Читать книгу Als meine Fehler laufen lernten - Erma Bombeck - Страница 9
Eine Familie, die gemeinsam ißt,
bekommt Verdauungsstörungen
ОглавлениеFreitag, 19 Uhr
Es war mal wieder alles wie gehabt.
Das eine Kind warf die Teller auf den Tisch wie eine griechische Tänzerin, ein zweites stand vor dem Kühlschrank – vor ihm teilten sich die Türflügel wie das Rote Meer – und jammerte: »Es ist nichts zu essen da.«
Sein Bruder pflichtete ihm bei und sagte: »Was Hunger ist, weiß man erst, wenn man als letztes Kind dieses Haus verläßt. Habt ihr eine Ahnung, was ich gekriegt hab, nachdem ihr alle weg wart? Jeder Behälter im ganzen Haus war voller Weizenkleie, es gab künstliche Eier, Joghurt-Kulturen, die sich im Kühlschrank teilten und vermehrten wie in einem schlechten japanischen Film, und die Milch war der reinste Bürgerkrieg: blau oder grau!«
»Du Ärmster«, sagte seine Schwester. »Du brauchst nur noch wieder mal zu erzählen, wie du als Sechzehnjähriger mit dem Wagen der Eltern zur Schule gefahren bist, nur damit die Batterie sich wieder auflädt.«
»Die Eltern sind total gesundheitsbewußt«, jammerte er weiter.
»Sie kaufen sogar zuckerfreie Abführmittel! Wahnsinn! Was haben sie denn gedacht, was ich damit mache? Sie übers Vanilleeis kippen und mich vollfressen?«
»Nun mach mal halblang, ja?«
»Aber wenn ihr heimkommt, wird gleich immer gebacken und gebraten auf Teufel komm raus.«
»Total frustriert, der, wie?« fragte sein Bruder.
»Und du hast nie so alte Lexika benutzen müssen wie ich, in denen unter ›Präsident‹ noch Harry S. Truman steht!« beklagte er sich weiter.
»Und wir«, sagte sein Bruder, »haben an unserem zwölften Geburtstag keine Uhr gekriegt.«
»Komm doch nicht wieder damit!«
»Mensch, hör auf zu meckern!«
»Jetzt mal Ruhe, hilf mir beim Tischdecken.«
»Das ist Frauensache.«
»Ich sag’s Mom!«
Sie hatten tiefere Stimmen bekommen. Sie waren in die Breite gegangen. Doch der Dialog kam aus dem Mund der gleichen Menschen, die vor fünfzehn Jahren am gleichen Eßtisch gesessen hatten.
Die ganze Schau war für die Eltern bestimmt. Dieses Stück hatte neben Chorus Line und Cats den größten Serienerfolg in der Geschichte des modernen Theaters. Alles fiel mir wieder ein.
»Mom, mach, daß sie damit aufhört«, sagte eine gereizte Stimme. Die Stille war ohrenzerfetzend. »Womit soll sie denn aufhören?«
»Mit dem Summen.«
»Ich höre nichts.«
»Du hörst es ja nie. Sie summt so, daß es keiner hört außer mir.«
Ich beugte mich so nah zu meiner Tochter, daß meine Haare ihre Lippen berührten und horchte. Nichts.
»Schau doch mal auf ihren Hals«, wies mich ihr Bruder an.
Ich befühlte ihren Hals um zu kontrollieren, ob die Adern noch warm waren. Dann befahl ich ihr aufzuhören.
»Hat sie aufgehört?« fragte ich meinen Sohn.
Er lächelte triumphierend.
Geschwisterneid ist von dem Psychoanalytiker Alfred Adler zu Beginn der zwanziger Jahre erfunden worden. Bis dahin gebrauchten Eltern Wendungen wie: »Sie werden sich noch gegenseitig umbringen!« und »Larry, um Gottes willen kehr ihnen nie den Rücken zu.«
Adler sagt, es sei eine »Phase«, die alle Kinder durchlaufen, wenn sie um die Aufmerksamkeit der Eltern wetteifern. Nun, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit hatten sie, sie merkten es nur nicht.
Geschwisterneid begann in unserer Familie an dem Tag, an dem ich unseren zweiten Sohn aus der Klinik heimbrachte. Sein Bruder musterte ihn und sagte: »Na ja, vielleicht schaffen wir uns später doch einen Hund an.«
Anfangs war die Rivalität noch kaum merklich, wenn er beispielsweise dem Baby auf die Luftröhre trat, oder es unter den Laufrollen seines Ställchens einklemmte. In Geschäften schob er es mitsamt Einkaufswagen vor eine kahle Wand und ließ es dort stehen.
»Was hast du nur dauernd gegen deinen Bruder?« fragte ich ihn manchmal.
»Der ist blöd. Der tut überhaupt nichts. Immer sabbert er nur und frißt die Etiketten von den Dosen.«
Besser wurde es nie. Als der Kleine nicht mehr sabberte, fing er an zu spucken. Als wir seinen Mund unter Kontrolle gebracht hatten, fing seine Nase an zu laufen. Als er dann selber laufen konnte, fiel er hin. Wenn er sich setzte, machte er irgend etwas naß. Selbst wie er schnaufte, ärgerte den Bruder.
Kinder, die auf die Welt kommen, sind mit einem Computer ausgestattet, in dem jedes Geschenk, jede Freundlichkeit zusammen mit dem Alter, in dem sie empfangen wurden, gespeichert ist. Wehe den Eltern, die dem einen Kind ein Jahr früher ein Rad schenken als dessen Geschwistern, oder ihm einen Zirkusbesuch gestatten, der nicht auf die Stunde genau dem entspricht, den sie seinen Geschwistern erlaubten.
Auch die Eltern sind nicht vollkommen schuldlos.
Mit fällt keine Mutter auf der Welt ein, die nicht die erste Elternsünde begangen hätte; ihre Kinder miteinander zu vergleichen.
Von dem Tage an, an dem die Gören geboren sind, vergleichen wir sie: mit uns, mit ihren Geschwistern, ihren Altersgenossen und jedem anderen Kind, mit dem sie in Berührung kommen.
Sie sind kleiner als ihr Bruder im gleichen Alter. Sie sind in Mathematik schlechter als ihre Schwester, und fauler als der Junge vom Nachbarn, fangen keinen Baseball wie ihr Vater und ihr Haar hat keine Naturkrause wie das ihrer Mutter.
Eines Tages fragte mein jüngerer Sohn: »Warum vergleichst du mich immer mit meinem Bruder?«
»Weil du ein schlechterer Schütze bist.«
»Wenn ich bloß ein Einzelkind wäre!«
»Würde nichts ausmachen«, sagte ich. »Als ich deinen Bruder erwartete, verglich ich ihn mit dem Baby, das meine beste Freundin erwartete. Ihres strampelte viel häufiger.«
Gegen Ende der Mahlzeit trat eines der Kinder unter dem Tisch ein anderes vors Schienbein. Als ich fragte warum, sagte er: »Der da weiß schon!« Als ich »den da« fragte, sagte er: »Er lügt.« Als ich ihn bat, damit aufzuhören, sagte er: »Immer läßt du ihn mich anschreien: Iiiii! und sagst nie ein Wort.«
So ging es hin und her, bis das Essen vorbei war.
Als ich einen von beiden auf sein Zimmer schickte, sagte er: »Klar, der da ist ja dein Liebling.«
Er hatte recht. Jede Mutter hat einen Liebling. Auch ich hatte einen. Es war immer das Kind, dem zu schlecht war, um auf seiner Geburtstagsparty Eis zu essen, das zu Weihnachten Masern bekam und im Bett Fußstützen tragen mußte, weil es einwärts ging.
Es war das Kind, das mitten in der Nacht Fieber bekam, an Asthmaanfällen litt und das ich in der Notaufnahme des Krankenhauses in den Armen hielt.
»Mein Lieblingskind« war das, das ich strafte, wenn es log, ausschimpfte, wenn es den Gefühlen anderer gegenüber rücksichtslos war und das ich wissen ließ, es sei eine gräßliche Plage für die ganze Familie.
Das Lieblingskind sagte Dummes, für das es keine Entschuldigung gab. Es war egoistisch, unreif, übellaunig und ichbezogen. Es war empfindlich, einsam, ganz unsicher, was es auf der Welt wollte – und wunderbar.
Das Kind, das ich am meisten liebte, war dasjenige, bei dem ich zusah, wie es kämpfte, es diesem Kampf allein überließ und gar nichts tat.
Jede Mutter weiß: Das Lieblingskind ist immer das, das am wenigsten Liebe verdient – sie aber am nötigsten hat.
Wenn Eltern so dasitzen und sich den Wortwechsel zwischen Geschwistern am Eßtisch anhören, müssen sie die Brillanz der Aufführung bewundern, sie können nicht anders. Aber die Kinder haben ja auch lange geübt.
Zwar hat kein Mensch um eine Zugabe gebeten, doch man bekommt sie trotzdem, denn jetzt kommt die Nummer: »Also beim Geschirrwaschen bin ich heute nicht dran.« Ihre Unverschämtheit überrascht mich jedes Mal.
Bei einer Umfrage unter Jugendlichen, warum sich ihrer Meinung nach ihre Eltern Kinder angeschafft haben, würden 12 % angeben, sie hätten sich vermutlich vorm Fernseher gelangweilt, 26%, es sei vermutlich ein außer Kontrolle geratenes züchterisches Projekt und 62 % würden jeden Eid schwören, Erwachsene hätten nur deshalb Kinder, damit sie nicht selber Geschirr spülen müssen.
Trotz der Tatsache, daß fünfzehn Millionen Amerikaner halb krank herumlaufen, weil sie von Tellern voller Krankheitskeime essen und der Bruchquotient bei Geschirr sechsstellig ist, gehört auch heute noch das Geschirrspülen zu den häuslichen Pflichten der Kinder. In meiner Laufbahn als Mutter bemerkte ich schon früh, was ich mir damit eingehandelt hatte: ein schlechtgelauntes Kind, das heimlich auf eben abgespülte Teller spuckte und dadurch ein Fundament des Argwohns legte, ein Kind mit Nieren von Linsengröße, das während des Säuberungsrituals fünfmal ins Bad verschwand, und ein weiteres Kind, das so lange behauptete, heute mit Spülen nicht dran zu sein, bis die Teller aus der Mode waren und man das Besteck nicht mehr nachkaufen konnte. Als elektrische Spülmaschinen herauskamen, dachte ich, sie würden für meine Familie das tun, was Stützstrumpfhosen für meine Schenkel getan hatten: sie fest zusammenhalten. Der Tag, an dem bei uns die Spülmaschine installiert wurde, war dadurch gekennzeichnet, daß meine Kinder sich darum rauften, jawohl, rauften, wer sie als erstes beladen durfte.
Am zweiten Abend öffnete dasjenige meiner Kinder, das früher auf die Teller gespuckt hatte, die Klappe der Spülmaschine und sagte: »Wie soll ich den Tisch abdecken, wenn hier noch das Geschirr von gestern drin ist.«
Ich hatte hierauf eine Antwort, die meiner Tochter nicht gefiel.
»Kein Mensch hat mir was von Ausräumen gesagt«, murrte sie.
»Ich füll sie immer nur.«
Wäre sie Stewardeß auf der Titanic gewesen und jemand hätte um einen Rettungsring gebeten, sie hätte erwidert: »Tut mir leid, aber das ist hier nicht mein Revier. Ich bin fürs Achterdeck zuständig.«
Ich kann es nicht ganz genau benennen, aber es scheint irgend etwas »fies« daran zu sein, diese quietschenden, sauberen Teller und funkelnden Besteckteile in ihre Schubladen und Fächer einzuräumen. Die Kinder tun es nicht gern. Vielleicht wollen sie ganz einfach keine sauberen Hände kriegen.
Seit wir die Spülmaschine haben, bin immer ich es, die sie ausräumt. Während ich das tue, denke ich darüber nach, wozu ich Kinder gekriegt habe. Was für eine Frage. Ich habe sie gekriegt, weil sie meine Gene weitergeben und mir Unsterblichkeit verleihen werden. Sie sollen mein Leben mit Freude füllen, ihm ein Ziel und einen Sinn geben.
Andererseits kann ein Schäferhundwelpe einen Teller in dreißig Sekunden sauberlecken, ohne den Teller von der Stelle zu bewegen und sieht dabei auch noch süß aus.
Ich begreife es nicht. Die Kinder sitzen während der ganzen Mahlzeit da und erwähnen das Geschirr nie. Es herrscht fröhliches Geplauder. Dann machte einer eine ganz beiläufige Bemerkung, etwa: »Kinder, ich hab so viel auf heute. Ihr könnt alle hier sitzen bleiben und weiterreden, wenn ihr wollt.«
Und macht Anstalten, sich zu erheben.
»Wenn du aufstehst, hau ich dir eine in die Fresse«, sagt eines seiner Geschwister. »Ich bin mit Geschirrwaschen nicht dran.«
Das dritte schaltet sich spontan ein. »Ich auch nicht. Außerdem hab ich nichts gegessen, bin also out.«
Das erste sagt dann: »Es ist ganz leicht rauszukriegen. Ich war am Dienstag dran, weil wir Spaghetti hatten. An mir bleibt es immer hängen, wenn wir Spaghetti hatten, weil Mom mich nie hat leiden können.«
»Komm mir bloß nicht so«, sagte ein anderer der Mitspieler.
»Du hast es seit drei Wochen nicht mehr gemacht, weil du immer zum Balltraining mußtest. Dabei spielst du nicht mal. Du ziehst nur das Dreß an und hockst im Duschraum, damit du das Geschirr nicht spülen mußt.«
»Du traust dich, so was zu sagen, wo du den Hund beim Abwaschen helfen läßt? Glaub ja nicht, wir hätten das nicht gesehen!«
»Na, ich laß wenigstens den Schmortopf nicht im Rohr, die eingeweichten Pfannen nicht im Ausguß stehen und deponiere keine abgefressenen Maiskolben im Kühlschrank!«
Ende des ersten Akts! Die Eltern applaudieren – wenn auch im Sitzen.
In meiner Naivität hatte ich immer gedacht, gemeinsames Abwaschen festige den Zusammenhalt einer Familie. Wenn man alles teilt, auch die Lasten und jeder nach bestem Vermögen beiträgt, dachte ich, wird die Welt ein besserer Ort!
Diese Legende zerplatzte an dem Abend, an dem wir einem Sohn das Tranchiermesser wegnehmen mußten, der behauptete, er sei nicht »dran« und damit nach seinem Bruder gezielt hatte.
Damals gingen wir sofort zu Plan B über, in welchem vorgesehen ist, daß jedes von den Kindern einen Abend Küchendienst und danach zwei Abende frei haben soll. Doch das Tauschen und Rückerstatten machte die Buchführung so unübersichtlich, daß wir in ein anderes Haus ziehen und von vorn anfangen mußten. Die Kinder waren, jedes für sich, in der Küche unverwechselbare Persönlichkeiten.
Der eine Sohn war ein Einweicher. Alles wurde mit Wasser gefüllt und weichte. Das einzige, was nicht im Ausguß stand, war der Spaghettitopf, der außen sauber aussah und drei Jahre lang mit angebackenen Spaghettis an der Wand hing.
Der zweite Sohn war ein Aufheber. Kein Restchen war zu gering, um nicht in der ursprünglichen Servierschüssel aufbewahrt zu werden: eine Traubenbeere, ein Pommes-frites-Stäbchen, ein übriggebliebener Kaugummiknäuel auf einem Eßteller. Alles wurde demjenigen hinterlassen, der am folgenden Abend zum Geschirrspülen dran war.
Das dritte Kind aber, eine Tochter, war ein Schmeißer. Ein ganzes Abbruchkommando in einer Person, die einen Tisch binnen dreißig Sekunden zerstören konnte. Sie deckte ab. Sie stapelte die Teller. Sie spülte. Sie trocknete ab. Sie räumte ein. Und das alles in fünfzehn Sekunden und ohne die geringste schonende Behandlung.
Allen dreien aber war ein Zug gemeinsam: Kaum hatten wir fertiggegessen, überfiel sie ein dringendes natürliches Bedürfnis und sie verschwanden im Badezimmer, bis sie sicher sein konnten, daß die Reste auf den Tellern festgeklebt waren.
Es war ein Spiel, das sie spielten. Würde Mutter als Märtyrerin seufzen: »Na, laßt nur, ich mach’s schon selber«, und wenn sie aus dem Badezimmer kamen, die Küche vor Sauberkeit glänzen und das Geschirr gespült sein?
Oder würde Mutter es ihnen gleichtun und sie würden in die Küche müssen und für nichts und wieder nichts großartige Leistungen zeigen?
Dieses Spiel wurde immer wieder prolongiert. Ja, eigentlich können sie noch heute kein Geschirr klappern hören, ohne instinktiv sofort ins Bad zu gehen und die Tür abzuschließen.