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1. JERRY UND DIE TOTEN BUSFAHRER: DIE WISSENSCHAFT ENTDECKT DIE BEWEGUNG

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Der Himmel über London war zu einem fahlen Anthrazit ergraut, es nieselte. Als der Big Ben dreimal schlug, spazierten Herren in Anzügen und mit polierten Schuhen über die Tower Bridge, zogen den Hut oder die Melone, um eine Dame zu begrüßen, und spannten Regenschirme auf. Im England der 1950er-Jahre ließ man die Hektik beiseite und ging mit Stil seines Weges. Eile, das wusste jeder, ist die Feindin der Würde.

Ein roter Doppeldeckerbus fuhr vorbei. Darin auf dem Oberdeck saß Jerry Noah Morris, ein junger schottischer Arzt im dunkelbraunen Tweed-Anzug. Jerrys Blick war hellwach, er registrierte die Passagiere im Bus und trug seine Aufzeichnungen bei sich. Ein schwarzes Notizbuch und einen Bleistift. Jedes Mal, wenn der Schaffner zu ihm heraufkam, um zugestiegene Fahrgäste zu kontrollieren, machte Jerry einen Grafit-Strich in sein Büchlein. Immer einen von oben nach unten gezogen, viermal nebeneinander, beim fünften Mal setzte er einen Querstrich, um den Überblick für seine penible Zählung nicht zu verlieren.

Der Schaffner, der gerade die Treppe hochgestiegen war, nickte Jerry zu, und beide setzten ein britisches Lächeln auf. Der Busfahrer saß hinter dem Steuer, schloss die Tür und fuhr los, während der Schaffner weiter herumging und sich anschickte, die Fahrkarten zu prüfen. Der Bus nahm Fahrt auf. Draußen war das Nieseln in einen Londoner Schnürlregen übergegangen. Dicke Tropfen prasselten gegen die Scheiben, aber Jerry war nur in seine Studie vertieft. Rätselhaft, dachte er bei sich, ziemlich mysteriös, was da vor sich geht.

Jerry Noah Morris arbeitete beim staatlichen britischen Medical Research Council. Er hatte festgestellt, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der Menschen, die an einem Herzinfarkt starben, dramatisch angestiegen war. In einer Vielzahl von Stunden hatte er die Todesakten der Menschen studiert, die zwischen 1907 und 1949 gestorben waren. Aus den Daten folgerte er, dass die berufliche Tätigkeit etwas mit dem Herzinfarktrisiko zu tun haben musste. Er schaute sich verschiedene Berufsgruppen genauer an. Unter ihnen waren Postbeamte und Busbesatzungen.

Er verglich deren Lebensstile: Sowohl Schaffner, die die Tickets kontrollierten, als auch Busfahrer aßen Sandwiches, tranken Guinness-Bier im Pub; sie atmeten täglich Abgase ein, waren derselben Lärmbelästigung und Luftverschmutzung ausgesetzt; sie wohnten im selben Soziotop; alles war gleich, ihr Lebensstil ident. Merkwürdig schien nur der Umstand, dass die Busfahrer im Vergleich zu den Kontrolleuren statistisch öfter und vor allem deutlich früher starben. Woran konnte das liegen?

Bei seinen ausgedehnten Begleitfahrten fand Jerry heraus, dass die Schaffner pro Arbeitstag zwischen 500 und 750 Stufen hinauf- und hinunterstiegen, weil ihnen das der Doppeldeckerbus abverlangte. Im Gegensatz dazu hockten die Busfahrer tagein, tagaus nur auf ihrem Sitz hinter dem Lenkrad. Sie saßen den Gutteil ihres Lebens. Der Forscher verglich seine neu gewonnenen Daten mit den Todesakten. Das Herzinfarktrisiko der Schaffner war nur halb so hoch wie das der Fahrer. Da machte es klick in seiner wissenschaftlichen Betrachtung.

Parallel dazu begutachtete Jerry die Postangestellten. Die Briefträger waren alle kerngesund. Ihre Kollegen allerdings, die in den Postämtern hinter dem Schalter dahindümpelten und nur hin und wieder die Stempel bewegten, erlitten merkbar öfter einen Herzinfarkt. 1953 veröffentlichte Jerry Noah Morris die Ergebnisse seiner Studie in dem anerkannten Medizin-Journal The Lancet.

Er erbrachte damit den ersten wissenschaftlichen Beweis, dass Bewegung gesund ist.

Bewegung verlängert das Leben.

Trägheit ist Selbstmord in Zeitlupe.

Die schriftliche Erkenntnis Mitte des 20. Jahrhunderts war recht spät, wenn man bedenkt, dass schon die alten Griechen und Römer gewusst haben, wie man mit Hirn durchs Leben geht – mens sana in corpore sano. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Sitzen und knotzen gehört nicht dazu. Der Mensch weiß das schon lange, nur die Forschung hatte das Wort Prävention noch flächendeckend ausgeklammert.

Auch Bücher aus dem Mittelalter beschreiben, wie Bewegung in die medizinische Behandlung integriert wurde. Später, im 19. Jahrhundert, war die Sache längst klar.

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