Читать книгу Vergib ihnen seine Schuld - Erren Werg - Страница 5

Montag, 13. April 2015

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Glücksbarometer für Deutschland?

In zahlreichen Veranstaltungen will die Bundesregierung herausfinden, was die Bürger wirklich wollen: Während in Deutschland bisher das Bruttoinlandsproduk als Messlatte für gutes Leben diente, gibt es in einigen anderen Ländern eine Art Glücksbarometer.“


Kann man Glück messen? Ist es das Ziel des Lebens, glücklich zu sein? Oder was ist eigentlich das Ziel des Lebens? Einen Beruf zu haben? Berühmt zu werden? Gegen das Unrecht zu kämpfen? Oder tatsächlich einfach nur glücklich zu sein?

Nur? Wie verdammt schwer es doch ist, glücklich zu sein.

Hör auf, über die großen Dinge des Lebens nachzudenken. Du musst gehen. Es ist höchste Zeit!

***

8.50 Uhr

Maja hatte das Gefühl, dass der Weg von ihrem Schülertisch bis zur Tafel unendlich weit und schier unüberwindbar war. Sie hatte keine Lust, aufzustehen, keine Lust, sich zu bewegen und der Aufforderung Frau Lebrinskys zu folgen, nach vorne zu kommen. Sie hatte keinen Bock darauf, sich wieder zum Gespött der ganzen Klasse, zum Affen der Nation zu machen! Fuck! Sie spürte, wie der Schweiß aus ihren Achseln herausschoss und ihre hellrote Bluse dunkler färbte. Außerdem war ihr mal wieder schlecht. Hundsmiserabelschlecht!

Schwerfällig stand sie auf und zupfte an ihrem T-Shirt herum, während sie ihren massigen Körper nach vorne bewegte. Tom glotzte sie blöde an, wandte sich seinem Tischnachbarn zu und begann mit ihm zu tuscheln. Beide grinsten und lachten dann lauthals los. Majas Gesicht färbte sich augenblicklich rot. „Einmal Tomate bitte!“, spottete Larissa. Ein paar Gegenschüler Majas kicherten.

Frau Lebrinsky mühte sich, die Schülerinnen und Schüler wieder ruhig zu bekommen. „Ein bisschen leiser, bitte!“, piepste sie. Kevin äffte sie nach: „Ein bisschen leiser bitte, liebe Kinderchen!“ Einen Großteil der Klasse amüsierte das. Die Schülerinnen und Schüler gerieten in Stimmung und gaben in einem wilden Durcheinander mehr oder weniger laute Kommentare ab. Maja schnappte Fetzen der Gespräche auf: „kann sie doch nicht“ „Schwabbelpudding“ „wird n´Spaß“.

Endlich hatte sie die Tafel erreicht. Sie verschränkte ihre Arme, zog die Schultern hoch und starrte auf einen Tintenfleck am Boden.

Frau Lebrinsky rief jetzt Lisa auf, die trotz des Lärms sofort reagierte. Das Mädchen stand rasch auf und bewegte selbstbewusst seinen makellosen Körper nach vorne. Schwungvoll wandte Lisa sich schließlich der Klasse zu, warf ihr dichtes Haar mit einer raschen Kopfbewegung in den Nacken, legte die rechte Hand vor ihrem Körper auf die linke Hand, und wartete auf Frau Lebrinskys weitere Anweisungen.

Die mit einer schlichten schwarzen Hose und einer lachsfarbenen Bluse bekleidete Lehrerin bat die beiden Mädchen, den englischen Dialog vorzulesen, der als Hinführung zur nächsten Unterrichtsphase dienen sollte. Sie lächelte Maja und Lisa freundlich an, erklärte ihnen auf komplizierte Weise, wie sie vorzugehen hatten, und sendete dann erneut mit einem etwas lauteren „Ruhe“-Ruf als vorhin einen Appell an die Klasse, die Lautstärke zu drosseln.

Der Lärm verhallte erst, als Lisa mit voluminöser Stimme ihren Part vorlas. Toms anerkennendes Lächeln entging Lisa dabei ebenso wenig wie Kevins gieriger Blick auf ihren Körper. Sie trug die zu lesenden Sätze fehlerfrei und gut artikuliert vor.

Dann war Maja dran. Klein Maja. Klein dumm Maja. Zunge und Lippen waren wie gelähmt. Klein dumm Maja versprach sich gleich mal. Die ganze kack Klasse musste darüber lachen. Majas Stimme kämpfte gegen die Lautstärke. Aber sie verlor den Kampf dagegen. Sowieso klar. „Da versteht man nichts!“, rief jemand. „Lauter!“, brüllte einer von hinten vor.

Als Lisa den Dialog fortsetzte, wurden die Schülerinnen und Schüler aufmerksamer. Sie las flüssig und betont. Ihr Blick schweifte dabei durch die Klasse, von Linus zu Maja, weiter zu Natalie, Larissa, ganz kurz zu Georg, ein wenig länger zu Tom, danach zu Kevin, Dana, Iwan, Mike und Mehmed. An passenden Stellen gestikulierte sie mit den Händen oder unterstrich ein Wort mit der passenden Mimik.

Maja beobachtete sie mir Argusaugen und biss sich auf die Lippen.

***

14.00 Uhr

„Na, was sagst du dazu?“ Linus legte seiner Mutter mit stolzgeschwelgter Brust ein Din-A-4-Blatt auf den blankgeputzten ahornfarbenen Küchentisch. In roter Schrift war eine Eins in der rechten oberen Ecke des Blattes zu lesen, rasch hingeklatscht von der Lehrkraft, was aber den Wert der Note nicht minderte. Constanze Marchet verzog ihre wohlgeformten, in einem dezenten Roséton geschminkten Lippen zu einem Lächeln und lobte zufrieden seine Leistung: „Eine Eins in Mathe, Linus! Respekt, Junge, bist echt ein kluger Kopf!“ Sofort begann es in Constanzes Gehirn zu arbeiten. Wenn ihr Sohn weiterhin so gute Leistungen nach Hause brachte, würde der Quali für ihn kein Problem darstellen. Er konnte danach die Mittlere Reife anstreben und schließlich auf die Fachoberschule gehen. Und anschließend konnte er dann an einer Fachhochschule oder eventuell sogar an der Universität studieren…

„So, Zeit zum Chillen. Heute kann ich ja wohl Computer zocken, oder? Kevin hat da so ein cooles Spiel. Das werd ich mir schnell bei ihm holen!“, verkündete Linus vergnügt sein Vorhaben. Doch Constanze verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. Linus wusste, dass ihr der letzte Satz nicht gefallen hatte. „Ist keiner zuhause bei denen. Kevin hat mir einen Schlüssel für die Wohnung gegeben. Den bekommt er morgen wieder. Werd nur schnell reinwandern, mir das Spiel holen und schon bin ich wieder hier.“ Constanzes Miene blieb trotz weiterer Erklärungen düster: „Warum lädst du dir nicht irgendein Spiel im Internet herunter? Macht man doch inzwischen so, hab ich gedacht! Dauert kürzer und du hast es für immer. Auf kurz oder lang gibt´s die Spiele eh nur noch zum Herunterladen, oder? Ich zahl dir das auch!“ Linus runzelte die Stirn: „Irgendein Spiel! Mann, Mum! Ich will nicht irgendein Spiel runterladen!“ Er zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. „Außerdem tut mir ein kleiner Spaziergang gut – du sagst doch immer, ich soll mich mehr bewegen.“ Ehe Constanze weitere Einwände bringen konnte, schwärmte Linus ihr von dem Computerspiel vor: „Ich sag dir, dieses Spiel ist so megagigantisch! Da kommt man sich vor, als würde man in einer echten Stadt herumgehen. Alles ist haarklein abgebildet. Und die Stadt gibt es in Wirklichkeit. Rate mal, um welche Stadt es sich handelt, Mum?“ Constanze lächelte und zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Wie wäre es mit München?“ „Tsss!“, sagte Linus abfällig, „Kein Dorf, Mum, eine richtige Stadt, mit Wolkenkratzern und geilen Autobahnen und so – San Francisco, Mum, die haben San Francisco nachgebildet, nur noch mit ´n paar Extras.“

„Ich tippe mal auf irgendwelche Zombielager, aus denen man rausschießen kann.“ Constanze zog eine Grimasse.

„Nein, Mum, das sind keine Zombielager, so ´n Quatsch. Das sind so Zukunftsgebäude, sowas wie das World-Trade-Center früher, nur noch viel krasser. Und Achterbahnen mitten in der Stadt. Stell dir vor, eine Achterbahn würde mitten durch die Stadt führen, Mum!“

Mit einer gewissen Skepsis begegnete Constanze den begeisterten Ausführungen ihres Sohnes: „Und was muss man bei dem Spiel machen? Rumballern, oder?“

Linus ließ sich seine gute Laune von den Vorurteilen der Mutter nicht zerstören: „Die Stadt gegen außerirdische Angreifer verteidigen! Das ist nicht Herumballern, Mum. Das ist lebensnotwendige Verteidigung! Du möchtest doch auch nicht, dass San Francisco von Außerirdischen zerstört wird, oder Mum?! Ich meine, das kannst du doch nicht ernsthaft wollen!“ Linus Stimme senkte sich und er sah sie mit schief gelegtem Kopf fragend an. Constanze musste lachen. „Nein“, sagte sie theatralisch, „Das kann ich natürlich nicht verantworten, dass San Francisco von Außerirdischen zerstört wird, nur weil du es nicht in letzter Sekunde rettest!“ Linus grinste und klopfte seiner Mutter auf die Schulter: „Ich wusste doch, dass du vernünftig bist, Mum!“ Schon war er zu einem kleinen Kästchen im Flur geeilt, auf das er vorhin Kevins Wohnungsschlüssel geworfen hatte. „Mum?“, rief er Sekunden später besorgt: „Hast du hier den Schlüssel von Kevins Wohnung weggetan?“

„Den Schlüssel mit dem roten Band?“, fragte Constanze.

„Genau den!“

„Hängt am Schlüsselbrett, wo man Schlüssel normalerweise hinhängt, mein lieber Sohn“, sagte sie schmunzelnd.

***

16.10 Uhr

„Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich unter der Knute wohlfühlt“, las Hannes nachdenklich im Internet nach. „Na immerhin hat er dann die Kurve noch gekriegt“, kommentierte er laut das Zitat Stauffenbergs und dachte darüber nach, ob er seinen Schülerinnen und Schülern auch diese Seite des Volkshelden Stauffenberg morgen in der Unterrichtsstunde aufzeigen sollte. Jener mutige Mann, der einst versucht hatte, Hitler aus dem Weg zu räumen, hatte also als Offizier der deutschen Wehrmacht ethnische Säuberungen durch die Nationalsozialisten akzeptiert, dem Zitat nach sogar befürwortet!

„Nach dem Tod Stauffenbergs wollte man sich auch an seiner Familie rächen“, las Hannes Meiner weiter, „ Himmler ordnete an, seine schwangere Frau Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg in das Konzentrationslager Ravensbrück zu deportieren. Die Kinder kamen in ein Kinderheim bei Bad Sachsa.“ Er hörte wieder auf zu lesen, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. Der Himmel präsentierte sich inzwischen wolkenverhangen und der Wind bewegte die Äste des Nussbaumes, der von seinem Arbeitszimmer aus zu sehen war. Seine Gedanken wanderten zu Janina, Jakob und Katharina. Wenn er an Stauffenbergs Stelle gewesen wäre: Hätte er das getan? Hätte er zum Wohle der Nation riskiert, dass seine Familie vielleicht dafür am Ende büßen musste? Sicher, Stauffenberg dachte, das Attentat würde funktionieren, dachte vielleicht tatsächlich, damit wäre das ganze Kapitel Hitler und NS-Zeit abgeschlossen und nicht nur seine Familie, sondern auch der Rest Deutschlands könne aufatmen. Aber er musste damit rechnen, dass vielleicht doch etwas schief ging und die Familie dann dran wäre!

Nachdenklich stand Hannes Meiner von seinem Schreibtisch auf und betrachtete die Bilder seiner Kinder und seiner Ex-Frau, die er auf das Regal vor seine zahlreichen Bücher gestellt hatte. Nein, er würde Katharinas Bild nicht wegräumen, auch wenn sie geschieden waren. Sie gehörte immer noch zu ihm, zur Familie. Und noch immer verstand er nicht wirklich, was geschehen war.

Im Prinzip hätte ihre Ehe klappen müssen. Sie waren beide vernünftige Leute – zumindest was man weithin als „vernünftig“ bezeichnete. Und sie passten – glaubte man Statistiken – gut zusammen. Hannes war Akademiker, sie ebenfalls. Hannes hatte Eltern aus der Mittelschicht, sie ebenfalls. Ihre Einkommen waren in etwa gleich. Auch ihre Wertvorstellungen wichen wenig voneinander ab. Aber das Wenige hatte zu Streitigkeiten geführt, die auf Dauer nicht überwindbar zu sein schienen. Nicht einmal der Kinder zuliebe war das möglich. Vielleicht waren sie beide zu stur, zu wenig kompromissbereit, zu sehr darauf bedacht, alles in ihrem Sinne gut zu machen, bis ins Detail. Und im Detail steckte bekanntlich der Teufel.

Wenn er die Kinder abholte, war sie immer freundlich, höflich, zuvorkommend. Sie bat ihn herein, bot ihm Kaffee an, backte sogar ab und zu Kuchen für ihn. Dann saßen sie gemeinsam am Tisch und grinsten einander an. Sie erzählten sich von dem, was die Woche über passiert war, als ob sie ein altes Ehepaar wären. Hannes begann wieder, ihr blondes Haar zu lieben, ihre schmalen Hände, mit denen sie ihm den Kaffee servierte, ihren vollen Mund, der einst bereit gewesen war, seine Wärme auf ihn zu übertragen. Er hätte sich glatt noch einmal in sie verlieben können, wenn da nicht die verdammte Wasserflasche auf dem Tisch gestanden hätte, die sie in einem Augenblick der Unachtsamkeit umstieß. Ihre Tollpatschigkeit hätte er wohl auch noch süß gefunden, aber nicht die Tatsache, dass das Wasser sich auf die Tischdecke ergoss, nur weil sie mal wieder vergessen hatte, den Verschluss der Flasche zuzudrehen. Er hatte es ihr doch hundertmal gesagt: „Dreh die Verschlüsse der Flaschen zu, dann laufen sie nicht aus, wenn du sie umstoßt.“ Aber sie machte es einfach nicht. Er legte es ihr als Gleichgültigkeit, als Unachtsamkeit und zuletzt als Böswilligkeit aus, dass sie die Flaschen einfach nicht verschloss. Sie legte es ihm als Besserwisserei, als Akribie, als Boshaftigkeit aus, dass er sie mit diesem Kleinkram nicht in Ruhe ließ. Und so wurde das Detail zur Grundsatzdiskussion. Und die Grundsatzdiskussion zum Weltkrieg auf dem Planeten Ehe. Und wenn es nicht die Wasserflasche war, dann war es das heruntergefallene Stück Kuchen, das sie nicht sofort aufhob, die Unachtsamkeit beim Einschenken des Kaffees, sodass dieser überschwappte, oder sonst welche zweifelhaften Wichtigkeiten.

Wenn sie ihm die Kinder brachte, war er auch immer freundlich, höflich, zuvorkommend. Und er bat sie ebenfalls, noch einen Augenblick zu bleiben, während die Kinder miteinander spielten oder in der Wohnung herumtollten. Dann bot er ihr selbstgekauften Kuchen und Kaffee an. Und dann erzählte sie, was die Kinder in der Schule gemacht hatten und was die Nachbarin Neues wusste und was ihre Mutter mit den Kindern unternommen hatte. Danach erzählte er, was es in seinem Job Neues gab, welche Computerspiele er sich gerne kaufen wollte und was er in den Sommerferien vorhatte. Sie hätte sich vielleicht ja neu in ihn verlieben können, in seine wachen graublauen Augen, in seine Grübchen, in seine Hände, die so gut wussten, an welchen Stellen sie gerne berührt werden wollte. Dumm nur, dass sie irgendwann über die Weltpolitik diskutierten, über die Russen und die Europäer und ihr Verhältnis zueinander und welche Konflikte es zwischen beiden gab. Oder über andere wichtige, große politische Sachen. Dumm nur, weil sie immer an den Punkt kamen, an denen er sagte: „So kann man das nicht sagen.“ Anschließend erläuterte er groß und breit, warum man das, was sie sagte, so nicht sagen konnte. Das, was er dann erläuterte, unterschied sich nicht so sehr von dem, was sie gesagt hatte. Nur ein bisschen. Im Detail. Und im Detail steckte bekanntlich der Teufel.

Die Kinder hatten sich zwischenzeitlich damit arrangiert, dass sie zwei Zuhause hatten, eines bei Mama und eines bei Papa. Hannes holte die Kinder jedes zweite Wochenende oder Katharina brachte ihm die Kinder eben. Wenn es nötig war, half er auch unter der Woche dabei, den Alltag mit den Kindern zu regeln. Er war da, wann immer ihn die Kinder brauchten, sofern es sein Beruf zuließ.

Zwei Jahre war es jetzt schon her, seit sie sich getrennt hatten. Am Anfang war es schrecklich gewesen, für sie, für ihn, aber am meisten für die Kinder. Janina hatte so viel geweint, dass sie fast jede Woche irgendetwas gemeinsam unternahmen, damit sie das Gefühl hatte, dass beide Eltern sich weiter um sie kümmerten, dass sie nach wie vor eine Familie waren, dass sie weiter zusammengehörten, nur eben aufgeteilt in zwei Wohnungen. Inzwischen aber genoss Janina die Vorteile der Doppelfamilie. Bei aller Eintracht und dem Streben nach einer für die Kinder bestmöglichen Erziehung war die Rivalität nicht zu vermeiden, die zwischen den Elternteilen herrschte. Jeder versuchte ein wenig, die Kinder zu bestechen. Mit Süßigkeiten, mit Kleidung, mit Aufmerksamkeiten, die mal eben für die Kinder interessant waren und dann schnell in irgendeinem Eck herumlagen: Plüschtiere, Wundertüten, Gummibälle und tausend andere Dinge. Und diese Rivalität führte zu neuen Streitigkeiten. „Du kaufst den Kindern lauter unnützes Zeug.“ „Du verziehst die Kinder.“ „Du schmeißt dein Geld für Krimskrams raus, das die Kinder überhaupt nicht brauchen.“ Nein, sie diskutierten das nicht vor den Kindern. Dazu waren sie zu verantwortungsvoll, zu rücksichtsvoll, zu beherrscht, zu pädagogisch angehaucht. Schließlich war Hannes Lehrer und Katharina Sozialpädagogin. Gestritten wurde nicht vor den Kindern. Das war ein Gesetz, das sie bestens einzuhalten wussten. Nur die kleinen vorwurfsvollen, genervten, stichelnden Blicke konnten sie vor den Kindern nicht verbergen. Und die winzigen Seitenhiebe, manchmal humorvoll verpackt, manchmal mit Zynismus gewürzt. Die Kinder hatten Antennen für diese Details im Handeln der Erwachsenen. Und im Detail steckte bekanntlich der Teufel.

Hannes Meiner hockte sich zurück an seinen Schreibtisch. Er drückte auf eine Taste am Computer, der sich inzwischen in den Stand-By-Modus begeben hatte. Die Internetseite zum Leben Stauffenbergs erschien wieder auf dem Bildschirm. Im Anschluss an den Lebenslauf Stauffenbergs stand „Verfilmungen“ dort. Fast ein Dutzend Mal war Stauffenbergs Heldentat verfilmt worden. Vielleicht hätte er einfach einen dieser Filme morgen im Unterricht zeigen sollen. Dann wäre Ruhe gewesen und er hätte sich nicht weiter Mühe geben brauchen, die Wahrheit über Stauffenbergs Attentat herauszufinden. Er hätte Zeit gehabt, jetzt etwas anderes zu tun, anstatt über seine Schüler und den Lernstoff nachzudenken.


***

20.00 Uhr

Ein netter Film. Vorne stand ein junger Lehrer, hinten saß ein furchterregender Mann, der wohl die Funktion eines Schulrats inne hatte. Aufgabe war es, den Kindern das Prozentrechnen beizubringen. Eine Horde gelangweilter Halbwüchsiger saß vor dem bebrillten Lehrer und starrte ihn an. Der Schulrat starrte ihn ebenfalls an. Und dann? Dann sang der Sunnyboy ein Lied. Ein Prozentrechenlied mit dem Titel: Ein paar Prozente hier, ein paar Prozente da, alles klar? Super Text, super Sound, alle Kids wachten auf. Ein Traum. Und am Ende des Songs konnten sie alle Prozentrechnen. Der Schulrat war glücklich, der Lehrer auch und die Kids sowieso. Alles Paletti.

Eva Lebrinsky brach die zweite Tafel Schokolade an und stopfte sie in sich hinein. Dann sagte sie zur Luft in ihrem Wohnzimmer: „So geht das also!“ Sie ging in die Küche, schüttete sich Eierlikör in ein Glas und ein wenig Milch darüber, kehrte zum Fernsehapparat zurück und trank das Glas Eierlikörmilch in einem Zug leer. „Ich hätte ein Mann werden sollen“, sagte sie zum Fernsehapparat. „Da liegt schon mal ein gravierender Fehler vor.“ Sie holte sich noch ein Glas Eierlikörmilch und kippte es hinunter. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Stapel Hefte. Ganz oben das von Kevin Jerris. Sie blickte auf den malträtierten Umschlag und brach sich eine weitere Rippe Schokolade ab, während im Fernsehkasten der bebrillte Lehrer vom geschniegelten Schulrat für seine überdurchschnittlichen pädagogischen Fähigkeiten gelobt wurde. Der Traumlehrer tanzte jetzt mit seiner Klasse durch die Gänge der amerikanischen Schule. Natürlich sangen alle perfekt den Refrain des Liedes mit und infizierten damit die sich in den Klassenzimmern befindenden Kids, die sogleich in den Song miteinstimmten. Eva dachte beglückt von der Wirkung des Eierlikörs nach: Wenn sie Kevin, Tom und Konsorten vielleicht morgen mit einem englischen Lied bespaßte, würde das Abwechslung in ihren Unterricht bringen und jeder war mit dem Liedtext beschäftigt. Nein, sicherlich nicht! Es würden wieder ein paar Tölpel rufen, dass das ein Scheißlied sei. Und dann würde eine lautstarke Diskussion ausbrechen, welche Musik am besten sei. Eva würde ein paar Mal „Ruhe“ durch die Klasse rufen und den Rest der Stunde über das Schülergemurmel hinweg sprechen bis sie heiser war. Also keine Musik. Besser die Jugendlichen schrieben die ganze Stunde irgendetwas. Dann war einigermaßen Ruhe.

Eva schob sich nochmal Schokolade in den Mund. Sie war gertenschlank seit sie klein war, egal wie viel sie in sich hineinschaufelte. Das war ganz praktisch, schützte aber nicht vor Schülerhohn.

Während in der amerikanischen Vorabendserie alle fröhlich weiterträllerten, schlug Eva Lebrinsky die zuletzt beschriebene Seite in Kevins Englischheft auf. „I had birthday yesterday. I became a monkey. This was a surprise“, las Eva und lachte auf. Wie zutreffend der Satz doch war! „Ja, du bist wirklich ein Affe geworden, was allerdings nicht sehr überraschend ist!“, amüsierte sich Eva über den grammatikalischen Fehler, den ihr Schüler gemacht hatte. „Du ähnelst damit dem Großteil der seltsamen Kreaturen in deiner Klasse. Lauter affenähnliche Idioten!“ Eva war sich nicht sicher, ob Kevin das Wort „get“ schon einmal bewusst wahrgenommen hatte. Jedenfalls strich sie „became“ kommentarlos durch und schrieb „got“ darüber. Sie schüttelte ihren Kopf mit den wenigen kurzen blonden Haaren und starrte auf das beneidenswerte Dekolleté, das die aus einem der Klassenzimmer kommende junge Lehrerin im Fernsehapparat dem singenden Superteacher präsentierte, der sie gerade anschmachtete. Eine glückselig lächelnde Klasse beobachtete die zwei Verliebten und erfreute sich an deren Anblick. Eva sah an sich selbst herab. „Vielleicht sollte ich meinen Busen vergrößern lassen!“, erzählte sie ihrem geliebten Wohnzimmer, das sie gerne nie wieder in ihrem Leben verlassen hätte. „Wenn ich dann noch ein wenig an Stoff im oberen Bereich spare, könnte das evtl. auch zum Erfolg führen.“ Humbug! Es spielte wahrscheinlich überhaupt keine Rolle, wie sie aussah, auch wenn diese amerikanische Vorabendserie suggerierte, dass dem so sei. Es war vielmehr ihr Inneres, das sie hätte umkrempeln müssen. Das wusste sie, aber es gelang ihr einfach nicht, den Spagat zwischen strenger Autoritätsperson und mitfühlender Freundin im Klassenzimmer auszuführen.

Sie hatte sich das alles viel leichter vorgestellt, als sie sich damals nach langem Hin und Her und dem Zuraten ihrer Eltern für das Lehramtsstudium entschieden hatte. Dass das eigentlich nicht ihr Job war, erkannte sie zu spät – oder besser gesagt gestand sie sich ihre Unfähigkeit viel zu spät ein. So wie Meiner musste man wohl sein, um ein guter Lehrer zu sein. Der hatte die Jungs und Mädels im Griff. Womöglich weil er ein Mann war. Wie der Kerl im Fernsehen. Andererseits spurten die Kids auch bei Frau Lengner. Und die hatte nicht mal viel Oberweite. „Alles einerlei!“, sagte sie laut und kicherte albern. Der Alkohol war ihr zu Kopf gestiegen. Vielleicht kam morgen der Schulrat, um ihr zu sagen, was sie alles falsch machte. Der redete sich leicht. Saß da mit seiner Krawatte und dem sündteuren Anzug, während sie versuchte, eine Schar Pubertierender in den Griff zu bekommen. „Blödmann!“, fluchte sie und dachte an den Schulrat und an Kevin gleichzeitig.

Kevin, dieser Sargnagel! Wie primitiv sich der Typ heute wieder benommen hatte! Schlief die ganze Stunde, gab unangemessene Kommentare von sich oder grinste wie ein Geistesgestörter! Sie hasste es, wenn die Schülerinnen oder Schüler grinsten, während sie ausflippte und ihre viel zu schwache Stimme alles versuchte, um an Bedrohlichkeit zu gewinnen. Tom, Georg und ein paar andere minderbemittelte Knallköpfe waren nicht besser als Kevin. Dazu kamen einige pubertierende Girlies wie Dana oder Larissa, deren kognitiver Intelligenzgrad vermutlich weit unter dem Durchschnitt lag und deren emotional-soziale Intelligenz im Minusbereich angesiedelt war. Das einzige, was diese Kreaturen konnten, war, sich ihr Gesicht so zuzukleistern, dass man Angst haben musste, sie würden unter der Make-Up-Schicht ersticken.

Schuld waren ja eigentlich die Eltern an diesem Elend – wenn sie nur an diesen widerlichen Vater von diesem Kevin dachte! Diese abstoßende „Ich bin ein cooler Typ und du mit deiner flachen Brust, deinen dünnen Haaren und deinem blassen Gesicht kannst mir gar nichts“- Visage! „Kevin langweilt sich bei Ihnen. Deshalb ist er so scheiße in Englisch“, hatte dieses ekelerregende Subjekt gesagt, nachdem sie den Typen nach mehrmaliger schriftlicher Aufforderung endlich in der Sprechstunde zu sehen bekommen hatte. Natürlich, wenn Kevin den ganzen Tag vor irgendwelchen Computerspielen saß, musste er sich im Unterricht langweilen. Schließlich konnte sie die Unterhaltung nicht bieten, die sich ihm da offenbarte. Ein Pack war das! Ein verdammtes elendes Pack an Doofköpfen! Es wäre ein Segen für die Menschheit, diesen Leuten ein Fortpflazungsverbot zu erteilen. Zwangskastration und –sterilisation. Die Lösung!


Vergib ihnen seine Schuld

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