Читать книгу Vergib ihnen seine Schuld - Erren Werg - Страница 10

Samstag, 18. April 2015

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Geld aus China und Russland für Griechenland

Verzweifelt versucht Griechenland, neue Geldquellen aufzutun, um das Land finanziell wieder auf die Beine zu stellen. Dabei scheint jeder Partner recht zu sein: Neben Russland kommt nun auch China ins Spiel.“


Noch eben war alles in Ordnung gewesen. Nicht glücklich vielleicht, aber in Ordnung. Alles war auf seinem Platz gewesen, kein großes Durcheinander, jeder hatte etwas zu tun, jeder war aufgeräumt. Sicher, man wusste um die Missstände, um die Unerträglichkeiten, um die Ungerechtigkeiten. Aber sie wohnten mit den Anderen. Nicht im eigenen Haus. Man sah ein Stück weit hinein in die Räume der Anderen, aber die Ecke mit der Unordnung sah man nicht. Zumindest nicht ganz. Man ahnte. Man vermutete. Aber man sah nicht bis in die Ecke. Man wagte es nicht, so weit zu schauen. Man hoffte, dass vielleicht doch aufgeräumt war, dass irgendjemand aufgeräumt hatte oder aufräumen würde.

Und dann auf einmal war es anders. Nur wegen eines einzigen Blickes. Die Unordnung trieb einem Tränen in die Augen und eine tiefe Leere breitete sich aus, die unerträglich war. Für den Anderen schon immer. Und nun auch für einen selbst. Die Unordnung der Anderen brachte alles durcheinander. Wären sie doch in ihren Räumen geblieben. Oder wäre man selbst in seinem Raum geblieben. Dann hätte man sie nicht gesehen und alles wäre nicht passiert. Nur bei den Anderen eben.

Nur bei ihnen.

Und was ging es einen schon an – das Leben der Anderen.

***

9.56 Uhr

Die Wohnung des Opfers lag im vierten Stock. Jasmin holte mit einem Knopfdruck den Aufzug und schüttelte sich, weil sie ein wenig fror. Trotz des Sonnenscheins war es frisch an diesem Morgen. Jasmin dachte an ihr eigenes kleines gemütliches Haus, in dem sie mit ihren beiden Kindern Carina und Oliver wohnte, und sehnte sich danach, es sich in der warmen Küche zu Hause bei einer Tasse Kaffee mit einem guten Buch in der Hand gemütlich zu machen.

„17 ist der Junge, oder?“, fragte sie im Aufzug ihren zehn Jahre jüngeren Kollegen und dachte dabei an ihren ältesten Sohn Oliver, der nur zwei Jahre jünger war als Kevin. Ted nickte. Er wischte sich ein paar Müdigkeitstränen aus den Augen und gähnte. „Geht aber auch in die neunte Klasse, wie Oliver“, stellte Jasmin fest. „Der hat sicher schon eine oder zwei Ehrenrunden hinter sich.“ Ted gähnte abermals.

„War der Kleine wieder die ganze Nacht wach?“ Jasmin schmunzelte. Sie musste zurückdenken an jene Nächte, in denen sie Oliver und später ihre Tochter Carina stundenlang herumgetragen hatte, weil sie Bauchweh hatten oder aus irgendeinem anderen Grund zu schreien anfingen und nicht damit aufhörten, ehe man sie auf den Arm nahm und geduldig wieder in den Schlaf wiegte.

„Wird das irgendwann besser?“, fragte Ted und gähnte noch einmal. „Aber sicher doch. Mit zwei Jahren hat Oliver das erste Mal durchgeschlafen, Carina ein bisschen eher.“ Ted verdrehte die Augen. Er liebte seinen neun Monate alten Sohn wirklich von Herzen, aber wenn er nachts wie am Spieß schrie und ihm den Schlaf raubte, der für sein Wohlbefinden einfach unumgänglich war, konnte er für einen Augenblick die Fälle verstehen, in denen alleinstehende Mütter ihrem Säugling etwas antaten, weil sie einfach nicht mehr konnten.

„Sei bitte nicht so raubeinig wie bei der ersten Befragung, auch wenn der Junge verdammt nervt!“

„Es war Abend, die Chefin hat mich nachmittags ewig belabert und ich war hundemüde. Ich…“, verteidigte sich Ted. „… verstehe dich ja. Aber…“, führte Jasmin Teds Satz fort. „… heute werde ich mich von der besten Seite zeigen“, grinste Ted.

Die Eingangstüre zu Kevins Wohnung lag am Ende des Flurs. Man musste Licht anknipsen, weil in dem langen Korridor kein Fenster eingebaut war. Kevin öffnete die Türe erst, nachdem sie ´zigmal geklingelt hatten. Er erschien in Boxershorts und einem T-Shirt mit der Aufschrift „Fuck yourself“. Seine Haare sahen fettig und strubbelig aus. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, zupfte an dem Ohrring an seinem linken Ohrläppchen herum und begrüßte sie mit den Worten: „Sie schon wieder. Nicht mal ausschlafen kann man.“

„Es ist zehn“, sagte Ted schroff. Jasmin warf ihm einen mahnenden Blick zu. „Also“, sagte Ted eine Spur freundlicher, „wir müssten da noch ein paar Fragen stellen.“

Kevin reagierte nicht darauf. Er trottete schlaftrunken Ted und Jasmin voraus den Flur entlang in die Küche und ließ sich auf einen der Stühle plumpsen.

Asha stand dort bereits und war mit dem Kühlschrank beschäftigt. Sie hatte eingekauft und war dabei, die Sachen einzuräumen. Als Jasmin und Ted eintraten, sah sie diese überrascht an und nahm die Stöpsel aus ihren Ohren, mit denen sie Musik gehört hatte. Ihr „Guten Morgen“ klang ein wenig skeptisch und angstbeladen, aber nicht unfreundlich. Sie bat die unerwarteten Gäste, sich zu setzen, und nahm selbst nach einem kurzen Zögern auf dem vierten Stuhl Platz. Abwartend sah sie Ted und Jasmin an, während Kevin die Arme verschränkte und die Augen schloss, um zu versuchen, seinen unterbrochenen Schlaf weiterzuführen.

„Der Täter hat mehrere Male mit dem Hammer auf den Schädel des Ermordeten eingeschlagen – so lange offenbar, bis das Opfer auch sicher tot war. Es ist anzunehmen, dass der Täter oder die Täterin – es könnte ja auch eine Frau gewesen sein – das Opfer auf alle Fälle umbringen wollte“, legte Ted nüchtern nach den üblichen Eingangsfragen die Ergebnisse der Forensik auf den Tisch. Kevin hatte während dieser Erläuterung die Augen geschlossen und zeigte keinerlei Regungen außer einem Gähnen. Asha allerdings wurde mit jedem Wort, das der Polizeibeamte sprach, blasser. „Sehr interessant“, kommentierte Kevin schließlich die Erläuterungen betont gelangweilt. Ted fuhr fort: „Der Täter muss deinen Vater von hinten attackiert haben. Äußerst fraglich ist, wie der angebliche Einbrecher in die Wohnung gekommen ist. Es sind keine Einbruchsspuren an der Türe zu erkennen.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Asha, dann auf Kevin, der jetzt nicht mehr ganz so ruhig wirkte wie gerade eben. „Abgesehen davon gibt es weitere Fakten, die nicht gerade für die Version sprechen, die du uns präsentiert hast, Junge! Es erscheint mir zum Beispiel eher unwahrscheinlich, dass sich der oder die Einbrecher so leise bewegt haben, dass dein Vater nichts davon bemerkt hat. Wenn er aber von hinten erschlagen wurde, muss ihn ja der Täter überrascht haben, sonst wäre es wohl zu einem Gerangel gekommen. Aber es sind keine Spuren eines Kampfes an der Leiche zu sehen, abgesehen von der verletzten Hand, die ja auf dein Konto geht, wie du uns bereits mitgeteilt hast.“ Die junge Frau drohte angesichts der Erklärungen gleich umzukippen. Sie sah leichenblass aus und hielt sich verkrampft am Stuhl fest. Kevin war jetzt plötzlich hellwach: „Vielleicht hat der A…“, setzte Kevin an, verstummte jedoch kurz und suchte nach einem anderen Ausdruck für das Wort, das ihm auf der Zunge lag. „Vielleicht hat mein Vater ja Musik gehört und deshalb nicht gemerkt, dass Einbrecher da sind.“ Ted musterte ihn und sagte dann scharf: „War Musik an, als du nach Hause gekommen bist und deinen Vater tot vorgefunden hast?“ Kevin merkte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg: „Ich weiß es nicht mehr sicher. Ich war ziemlich verwirrt. Können Sie sich ja wohl vorstellen, wenn da plötzlich mein Vater tot auf ´m Boden liegt!“ Der Polizeibeamte schob die Unterlippe nach vorne. Kevin verstrickte sich in wirren Reden: „Wahrscheinlich hab ich das Radio ausgedreht. Oder es war gar nicht an. Vielleicht hat er ja den Einbrecher nicht gehört, weil er geschlafen hat. Ja, das könnte sein. Er hatte ja ´n paar Bier getrunken. Haben sie ja selber gemerkt, dass er betrunken war. Der trinkt öfter zu viel und schläft dann am Tisch ein. Das ist nichts Besonderes. Und wenn der mal schläft, dann weckt ihn so schnell nichts mehr!“ Er mühte sich um einen Lachlaut und sah hilfesuchend Jasmin an, in der Hoffnung, dass sie seinen Ausführungen Glauben schenken würde. „Oder der Einbrecher hat die Musik ausgemacht. Was weiß ich!“ Er schlug mit der Hand abwehrend in die Luft.

Jasmin war von seinen Erklärungen auch nicht besonders angetan: „Dein Vater ist nicht am Tisch gesessen, als er erschlagen wurde“, sagte sie nüchtern. „Er muss dort gestanden haben, als ihn der erste Schalg getroffen hat.“ Sie zeigte auf einen Punkt am Boden neben der Anrichte. Kevin schlug die Augen nieder, während er rot anlief. Jasmin sagte sanft fordernd: „Wenn du irgendetwas weißt, das wir vielleicht auch wissen sollten, dann sag es uns besser jetzt, Kevin. Die Wahrheit zu sagen ist letztlich immer der beste Weg.“ Sie sah ihn mitleidig an, aber das brachte Kevin erst recht in Rage. „Ich bin kein kleines Kind mehr“, zischte er. Jasmin biss sich auf die Lippen. Wahrscheinlich hatte er recht. Ihr eigener Sohn wirkte wesentlich kindlicher als dieser Junge mit seinen markanten Gesichtszügen, einer Narbe über dem linken und dem Bluterguss unter dem rechten Auge. Allein sein Äußeres ließ darauf schließen, dass sein bisheriges Leben weniger reibungslos als bei Oliver abgelaufen war, obwohl Oliver auch den Tod seines Vaters vor nunmehr zehn Jahren zu überwinden hatte. Er war bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Aber damals war Oliver noch so klein gewesen, dass Jasmin zusammen mit ihren Eltern den Jungen und seine Schwester emotional gut auffangen hatten können.

„Dass der Einbrecher nur Bargeld aus der Küche mitnimmt, ist auch ungewöhnlich. Als hätte er oder sie gewusst, wo das Geld ist und es gezielt angesteuert“, sagte Ted ernst. „Oder warum sonst wirft er alle Teller aus dem Schrank und lässt die anderen Räume und Schränke unversehrt?“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Asha irritiert. Sie kratzte sich mit ihren weinrot lackierten Fingernägeln am Arm und beugte sich nach vorne.

„Vielleicht waren dem Einbrecher ja die Gegebenheiten hier vertraut. Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, dass jemand eingebrochen sein könnte, der genau wusste, wo das Geld versteckt war. Also müsste der Einbrecher oder die Einbrecherin schon einmal hier gewesen sein oder zumindest von irgendjemandem dieses Geldversteck gewusst haben. Eventuell war es jemand, der hier öfter ein und aus geht!“ Kevin sprang auf und rief: „So ein Unsinn, was sie da reden, Herr…“ Wieder fiel ihm Teds Name nicht ein. Jasmin schaltete sich ein. „Es ist nur eine Hypothese, was mein Kollege sagt. Vielleicht war es ja auch eine Fortsetzung der Einbruchsserie, die in den letzten Monaten passiert ist. Auf jeden Fall wollen wir die Einbrecher fassen und daher spielen wir alle Theorien und Möglichkeiten durch.“ Ted verschränkte die Arme über seinem Kugelbauch und sah zu Kevin, der sich wieder setzte, mit einem Salzstreuer spielte und an seinen Lippen herumkaute. „Ich hab ihn jedenfalls nicht umgebracht!“, sagte er schließlich und grinste auf eine eigentümliche Art und Weise. „Ich bin nicht zu Hause gewesen. Hab ihn erst später entdeckt und dann gleich die Polizei angerufen. Warum hätte ich das tun sollen, wenn ich ihn ermordet hätte?“

„Niemand hat gesagt, dass du ihn umgebracht hast“, sagte Jasmin beschwichtigend und wunderte sich gleichzeitig über Kevins Selbstverteidigung.

„Sag uns trotzdem, wo du an jenem Nachmittag gewesen bist“, forderte Ted ihn auf.

Kevin warf einen kurzen Blick auf Asha, die ihn irritiert anstarrte. „Bin nach dem Mittagessen zu Linus gegangen, also so um zwei Uhr. Und dann bin ich den ganzen Nachmittag bei ihm gewesen. Is´n Freund von mir.“

„Hat er auch einen Nachnamen?“, fragte Ted schon wieder leicht genervt. Er konnte einfach nicht verbergen, dass er für den pubertierenden Jungen nicht übermäßig viel Sympathie empfand. Kevin murmelte irgendetwas, das Ted nicht verstand, woraufhin er in scharfem Ton sprach: „Wie bitte?“

„Marchet. Er heißt Linus Marchet“, erwiderte Kevin nicht minder gereizt.

„Wo wohnt Linus?“, fragte Jasmin wesentlich sanfter als Ted. Vielleicht lag die positive Einstellung gegenüber dem abweisenden Burschen bei ihr daran, dass sie selbst einen pubertierenden Jungen hatte, der manchmal eine Menge Nerven kostete, den sie aber trotzdem sehr liebte. Kevin erklärte stockend und etwas unbeholfen in seiner Ausdrucksweise, wo Linus wohnte. Ted kratzte sich am Kinn und fragte dann: „Hatte dein Vater Ärger mit jemandem?“

„Was weiß ich, ob mein Alter mit irgendwem Ärger hatte oder nicht. Ich schätze nicht, dass ihn wer um die Ecke bringen wollte, aber ich weiß es einfach auch nicht so genau, was der den ganzen Tag getrieben hat.“

„Du hast den Schlüssel für diese Wohnung, Kevin. Und Sie haben ihn auch, oder?“, Ted wandte sich Asha zu, die nickte. „Gab es sonst noch jemanden, der Zugang zur Wohnung mit einem Schlüssel hatte?“

„Hey, man kann doch diese windigen Wohnungstüren hier mit einem Dietrich ganz leicht aufmachen. Das ist ´ne uralte Wohnung. Und die Türen sind nicht grad auf dem neuesten Sicherheitsstand. Da ist das doch ´n Leichtes! Ist doch alles kein Problem“, sagte Kevin, anstatt Ted eine passende Antwort auf seine Frage zu geben. Ted warf Kevin nur einen abschätzigen Blick zu und fragte dann erneut:„Sonst hat niemand einen Schlüssel zur Wohnung, oder?“

„Warum fragen Sie das? Was wollen Sie damit sagen? Dass jemand mit dem Schlüssel in die Wohnung gekommen ist, Ralph getötet hat und dann wieder gegangen ist? Und nachdem nur Kevin und ich einen Schlüssel haben, müssten wir beide das sein? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Kevin oder ich so etwas tun würden?“, echauffierte sich nun Asha. Angespannt saß sie auf der Stuhlkante und nestelte an ihren Fingern herum. Schroff entgegnete Ted: „Wir glauben gar nichts. Wir fragen und suchen nach der Wahrheit. Nicht mehr und nicht weniger.“ Er schwieg für einen Moment und sagte dann: „Wo waren SIE denn zur Tatzeit, also um etwa 15 Uhr nachmittags?“

„Sie glauben also doch, dass wir was mit dem Mord zu tun haben könnten.“ Asha schnaubte wütend. Ted wiederholte unbeeindruckt seine Frage: „Wo waren sie am Donnerstag um etwa 15 Uhr nachmittags? Das ist eine ganz normale Routinefrage und enthält überhaupt keinen Verdacht. Sie haben uns schließlich noch nicht erzählt, wo sie herkamen, als sie hier in der Wohnung aufgetaucht sind.“ Widerwillig antwortete Asha: „Ich bin aus meiner alten Wohnung noch nicht ganz ausgezogen. Da sind noch ein paar Sachen von mir. Nächste Woche muss endgültig alles raus sein. Aber an dem Tag bin ich in meine alte Wohnung gefahren, weil ich sehr müde war und die alte Wohnung näher bei meiner Arbeitsstelle liegt. Ich war morgens in der Arbeit beim Supermarkt in der Hahnenstraße, sie wissen den sicher. Um Viertel nach Eins bin ich in meine alte Wohnung gekommen. Nach der Frühschicht bin ich immer müde wie ein Hund. Darum habe ich geschlafen.“ Asha schluckte. Sie hatte das Gefühl, ihre Kehle würde gleich austrocknen und sie würde augenblicklich vom Stuhl kippen.

„Kann das jemand bezeugen?“, fragte Ted.

Asha schwieg kurz, richtete ihren Blick zu Boden und sagte dann: „Nein, ich war da alleine. Ich wollte ein bisschen meine Ruhe haben.“

„Den ganzen Nachmittag?“, fragte Ted verwundert.

„Ich war wirklich sehr müde“, beteuerte Asha, „deshalb habe ich die Zeit übersehen.“ Sie wurde zusehends nervöser, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, schlug das rechte Bein über das linke, dann umgekehrt, verschränkte die Arme.

„Haben Sie noch Möbel in ihrer alten Wohnung? Wenn Sie hier bereits eingezogen sind, steht doch da wahrscheinlich kein Bett mehr, oder?“ Ted sah sie eindringlich an. Asha kaute an ihren Fingernägeln herum: „Nein, aber ich war so müde, dass ich einfach auf dem Boden geschlafen habe. Waren Sie noch nie so müde?“

„Na ja, bis in ein Bett hab ich es meistens schon noch geschafft“, murmelte Jasmin und zog die Augenbrauen nach oben. „Haben Sie vielleicht mit jemandem telefoniert oder jemanden getroffen, der bezeugen kann, dass Sie am Nachmittag in der Wohnung waren?“ Asha schüttelte den Kopf. „Ich wollte meine Freundin später anrufen, bevor ich zu Ralph gehen wollte. Aber dann bin ich wie gesagt eingeschlafen und als ich wieder aufgewacht bin, war es so spät, dass ich mich natürlich beeilt habe, hierher zu Ralph zu kommen.“

„Tja, da hat Jack schon für immer geschlafen“, sagte Kevin und grinste sie an. Asha schreckte hoch bei der Erwähnung dieses Namens und verzog das Gesicht als hätte sie Zahnschmerzen.

„Jack?“, fragte Ted irritiert, „Meinst du damit den Getöteten?“

„Kommt von Jack the Ripper. Sie wissen schon, der, der die Frauen aufgeschlitzt hat. Asha steht auf Sadomaso“, spottete Kevin und legte ein kurzes, abfälliges, verachtendes Grinsen an den Tag, ehe er wieder den Tisch anstarrte. Asha lief daraufhin rot an und senkte beschämt den Kopf. „Ich mache nicht Sadomaso. Das stimmt nicht.“ Sie warf Kevin einen verbitterten Blick zu.

„Ihre Sexualpraktiken sind uns egal, solange sie nichts mit dem Fall direkt zu tun haben“, sagte Ted so nüchtern, als würde er eine Gebrauchsanweisung vorlesen.

In Ashas Bauch knödelte sich ein Kloß aus Wut und Scham zusammen, den sie jetzt herausschleuderte: „Warum fragen Sie uns das alles? Warum jagen sie nicht Einbrechern nach? Ich bin echt wütend. Sie verdächtigen Kevin und mich! Sein Vater ist tot! Wir haben genug Schaden und Trauer. Aber sie tun, als ob wir etwas verbrochen haben!“

„So ist das nicht“, versuchte Jasmin sie zu beschwichtigen. „Wir fragen wirklich nur so viel, weil wir der Sache in jeder Hinsicht nachgehen wollen. Sehen Sie das bitte im richtigen Licht. Die Polizei muss – wie mein Kollege schon sagte – in alle Richtungen denken. Wir verdächtigen sie keinesfalls.“

„So hat sich das aber gerade eben nicht angehört“, maulte Asha.

Jasmin beschloss, abzuziehen und die Befragung zu beenden: „Wenn ihnen noch etwas einfällt, das uns weiterhilft, die Einbrecher zu fassen, lassen Sie es uns bitte wissen.“ Sie stand auf und ließ den Blick durch die Küche schweifen, die jetzt einen wesentlich besseren Eindruck machte als am Abend des Mordes. Es stand kein schmutziges Geschirr herum, die Anrichte war sauber geputzt, einiger Kleinkram, der zum Staubfänger mutiert war, war verschwunden und an einer Stelle der Wand schien jemand damit begonnen zu haben, den Schimmel abzukratzen. Auf einem Kästchen stand ein kleiner Eimer mit einer Kelle darin. Das war wohl das Werkzeug, das zur Schimmelentfernung verwendet worden war.

Sofort nachdem Ted und Jasmin die Türe hinter sich zugezogen hatten, verschwand Kevin in seinem Zimmer, während Asha noch an den eben von ihm ausgesprochenen Kränkungen kaute. „Hey, Lin“ wisperte er nun in sein Handy, „hör mal, du musst mir einen Gefallen tun, ja?…“


***

14.23 Uhr

Linus Marchet war rein optisch sicher kein Mädchenschwarm, auch wenn er versuchte, sich cool zu kleiden und gepflegt aufzutreten. Sein Gesicht war voller Pickel und seine Figur war von dem, was man einen „geilen Kerl“ nennt, weit entfernt. Wenn dann bestach er die Frauenwelt mit seiner freundlichen Art oder seiner angenehmen Stimme. Betrachtete man all diese Wesens- und Aussehensfacetten, so war er eigentlich das Gegenteil von dem miesepetrigen, aber optisch durchaus nicht unattraktiven Kevin.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte Linus mit einem übertrieben freundlichen Grinsen, nachdem sich Ted und Jasmin auf dem cremefarbenen bequemen Sofa im Wohnzimmer niedergelassen hatten. Die beiden Polizeibeamten lehnten dankend ab.

Linus war alleine zu Hause und hatte offensichtlich gerade Chips vor dem Fernsehapparat verzehrt. Rasch schaltete er jetzt den Apparat aus und räumte die Tüte Chips etwas verlegen in eine Schublade des breiten Wohnzimmerschranks.

„Linus“, sagte Jasmin und ließ dabei ihren Blick über eine Reihe Souvenirs wandern, die höchstwahrscheinlich aus Spanien stammten und auf dem obersten Brett des Wohnzimmerschranks standen, „wir müssten dir ein paar Fragen stellen wegen deines Freundes…“

„Ja, ja, ich weiß“, unterbrach Linus sie, „es geht bestimmt um Kevin. Das mit seinem Vater ist wirklich schrecklich.“ Er versuchte eine traurige Miene aufzusetzen, aber es wirkte nicht authentisch.

„Kevin sagte, dass er bei dir gewesen sei, als der Einbruch geschah und sein Vater ermordet wurde.“ Es schien so, als hätte Linus auf die Frage geradezu gewartet. Wie aus der Pistole geschossen gab er Antwort: „Wir haben den ganzen Nachmittag Games gezockt. Kurz vor fünf Uhr ist er nach Hause gegangen.“ Linus schob das Unterkiefer vor und wieder zurück, ehe er seiner Erklärung in einem etwas leiseren, vorsichtigeren Ton noch eine Frage hinzufügte: „Wann ist denn der Mord passiert?“

„So gegen fünfzehn Uhr vermutlich“, gab Jasmin Auskunft.

„Ja, da war er bei mir!“

„Ihr seid gute Freunde, du und Kevin, oder?“ Ted strich mit der Hand über den modernen Glastisch, als er seine Frage stellte.

„Ja, schon, also geht so“, druckste Linus herum.

„Wie war denn das Verhältnis zwischen Kevin und seinem Vater?“, wollte Ted wissen. Er ließ seinen Blick lange auf dem Jungen ruhen, was diesen offenbar etwas nervös machte. Jedenfalls begann er, sich am Ohr zu kratzen, mit den Augen zu blinzeln und die Lippen zu schürzen. Er zögerte ein wenig mit der Antwort: „Na ja, war schon ganz o.k.“

Ted schoss ein paar Fragen nach: „Haben sie viel miteinander unternommen? Haben sie sich oft gestritten? Hat Kevin oft von seinem Vater erzählt?“

Linus griff die letzte Frage zuerst auf: „Wir haben kaum über seinen Vater gesprochen. Ich meine, es gibt interessantere Themen als das Leben der eigenen Eltern, oder?“ Er grinste wieder, diesmal eher schelmisch.

„Kam es zum Streit an diesem Tag - oder vielleicht die Tage vorher? Hat Kevin irgendetwas erzählt?“, bohrte Jasmin nach.

„Nö, glaub nicht.“ Linus beschrieb mit der rechten Schulter einen kleinen Kreis.

„Aber du hast doch sicher auch sein blaues Auge bemerkt, oder?“, fragte Ted scharf und sah den Jungen an. Der druckste herum: „Ja, schon, da war wohl ein Streit. Aber ich hab mit Kevin nicht länger drüber gequatscht.“

An der Tür klingelte es. Linus entschuldigte sich höflich bei Jasmin und Ted, ehe er aus dem Zimmer ging, um die Türe zu öffnen. Seine Mutter war nach Hause gekommen und begrüßte ihn freundlich. Scheinbar hatte sie keinen Wohnungsschlüssel mitgenommen. Oder klingelte sie immer bei sich Zuhause bevor sie eintrat? Linus erzählte seiner Mutter im Flur von Ted und Jasmin und erschien kurz darauf mit ihr im Wohnzimmer. Die Frau war ihrem Aussehen nach noch keine 40, hatte die blonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt und trug ein körperbetontes dunkelblaues Kleid. Ihr äußeres Erscheinungsbild wirkte sehr gepflegt und elegant. Sie lächelte Jasmin und Ted freundlich, aber distanziert an. „Haben Sie neue Kenntnisse bezüglich des Einbruchs und des Mordes von Kevins Vater?“

„Nein, wir wissen leider noch nicht, was genau passiert ist. Um die Einbrecher zu finden und um“, Jasmin zögerte kurz und überlegte, wie sie den Satz am sinnvollsten weiterführen sollte, „die Ursache für den Mord sicherzustellen, müssen wir diverse Eventualitäten abklären. Sie verstehen?“ Nein, Constanze Marchet verstand nicht, worauf die Kommissarin hinaus wollte. Erst ihr nächster Satz ließ bei Constanze ein Licht aufgehen. „Laut Auskunft Kevins hat sich dieser an jenem Nachmittag bei ihrem Sohn aufgehalten.“

„Das mag sein“, entgegnete Frau Marchet. Sie setzte sich auf einen der beiden zum Sofa passenden Sessel, schlug die Beine übereinander und verweilte in aufmerksamer Haltung. „Mein Sohn hat ihnen sicher etwas zu trinken angeboten“, sagte sie im nächsten Moment zu Ted und Jasmin. Sie warf gleichzeitig Linus einen fragenden Blick zu. „Ja klar, Mum!“, sagte dieser schnell. Sie nickte zufrieden.

Ted bat Linus, ihn und Jasmin kurz mit seiner Mutter alleine zu lassen. Der sah seine Mutter fragend an und ging auf ein Zeichen von ihr sichtlich widerwillig aus dem Zimmer.„Ich komme oft erst nach fünf Uhr nach Hause, so wie heute“, erklärte Frau Marchet. Es klang wie eine Entschuldigung. Sie strich mit ihren schmalen Fingern über ihr Kleid und fuhr fort: „Was Linus nachmittags unternimmt, weiß ich manchmal nicht. Er berichtet mir dann zwar beim Abendessen meist, was so los war, aber fragen sie mich nicht, ob er mir von Kevins Besuch erzählt hat. Wenn dann habe ich es vergessen.“ Sie lächelte, was ihrem hübschen Gesicht einen warmherzigen Ausdruck verlieh. Kleine Grübchen bildeten sich, die ihrem Aussehen etwas Jugendhaftes gaben.

Ted sagte überaus freundlich und verständnisvoll: „Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, alles im Kopf zu behalten, was einem die Kinder so erzählen, aber es wäre sehr wichtig, dass sie sich an den Tag erinnern.“

Frau Marchet senkte den Kopf, atmete nun etwas lauter und kratzte sich am Ohr. Sie rang mit sich selbst und dann sprudelte es aus ihr in einem Schwall heraus: „Kevins Vater ist ein schrecklicher Mensch gewesen. Manchmal hat er den Jungen geschlagen, manchmal hat er ihn mit den übelsten Ausdrücken beschimpft.“ Sie machte eine Pause und schnaubte wütend. „Neulich kam Kevin am Abend völlig betrunken zu uns. Der Junge war außer sich, schimpfte über seinen Vater so, dass er kaum zu bremsen war. Laut Kevins Aussagen hatte er eine wüste Auseinandersetzung mit seinem Pa hinter sich, die scheinbar nur nicht zum Äußersten geführt hatte, weil die Lebensgefährtin des Vaters dazwischen gegangen war. Ich“, sie stockte abermals, „ich hatte großes Mitleid mit dem Jungen und wollte noch am selben Abend den Vater aufsuchen, um ihm meine Meinung zu sagen.“

„Wann war das genau? An welchem Tag?“, fragte Ted. Seine Aufmerksamkeit stieg, Jasmins ebenfalls. Er beugte sich nach vorne und sah die Frau erwartungsvoll an. Frau Marchet senkte das Haupt, war eine Sekunde still und hob dann wieder den Kopf, um Jasmin und Ted anzusehen. „Es war am Dienstag, weil ich an diesem Tag immer etwas später nach Hause komme und wir dann entsprechend spät zu Abend essen.“

„Also zwei Tage vor dem Mord“, schlussfolgerte Jasmin und runzelte die Stirn. „Wissen Sie, was genau der Grund für die Auseinandersetzung gewesen war?“, fragte sie.

„Anlass war wohl der Streit ums Fernsehprogramm gewesen. Ein blödsinniger Grund, man sollte es nicht glauben. Aber offensichtlich war er Auslöser für eine ganze Menge unschöner Anschuldigungen gewesen, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, bis es zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Beide waren stark angetrunken gewesen, sicher auch ein Grund, warum die Sache so eskaliert war“, vermutete Frau Marchet. „Kevin hat schlimm ausgesehen, als er gekommen ist. Sein Auge war blutunterlaufen, was wohl seinem Vater zu verdanken war.“

Kevin hatte also die Wahrheit gesprochen. Den Bluterguss am Auge hatte er sich bei diesem Streit zugezogen.

„Haben Sie den Vater dann noch aufgesucht?“, fragte Ted. Frau Marchet schüttelte den Kopf. „Kevin hat mich gewarnt. ´Der bringt dich um, wenn du zu dem gehst´, hat er immer wieder gesagt. Er hat gemeint, dass seinem Vater in einem solchen Zustand alles zuzutrauen sei. Selbst um Asha, die Lebensgefährtin seines Vaters, schien er an dem Abend Angst gehabt zu haben, obwohl er sonst nicht viel Gutes über die Frau gesagt hat.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Und vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht hätte er mir etwas angetan.“

Constanze Marchet atmete hörbar ein und aus. Sie rieb ihre Hände aneinander und sagte dann nachdenklich: „Kevin ist kein schlechter Kerl, glauben sie mir! Offensichtlich hat ihm seine sanftmütige Mutter viel Positives mit auf den Weg gegeben. Dem Vater jedenfalls kann ich wenig Gutes abgewinnen. “ Frau Marchet mühte sich um ein Lächeln und mahnte sich gleichzeitig zur Ruhe. Alles, was sie eigentlich vor langer Zeit ad acta hatte legen wollen, kam wieder hoch in ihr, als ob es gestern gewesen wäre.

„Kannten sie Kevins Mutter gut?“, fragte Jasmin.

Zögerlich antwortete Frau Marchet: „Na ja, geht so. Jedenfalls gut genug, glaube ich, um zu wissen, wie sie tickte. Linus und Kevin waren schon vor ihrem Tod miteinander befreundet gewesen. Die beiden haben auch die Grundschule miteinander besucht, da kommt man schon ab und zu ins Gespräch.“ Eine Zeit lang hatte sie versucht, ihrem Jungen die Freundschaft mit Kevin auszureden. Sie hatte Angst gehabt: Angst, die Vergangenheit könne ans Licht kommen; Angst, ihr Sohn würde auf irgendeine Weise Schaden nehmen; Angst, ihr Leben würde noch einmal so grundlegend zerstört werden wie damals. Aber bald hatte sie gemerkt, dass Linus und Kevin sich wirklich mochten. Es war schwer für sie, ihn in seiner Freundewahl zu manipulieren, ohne dass er es merkte. Und mit zunehmendem Alter wurde es schwieriger. Also versuchte sie, ihre Bedenken zu verdrängen. Allerdings ließ sie Linus spüren, dass es ihr lieber war, wenn Kevin ihn besuchte anstatt umgekehrt. Da Kevin ohnehin lieber zu Linus kam, stellte das zum Glück kein großes Problem dar.

Kevins Mutter tat Constanze Marchet von Anfang an leid. Sie war stets freundlich und nett gewesen und in ihrem Gesichtsausdruck war immer zu lesen gewesen, dass ihr Leben kein Honigschlecken war. Ihre Stimme war sehr leise gewesen, sodass Constanze bisweilen Schwierigkeiten gehabt hatte, sie zu verstehen. Meist hatten Constanze und sie miteinander über Belanglosigkeiten wie das Kochen, die Schule oder was am Ort so passiert war, gesprochen. Jegliche Gespräche über die Privatsphäre hatte die Frau sofort abgeblockt. Und vielleicht war es auch besser so gewesen, sonst hätten sie wohl mehr über Ralph Jerris geredet, als dies Constanze Marchet liebgewesen wäre.

***

15.12 Uhr

„Hey, Pa!“, rief Tom grüßend in die kleine menschenleere Werkstatt hinein. Sein Vater kam unter seinem alten hellblauen Volvo hervor, den er gefühlt zum hunderttausendsten Mal wieder zusammenflickte. „Alles klar?“, fragte er seinen Sohn, in dessen Gesicht er die Antwort auf seine Frage las, ohne dass der seinen Mund auftat.

„Kann ich n´paar Tage bei dir pennen?“ Tom ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen und sah sich in der Werkstatt um. Seit er denken konnte, arbeitete sein Dad für Miguel, der eigentlich Michael hieß und keineswegs in irgendeiner Form eine spanische Herkunft vorweisen konnte. Tom fragte sich, warum er sich von dem knickrigen alten Kerl, der von den 365 Tagen im Jahr an mindestens 300 schlecht gelaunt war, nie getrennt hatte. Er war sein einziger Angestellter und ohne seinen Vater wäre wohl die kleine Werkstatt am Stadtrand schon längst zusammengebrochen. Vielleicht war das der Grund, warum sein Dad geblieben war, obwohl der Alte ihn bisweilen wie ein Stück Dreck behandelte und ihm einen Hungerlohn bezahlte: Er fühlte sich verantwortlich für den Laden. Abgesehen davon schien seinen Vater die Miesepetrigkeit seines Chefs weniger zu stören als Tom. Er war der Meinung, dass der Alte ihn trotz allem schätzte. Vielleicht war es ja auch so. Aber die Art, ihm das zu zeigen, war sehr fragwürdig.

„Hast du wieder Ärger mit deiner Mutter?“ Tom antwortete nicht, sondern ließ seine Hand über den Volvo gleiten, den der Vater blitzblank geputzt hatte. „Wie lange willst du den Wagen eigentlich noch behalten?“, fragte er kopfschüttlend. Wahrscheinlich fuhr sein Dad das Ding, bis er selbst tot war oder der Wagen in der Mitte auseinanderbrach. Es war ein uraltes Modell, sah aus wie ein Kasten, aber der Vater liebte den Wagen. Nein, er würde ihn nicht loslassen - so wenig, wie er seinen Arbeitgeber losließ oder seine bereits von ihm geschiedene Frau. Dad glaubte auch bei ihr daran, dass sie ihn eigentlich immer noch liebte und irgendwann zu ihm zurückkehren würde.

„Er ist kerngesund, braucht nur hin und wieder ein paar Ersatzteile, dann ist er der beste Freund, den ich habe!“, sagte Toms Dad mit heiterer Stimme. Er grinste. Tom schob seinen Unterkiefer zur Seite und wieder zurück, trommelte mit den Fingern leicht auf die Motorhaube und spuckte dann aus, was ihm eigentlich auf der Seele brannte: „Mum ist eine doofe Fotze! Hab keine Lust, abends wieder mit ihr und ihrem Obermacker an einem Tisch zu hocken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Diese Schlampe kann mich mal!“ Sofort fuhr ihm sein Vater in einem strengen Ton über den Mund: „Red nicht so von deiner Mutter! Klar?!“ Er wischte sich die Hände ab und wechselte eilig das Thema und damit auch seinen Tonfall: „Gestern hab ich einen alten Chevrolet repariert, das war ein Sahneschnittchen, sag ich dir!“ Er lachte und reichte Tom eine seiner Wurstsemmeln, die er sich von zu Hause mitgebracht hatte. Es war eine seiner vielen Angewohnheit, die er seit gefühlten hundert Jahren hatte und von der er nicht ablassen konnte: Er machte sich morgens vier Wurstsemmeln zurecht, die er dann über den Tag verteilt aß. Und es waren immer die gleichen Wurstsemmeln: zwei mit Salami, zwei mit Paprikawurst, exakt drei Scheiben auf jeder Semmel, versehen mit einer dünnen, der Länge nach aufgeschnittenen Essiggurkenscheibe. Wahrscheinlich befand sich auch auf jeder Semmel exakt dieselbe Menge Butter; jedenfalls hätte sich Tom nicht gewundert, wenn die Grammzahl jeden Tag gleich gewesen wäre.

„Gestern hab ich die Alte mit so ´nem Vollproll im Bett erwischt. Hat sich wahrscheinlich mal wieder ein paar Kröten dazuverdient.“ Sein Vater schluckte und sah verlegen auf den Volvo. Manchmal machte es Tom Spaß, ihn zu provozieren - einfach nur, um sich selbst abzureagieren. Schließlich wusste er, dass sein Vater nichts über die dunklen Seiten der Mutter hören wollte. Er hatte nie ein böses Wort über die Mutter gesagt und Tom hoffte, dass er ihn irgendwann soweit bringen konnte, dass er sich endlich wehrte. Bei anderen Leuten hatte er auch keine Schwierigkeit, Kontra zu geben - wenn es sein musste sogar auf die ganz harte Tour. Er hatte einmal einen Kunden halb tot geschlagen, weil der ihn für einen Unfall aufgrund eines Reparaturfehlers verantwortlich gemacht hatte. Und bei einem Streit in einer Kneipe wäre er auch um ein Haar ins Gefängnis gekommen, weil er einem Kerl die Nase gebrochen hatte. Nein, es war nicht so, dass der fast zwei Meter große, kräftige Mann keine Wut empfinden hätte können. Auch Mutters Freund hatte er schon einmal ein blaues Auge verpasst und wenn Mutter nicht dazwischen gegangen wäre, hätte er ihn vermutlich krankenhausreif geprügelt. Aber wenn eine Person einmal bei ihm einen Stein im Brett hatte, dann konnte diese anstellen, was sie wollte, er verzieh ihr alles. Und drei Menschen hatten mit Sicherheit einen Stein bei ihm im Brett: seine Mutter, sein Chef und in allererster Linie Tom.

„Wie läuft´s in der Schule?“, fragte der Vater. Tom aber war immer noch nicht gewillt, auf die Ablenkungsmanöver seines Dads einzugehen. „In einer Hinsicht bist du dir ja mit Mums Obermacker einig: Mum kann anstellen, was sie will, ihr verteidigt sie. Weißt du, wie oft ich ihrem neuen Deppen schon klar machen wollte, dass die Alte eine verdammte Hure ist? Aber der Typ…“ Sein Vater zischte den Volvo an: „Es reicht jetzt!“ Er schlug auf den Türrahmen mit der Faust. „Ist ja schon gut“, beruhigte ihn Tom. Er lenkte ein. „Wie lange werkelst du denn hier noch herum?“, fragte er. Am Samstag war sein Vater oft in der Werkstatt anzutreffen, obwohl oder gerade weil keine Kunden und kein Chef da waren. Dann konnte er am Volvo herumschrauben, solange er wollte, sein Baby auf Hochglanz polieren oder mal eben den einen oder anderen Wagen schwarz reparieren.

Toms Vater biss von seiner Wurstsemmel ab, ging einmal um den Wagen herum und sagte dann: „Eigentlich bin ich fertig für heute. Wie wäre es mit einer Spritztour mit der alten Dame?“ Sein Sohn willigte sofort ein. Zu den Highlights seines Lebens gehörten die Touren mit dem Vater. Das Ziel war dabei egal - es war das Fahren selbst, das beiden Spaß machte, auch wenn Tom lieber in einem sportlichen Cabriolet losgedüst wäre! Aber der Vater verstand es, bei geöffneten Fenstern und lauter Musik ein wenig das Cabriogefühl zu simulieren.

***

15. 30 Uhr

Seine Zimmertüre knallte gegen die Wand. „Soll´n das, Mann?“, polterte Kevin, sah widerwillig von seinem Computer auf und drehte seinen Schreibtischstuhl Richtung Türe. Anstatt eine Antwort zu geben, fauchte Asha wutentbrannt: „Woher weißt du, dass ich ihn manchmal Jack genannt habe?“

„Jack?“ Zuerst sah er sie verwundert an, dann verzog sich sein Gesicht zu einem fiesen Grinsen. „Tja, woher weiß ich das wohl? Beim Ficken belauscht? Oder sieht man deine Titten vielleicht im Internet, während du ans Bett gefesselt seinen Namen hauchst? Gute Frage, was?!“ Durch Ashas Gehirn zog eine böse Ahnung. „Lass das, Kevin!“, zischte sie. „Raus jetzt mit der Sprache!“

„Ist ziemlich eklig, finde ich. Aber wenn man auf Sadomaso steht, bitte! Ist ja grade `In`, nicht?“ Kevin stand auf und trat nahe an sie heran. „Hätte am Anfang nicht gedacht, dass du so eine bist.“ Asha zwang sich zur Ruhe: „Was bin ich denn für ´eine´, hm? Wovon redest du genau? Ich wäre dankbar für Erklärungen.“ Kevin stemmte die Hände in die Hüften: „Wolltest du mal Sadomaso-Pornodarstellerin werden, oder was?“

„Sei doch still, Kevin!“, zischte Asha, „Hör auf mit den Frage - Spielchen!“

„Soll ich tatsächlich? Aber du magst doch Spielchen! Auf eurem Filmchen sieht das auf alle Fälle so aus. Da scheinst du ja ´ne Menge Spaß an Spielchen zu haben. Und der alte Sack hatte wohl auch seinen Spaß!“

„Ich weiß nicht, von welchem Film du sprichst“, sagte Asha. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte aus dem Fenster.

Kevin verließ das Zimmer und knallte die Türe zu. Zwei Minuten später kam er mit einem Kuvert in der Hand zurück. „Ich frage mich, wer der Typ ist, dem ihr das nette Filmchen senden wolltet.“ Er hielt ihr das Kuvert unter die Nase. Asha runzelte die Stirn: „Karl Fensner“ stand auf dem Kuvert und darunter eine Adresse in Köln. Asha konnte mit dem Namen nichts anfangen, aber es war eindeutig Ralphs Schrift, mit welcher der Name geschrieben worden war. Sie öffnete den Umschlag und zog einen USB-Stick und einen Zettel heraus. „Jack the Ripper“ stand auf dem Zettel in einer Sprechblase, die zu einem Smiley führte. Und etwas weiter unten war zu lesen „Die gehört mir. Nur mir. Und sie hat es freiwillig gemacht. 2000 wie gewohnt.“

„Schau es dir alleine an, ich muss das nicht nochmal sehen!“, sagte Kevin abfällig und widmete sich wieder seinem PC-Spiel.

Wenig später betrachtete sie sich selbst auf ihrem PC. Sie hatte die Augen verbunden, war mit Handschellen an das Bett gekettet und sprach sehnsüchtig mehrmals den Namen „Jack“. Es reichten fünf Sekunden, um eine Explosion aus Wut, Trauer und Scham in ihr auszulösen. Sie stoppte das Video, steckte den Stick zurück in den Umschlag und ließ eine Weile ihren Tränen freien Lauf. Als sie zurück zu Kevin ging, hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. Aber sie konnte Kevin nicht ansehen. „Ich habe das nicht gewusst“, sagte sie. Ihre Stimme war kaum zu vernehmen.

„Gibt bessere Pornos“, sagte er provokant.

„Woher hast du den Stick?“, fragte sie verzweifelt.

„Mal eben gefunden“, sagte Kevin flapsig. Er kannte das Versteck seit Jahren. Früher lagen Sexzeitschriften darin oder anderes Zeug, mit dem Kevin in jungen Jahren noch nichts hatte anzufangen gewusst. Natürlich hatte der Alte nicht geahnt, dass er das Versteck kannte. Schließlich lag der Teppich darüber und man musste den Boden schon ganz genau absuchen, um die Stelle zu finden, an der sich ein Brett herausnehmen ließ.

„Wo denn?“, zischte sie scharf. Sein provokantes Gehabe ließ ihr Schamgefühl in Wut übergehen.

„Weiß nicht mehr.“ Er trug weiter Gleichgültigkeit zur Schau und spielte auf seinem PC herum. Sie stand wie ein begossener Pudel hinter seinem Schreibtischstuhl und gebot sich, Ruhe zu bewahren. „Du verachtest mich also deswegen, oder?“ Kevin sagte nichts, tat so, als würde er sich ganz auf die Typen in seinem PC-Spiel konzentrieren. Asha hatte nicht gewusst, dass Ralph diesen Mist gefilmt hatte. Ihre Augen waren während der Aufnahmen verbunden gewesen. Und sie hatte ihm vertraut. Mal wieder naiv vertraut.

„Du kannst deinen Film haben oder diesem Karl schicken. Großzügig von mir, was?“, sagte er zynisch.

Asha betrachtete noch einmal das Kuvert. Wer war dieser Karl Fensner und was hatte Ralph mit ihm zu tun? Sie zuckte zusammen, als sie sich daran erinnerte, dass Ralph diesen Karl schon einmal erwähnt hatte: in der Nacht vor dem Mord! Der Stick – Karl! Verdammt, was hatte er vorgehabt! Sie stand noch einen Augenblick mit dem Kuvert in der Hand sinnierend da. „Ich werde das Zeug sofort vernichten“, sagte sie langsam. „Ich hoffe, dass diese Aufnahmen nirgendwo sonst zu sehen sind als auf dem Stick.“ Jetzt wandte sich Kevin ihr wieder zu, sprang auf und schnappte sich mit einem Handgriff das Kuvert. „Das halte ich dann vielleicht doch für eine blöde Idee. Vielleicht besser, wir lassen das Kuvert dort, wo der Alte es hingetan hat.“

Asha holte tief Luft, dachte eine Minute nach, nahm all ihren Mut zusammen und gab schließlich in einem eindringlichen Ton ihre Gedanken zum besten: „Ich schätze, du verrätst mir nicht, wo du den Brief mit dem Stick gefunden hast. Wahrscheinlich hat Ralph das Zeug versteckt und wollte den Film ohne mein Wissen an diesen Karl schicken. Ich weiß nicht, warum Ralph das gefilmt hat. Ich weiß nicht, wer dieser Karl ist. Ich weiß außerdem nicht, was dein Vater mit dem Film machen wollte. Und ebenso wenig weiß ich, was du nun mit dem Film vorhast. Ich habe deinem Vater vertraut und bin verdammt enttäuscht worden. Es mag abstoßend für dich sein, was du da gesehen hast. Das verstehe ich. Aber es war sicher auch nicht für deine Augen bestimmt und hätte niemals gefilmt werden dürfen.“ Sie machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie mit zunehmend lauterer und kräftigerer Stimme fort: „Ich weiß nicht, warum, aber ich vertraue darauf, dass du das Richtige tust. Du hast es in der Hand, mich zu zerstören oder nicht.“ Sie ließ ihren Blick auf ihm ruhen. Er sagte nichts dazu. Seine Augen schweiften kurz zu ihr, aber dann sofort wieder zurück zu seinem Computerbildschirm. Erst als sie das Zimmer verlassen hatte, lehnte er sich zurück, betrachtete noch einmal das Kuvert, schloss die Augen und seufzte.

***


Vergib ihnen seine Schuld

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