Mädchen und ein Müllmann.«
»Aha.«
»Und es war Philipsson, der mich gebeten hat, mit dir zu sprechen.«
»Dein Chef?«
»Ja, er meinte, dass du vielleicht etwas wissen könntest.«
»Bin ich für die Ermittlungen von Interesse?«
»Er hat mich nur gebeten, mit dir zu sprechen, mehr nicht, weil du hier wohnst und weil du mal Polizist gewesen bist.«
»Ich bin so vieles gewesen, und jetzt weiß ich mal gerade noch, wie ich heiße, und Philipsson ist übrigens einer von denen der ... ach, ist egal.«
»Nein, sag, was du sagen wolltest.«
»Du weißt es sicherlich, Margret, oder? Natürlich weißt du es.«
Verner erhob ein wenig die Stimme, atmete so aus, dass es ähnlich wie ein tiefer Seufzer klang, und schüttelte den Kopf, blieb aber still. Margret nickte, sagte aber nichts. Sie hob die Teetasse, trank einen Schluck, erhob sich und streckte Verner die Hand entgegen.
»Ruf mich an, wenn dir etwas einfällt«, sagte sie, »oder ruf mich einfach so an, wenn du willst, das wäre schön.«
Nachdem Margret gegangen war, ging Verner ins Badezimmer, öffnete das Schränkchen, nahm zwei Pillen aus dem einen Döschen und spülte sie mit einer Handvoll Wasser hinunter. Er wusste, dass seine Besucherin in den Schrank geguckt hatte, und dass sie aufgeschrieben hatte, wie die Pillen hießen. Er wusste, dass es ein Fehler von ihr gewesen wäre, das nicht zu tun, und er wusste, dass sie wusste, dass er wusste, was sie im Badezimmer gemacht hatte.
Er hatte sogar Vorlesungen darüber gehalten, war er es also selbst gewesen, der ihr beigebracht hatte, in den Badezimmerschränken anderer Leute herumzuschnüffeln?
Verner verließ gegen zwei das Haus. Er war auf dem Weg ins Zentrum, um im Konsum einzukaufen, ging aber nicht auf direktem Weg dort hin. Er sagte sich selbst, dass er sich nur ein wenig die Beine vertreten wollte, sich bewegen, ein bisschen bummeln. Nachdem er einen Kilometer auf dem Trimm-dich-Pfad neben der Eisenbahntrasse zurückgelegt hatte, wusste er, dass er dem Stadtzentrum auswich, den Schlagzeilen in den Zeitungsständern und den ganzen Informationen über das, was geschehen war.
Plötzlich blieb er stehen, stand einige Minuten still auf dem Weg, atmete tief ein und versuchte sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte; das, was geschehen war, hatte nichts mit ihm zu tun. Es war ein Mord, einer von unzähligen, er hatte selbst eine große Anzahl Opfer gesehen, einige kaputt geschlagen, einige schon verwest, hatte den Gestank gerochen, Würmer gesehen, Kinder getroffen, die ihren Vater verloren hatten, war derjenige gewesen, der einer Mutter erzählen musste, dass ihre Tochter ermordet worden war.
Verner versuchte sich selbst daran zu erinnern, dass er das Schlimmste schon erlebt hatte. Aber er fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er hatte Angst.
Trotzdem drehte er um, sah die Schlagzeilen: ›Brutaler Mord in Älvsjö‹. ›Hinrichtung ohne Gnade‹. Er kaufte den Expressen, einen Liter Milch, ein Brot, ein Päckchen Butter, zwei Tomaten, eine Dose Erbsensuppe. Er wartete mit dem Lesen, bis er zu Hause war.
Das Opfer war ein einundfünfzigjähriger Mann. Er war zuvor nicht polizeibekannt gewesen, er wohnte in Solberga, arbeitete als Gehilfe an einer Tankstelle, er war geschieden, hatte eine erwachsene Tochter. Die Polizei hatte noch niemanden festgenommen, sie hatten an den Haustüren geklopft und erhofften sich Hilfe von der Bevölkerung, jemand musste den Verdächtigen gesehen haben, da er höchstwahrscheinlich über den offenen Hof zwischen den Häusern gelaufen sein musste, in denen es zweiundneunzig Wohnungen gab, alle mit Fenstern zum Hof.
So stand es im Expressen. Verner hatte keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Und er war der gleichen Meinung, es war gut möglich, dass jemand etwas Ungewöhnliches beobachtet hatte, irgendjemand war immer wach, saß schlaflos am Fenster, ging zur Spätschicht, kam aus der Kneipe nach Hause.
Jetzt wusste Verner ein wenig über das Opfer: ein gewöhnlicher Mann in seinem Alter. Aber diese unbedeutende Tatsache half ihm wenig. Seine Unruhe war immer noch da, die Erinnerungslücke, das Gefühl von Schuld.