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Die Familie: 1987

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Freitag, 17 Uhr

Ganz ohne Grund benahm ich mich wie eine lampenfiebrige Gastgeberin: ordnete Falten in den Vorhängen, schob Stühle unter den Tisch und rutschte auf dem Hosenboden über den Couchtisch, um den Staub auf eine Stelle zu übertragen, auf die fast nie mehr jemand blickte.

In wenigen Minuten würde die Ruhe von drei erwachsenen Kindern unterbrochen werden, die übers Wochenende heimkamen: es sollte das traditionelle Familienfoto für die Weihnachtskarte aufgenommen werden.

»Sind sie schon da?« rief mein Mann und balancierte sein Stativ und seine Kamera.

Ich schüttelte den Kopf und ging rasch ins Wohnzimmer, wo ich das Licht anknipste. Es war so, wie ich es in Erinnerung hatte: die weißen Sofas einander gegenüber, der unbenutzte hochflorige Teppich, die prallen Kissen, deren Ecken zipfelten wie frische Meringen.

»Was riecht denn da so?« fragte mein Mann und zog beim Betreten des Zimmers die Schuhe aus.

»Das Zellophan auf den Lampenschirmen. Wo sie nur bleiben?«

»Sie«, das sind zwei Söhne und eine Tochter, empfangen in Leidenschaft, erwartet mit Sodbrennen und aufgezogen mit Liebe. Gene, Chromosome und der Nachname sind uns gemeinsam. Wir haben nie die gleichen Frühstücksflocken gegessen, die gleichen Fernsehsendungen gesehen, die gleichen Menschen gern gehabt oder die gleiche Sprache gesprochen. Warum sollten sie nicht zu spät kommen – in dreißig Jahren hatten wir nie die gleiche innere Uhr.

War bei mir alles auf Waschen, Bügeln, Einkaufen, Kochen und Dauertrab eingestellt, waren sie auf Dauerschlaf programmiert und danach weg. Stand bei mir der Schlaf der Erschöpfung auf dem Programm, dann bei ihnen Drehwurm-in-der-Wiege, Disco-Musik und Moto-Cross-Rennen im eigenen Garten.

Selbst als sie größer wurden: ging ich ins Bett, gingen sie aus. Stand ich zum Frühstück auf, kamen sie eben heim. »Wie hast du überhaupt fertiggekriegt, daß sie herkommen? Du weißt doch, wie sehr sie das Fotografiertwerden hassen.«

»Ich hab ihnen gesagt, wir wollten unser Testament verlesen.« Mich wunderte nur, warum wir uns die ganze Mühe überhaupt machten.

Das vorjährige Weihnachtsfoto zeigte eines unserer Kinder auf dem Sofa mit Schlips und Sportjackett, aber ohne Schuhe. Unsere Tochter blickte genau in die Kamera, aber mit geschlossenen Augen, und der andere Sohn hing mir über die Schulter und hatte eine Temperatur von mindestens 39,2. Der Hund leckte sich an einer unappetitlichen Stelle, und wir alle – mit Ausnahme des Hundes und unserer Tochter – richteten unsere Blicke auf ein Knie meines Mannes, das mit aufs Bild geraten war.

Es war kein Bild, wie man es an einem hohen kirchlichen Feiertag gern anschaut.

Warum nur waren wir nicht wie unsere ehemaligen Nachbarn, die Nelsons? Jedes Jahr bekamen wir eine Weihnachtskarte von ihnen, darauf war die ganze Familie vor dem Kamin versammelt, in Skipullovern und mit Jacketkronen-Lächeln.

»Hast du mit unserem Sohn in Los Angeles gesprochen?«

»Ich habe ihm was aufs Band gesprochen«, sagte ich.

Um genau zu sein, hatte ich seit über drei Jahren nicht mehr mit meinem Sohn persönlich gesprochen. Ich hatte auf seinen Anrufbeantworter gesprochen und er auf meinen Anrufbeantworter, und manchmal unterhielten sich auch unsere Anrufbeantworter miteinander. Ich würde es nicht jedem anvertrauen, aber sein Anrufbeantworter und ich haben eine weit innigere Beziehung zueinander als wir. Sein Automat hat so gute Manieren. Wenn ich anrufe, sagt er leise: »Tach. Ich bin gerade nicht da, aber wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, rufe ich Sie an, sobald ich kann. Beim Piepston haben Sie noch zehn Sekunden. Einen schönen guten Tag noch.« Mein Sohn würde das nie sagen.

Der Automat war so nett, daß ich es nicht übers Herz brachte, zu sagen was ich hatte sagen wollen: »Du Miststück, ich liege schon dauernd angstvoll auf den Knien, und du findest nicht einmal die fünf Minuten Zeit, um deine Mutter anzurufen.« Ich sagte daher schließlich nur: »Ich weiß, mein Lieber, du hast viel zu tun. Ich wollte bloß mal kontrollieren, ob du noch lebst. Ich hatte heute fast keine Schmerzen. Dir auch einen schönen guten Tag.«

Es würde nett sein, die Familie mal wieder versammelt zu sehen, zusammenzusitzen und alte Erinnerungen aufzufrischen, Wissenswertes über ihr Leben in Erfahrung zu bringen, vor Augen zu haben, was wir ihnen als Vermächtnis hinterließen ... gewissermaßen das Denkmal unserer eigenen Unsterblichkeit.

Meine Träumereien wurden vom Geräusch zuknallender Autotüren unterbrochen. Unser älterer Sohn stieß die Tür auf. »Jemand zu Hause?« (Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er mir genau in die Augen sah und diese Frage stellte.) Er trug ein zerknautschtes Jackett mit bis zum Ellbogen hinaufgeschobenen Ärmeln, ein Hawaii-Hemd und Ballonhosen, die weiße Knöchel und nackte Füße freiließen.

Sein Vater wandte sich an mich und sagte: »Um Himmelswillen, Erma, hast du denn deinem Sohn nicht gesagt, daß wir ein Familienporträt für die Weihnachtskarte machen wollen?«

»Aber dazu bin ich doch gekommen«, sagte er.

»Und warum hast du dich dann nicht rasiert?«

»Hab ich ja, erst vor paar Stunden.«

»Hast du auch eine Klinge eingelegt?«

»Aber ja, es sind frische Stoppeln. Ich will aussehen wie aus ›Miami Vice‹. Sag bloß nicht, daß du die nicht schon früher bemerkt hast.«

»Klar habe ich sie schon früher bemerkt, bei Erntearbeitern und Reisenden, deren Gepäck drei Wochen lang verlorenging.«

»Dad, so was ist sexy. Es gibt einem den gewissen ›Eben-aus-dem-Schlafsack‹-Look. Das wirst du doch noch wissen. Hallo, Mom. Ich fahr rüber zum Strand und leg mich noch ein bißchen in die Sonne. Kannst du derweil mein Haustier übernehmen?«

»Ich brauche keinen weiteren Hund. Ist er stubenrein?«

»Mom, ich würde dir doch nichts dalassen, was nicht stubenrein ist. Er ist schon da, samt Futter und allem. Überhaupt kein Stress, Liebes.«

»Du weißt doch, was unsere Nachbarn von bellenden Hunden halten.«

»Ich versprech dir, dieses Tier wird nicht bellen. Ich tu es in den Wirtschaftsraum. Sein Futter steht neben dem Toaster.«

In diesem Augenblick stieß sein Bruder die Haustür auf.

»Na, hoffentlich bist du nun zufrieden«, verkündete er matt. »Ich bin erkältet.«

Meine Augen trübten sich und ich nahm ihn in den Arm. »Es ist wundervoll, daß du da bist. Wie lange kannst du bleiben?«

»Das kommt drauf an, wie lange es dauert, so viel Wäsche zu waschen«, sagte er und schob mir seinen Koffer hin. »Alles, was ich besitze, ist schmutzig.«

Dann begrüßten wir unsere Tochter.

Sie erwiderte unsere Begrüßung mit: »Mein Getriebe klingt irgendwie komisch.«

Und dann kam der große Augenblick. Mein Mann fing an, ihre Gestalten über das Sofa zu drapieren, und blickte dann in den Sucher.

»Na, wie sieht es aus?« fragte ich.

»Wie eine Gruppe illegaler Einwanderer vor dem Verhör. Wieso bist du im Tennisdreß?« fragte er unsere Tochter.

»Weil ich Tennis spiele«, sagte sie trocken. »Ich wußte ja nicht, daß Abendkleidung verlangt wird.«

»Es wird eine Weihnachtskarte, Himmel noch mal. Geh und zieh dir was Passendes an. Los, Jungens, haltet euch gerade!«

»Tu ich ja«, sagte unser Sohn. »Ich hab bloß keine Schuhe an.«

»Dann stell dich hinter deine Mutter. Nein, das geht auch nicht. Der Atompilz auf deinem T-Shirt quillt genau aus dem Kopf deiner Mutter. Mein Gott, was soll überhaupt dieses Anti-Atomkraft-Ding?«

»Es war das einzige T-Shirt, das noch sauber war.«

»Geh und hol dir eins von meinen Hemden. Wo ist wieder deine Schwester hin?«

»Sie wäscht sich die Haare.«

»Dauert das lange?«

»Du, der da hat Schweißfüße.«

»Wo ist der Hund? Wir können kein Bild ohne Harry drauf brauchen.«

»Drängel doch nicht andauernd!«

»Widerling!«

Die Familie. Wir waren ein Häufchen komischer Käuze, die durchs Leben stolperten, Krankheiten und Zahnpasten teilten, dem anderen den Nachtisch neideten, Shampoo versteckten, Geld borgten, sich gegenseitig aus unseren Zimmern aussperrten, einander Schmerzen zufügten und sie im gleichen Moment durch ein Küßchen stillten, lachend, sich rechtfertigend und bemüht, den gemeinsamen Nenner zu finden, der uns verband.

Als ich so dasaß, dachte ich darüber nach, wie doch die Jahre zu Zerreißproben für die Familien geworden waren, von denen man meinte, sie würden sie nie bestehen.

Alles haben sie ausgehalten, Kombinationen von Stief-, Pflege-, Ersatz- und Einzelerziehern, eingefrorene Embryonen, Samenbanken, alles. Sie haben sich erweitert, geteilt, verteilt und zu Kommunen zusammengeschlossen. Die Technologie hat sie angefressen, die sexuelle Revolution ihnen zugesetzt, der Rollentausch sie verwirrt. Und doch gibt es noch immer Familien – im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Die Meinen fanden sich nach und nach wieder zusammen, mit nassen Haaren, in geborgtem Hemd und in nicht passenden Schuhen. Als ich mich gerade bemühte, dem Augenblick eine gewisse Würde zu verleihen, fragte meine Tochter: »Mom, wieso hast du eine Schlange im Wirtschaftsraum?«

Die Kamera klickte. Das traditionelle Weihnachtsporträt der Familie war für ein weiteres Jahr im Kasten. Der eine Sohn saß im gleichen Sportjackett wie voriges Jahr da, und mit den gleichen nackten Füßen. Der andere verzog gerade das Gesicht, weil er mir aus dem Mundwinkel zuraunte, er müsse jetzt gleich brechen, das Flugzeug habe Verspätung gehabt und er heute noch nichts im Magen.

Der Hund leckte sich an der gleichen unpassenden Stelle wie voriges Jahr. Die Augen unserer Tochter suchten die verwischte Gestalt ihres Vaters, der versuchte, sich noch schnell dazuzustellen, ehe der Auslöser klickte. Meine Lippen formten gerade ein Wort, das mit Seh... beginnt, und dabei wollte ich nur »schrecklich« sagen, aber auf dem Foto kann man das nicht unterscheiden.

Gleich nach der Aufnahme fing das Gedrängel an und endete erst, als eines der Kinder am Boden lag. Dafür fühlte sich ein anderes verpflichtet, mir mitzuteilen, sein Bruder sei bestimmt über die Sauce gekommen, der täte immer Käse an alles, das röche man. Uralte Echos erklangen erneut, etwa »Du, das sag ich Mom aber ...« Und die Geschichten wurden wieder wach und flossen erneut. Geschichten von damals, als sie den Babysitter aussperrten in den Schnee. Und von damals, als das Aquarium im Schlafzimmer Feuer fing. Und von der Schüleraufführung, bei der einer von ihnen hilflos steckengeblieben war und davon, daß derjenige, der zum Geschirrspülen dran war, auf die Teller spuckte.

Alle waren sie aus ihren höchstpersönlichen Leben zurückgekehrt, aber in dem Augenblick, in dem wir wieder zusammen waren, öffneten sich die Schleusen der Vergangenheit und wir glitten in die bequemen Rollen als Familienmitglieder.

Eine nach der anderen erstanden die Geschichten der schönen Zeit wieder, die uns gemeinsam war. Wir müssen glatt fünf oder sogar zehn Minuten zusammengesessen haben.

Als meine Fehler laufen lernten

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