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Donnerstag, 16. April 2015

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Menschen im Mittelmeer ertrunken

Über 40 Migranten sind vor der italienischen Küste wieder ums Leben gekommen. Erst am Wochenende waren 400 Menschen ertrunken.“

Manchmal überschlagen sich die Ereignisse, ohne dass man sie selbst wirklich zu steuern vermag und jegliches Glücksgefühl kommt dabei abhanden. Man hält das Steuerrad, aber der Sturm, der einem das Wasser des Lebens hart ins Gesicht schleudert, ist stärker und reißt einem das Steuerrad aus den Händen. Man denkt, man hätte alles im Griff, alles schon hundertmal gemacht, schon tausend Stürme überstanden. Man denkt, dass das doch alles gar nicht so schwer sein könne, dass es schon klappen würde, dass man diesen Sturm auch überstehen würde, so wie die letzten tausend Stürme. Dann fährt man hinein ins Abenteuer, fast schon mit ein bisschen Lust an der Auseinandersetzung, am Sich - Messen mit der Gefahr, mit der Herausforderung, mit dem Gegenwind. Am Anfang hat man noch ein gutes Gefühl. Und dann auf einmal in einem klitzekleinen Moment reißt einem der Sturm das Steuerrad so rüde aus den Händen, dass man Angst hat, sterben zu müssen. Und der Mut verlässt einen augenblicklich.

***

12.50 Uhr

Maja wischte sich das Wasser, mit dem sie den Mund ausgespült hatte und das jetzt ihr Kinn bedeckte, mit der linken Hand weg. Sie war die Letzte, die den mit hellbraunen Fließen gekachelten Duschraum verließ. Während die meisten Mädchen sich miteinander unterhielten, herumalberten oder Pläne für den restlichen Nachmittag schmiedeten, wankte Maja zu ihrem Garderobenplatz an der Wand der Umkleidekabine und versuchte zu vermeiden, dass sie noch einmal kotzen musste. Sie konzentrierte sich ganz auf das Umziehen und erschrak, als plötzlich Frau Lengner neben ihr stand.

Sie mochte die Rektorin nicht besonders. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich noch kleiner als sonst. Noch dümmer und fetter als sonst.

Frau Lengner hatte sich bereits umgezogen und trug wieder ein schickes Kostüm, war perfekt geschminkt und ihre Haare sahen sogar jetzt nach dem Sportunterricht noch aus, als wäre sie erst vor ein paar Stunden vom Friseur gekommen. Maja hatte ihre Haare gestern Morgen gewaschen und trotzdem wirkten sie, als hätte jemand Öl drüber gegossen.

„Geht schon ins Klassenzimmer, holt eure Sachen und dann könnt ihr nach Hause gehen“, sagte Frau Lengner laut zu den anderen Mädchen. Sie warf Lisa ihr Armband zu, das sie vor dem Sportunterricht neben einigen anderen Kettchen, Ohrringen und Ringen von den Schülerinnen eingesammelt hatte. Dann trat sie noch einen Schritt näher an Maja heran und sagte leise zu ihr: „Mit dir möchte ich bitte kurz sprechen.“ Sie lächelte überlegen mit einer selbstbewussten Leichtigkeit. Frau Lengner deutete in Richtung Turnhalle und verschwand ebenso schnell wie sie gekommen war. Zurück blieb nur ein Hauch Parfümgeruch, der für einen kurzen Moment den Garderobenmief nach Schweiß, alten Socken und stinkenden Turnschuhen vertrieb. Natalie, die neben Maja fertig angezogen dastand und ihr Turnsäckchen zuschnürte, sah sie fragend an, sagte aber nichts. Dana, die Frau Lengners für Maja bestimmte Worte auch vernommen hatte, konnte ihren Mund nicht halten: „Was sie will von dir? Wegen Gekotze? Nimmst du Drogen? Musst du umstellen, dann musst du nicht kotzen. Nimmst vielleicht falsche Drogen. Nicht saubere Drogen. Dann muss man kotzen wegen dem Dreck da drinnen.“ Dana hielt kurz inne, sah Natalie nach, die gerade die Umkleide verließ, lachte und fuhr dann fort: „Aber du nimmst eh kein Drogen, oder? Bist viel zu brav!“ Sie lachte abermals und gab Maja den wertvollen Tipp: „Musst du ab und zu was einwerfen, macht dich locker! Denk an Party bei Natalie. Hast du auch Alkohol genommen. Ist gut, macht locker, was?!“ Sie zwinkerte Maja verschwörerisch zu. Dann flüsterte sie: „Wenn du brauchst was, kannst du sagen.“ Maja zog sich ihre Hose an, die mindestens drei Nummern größer als Danas war.

„Vielleicht hat unsere brave Maja ja was ausgefressen?“, spottete Larissa. Auch ihr waren Frau Lengners Worte nicht entgangen. Sie schob ein Deodorantspray mit dem Bild eines Playboyhasen unter ihr Shirt und drückte drauf, bis der ganze Raum nach dem penetranten Deo roch. Lisa kam auf Larissa zu, warf einen kurzen Blick auf Maja, nahm ihre Freundin Larissa an der Hand und mahnte sie: „Lass sie in Ruhe und komm lieber!“ Sie zog an ihrem Handgelenk, um sie zum Mitgehen zu animieren. Aber Larissa konnte ihren Mund nicht halten: „Dana hat doch recht. Auf Natties Halloweenparty hat unsere brave Maja ja ganz schön die Sau rausgelassen! Hätte man gar nicht gedacht von dem grauen Mäuschen!“ Die ebenfalls kräftig gebaute, aber über ein weit größeres Selbstbewusstsein verfügende Klassenkameradin Majas legte den Kopf schief, grinste Maja an und zwinkerte mit dem rechten Auge. „Jetzt ist es aber genug mit den ollen Kamellen! Was fängst du denn damit jetzt an? Das ist Monate her!“, schimpfte Lisa und zog noch kräftiger an Larissa. Mürrisch entgegnete diese: „Ich komm ja schon, Mann. Spiel nicht wieder die Obergerechte!“ Sie verdrehte die Augen und folgte Lisa aus der Garderobe.

„Na viel Spaß!“, spottete Dana noch und ging auch. Jetzt war Maja alleine in der Garderobe. Sie ließ sich auf die Garderobenbank plumpsen und stöhnte. Gott sei Dank waren sie weg, diese blöden, eingebildeten Tussen! Maja dachte zurück an jenen verhängnisvollen Abend bei Natalie. Nie zuvor hatte sie so viel Alkohol getrunken. Manchmal hatte sie an einem Glas Sekt genippt, wenn jemand Geburtstag hatte. Aber das war´s dann auch schon gewesen! Sie mochte eigentlich keinen Alkohol.

Doch dann kam diese vermaledeite Party. Dana hatte so ein süßes Zeug ausgegeben, das wie Limo schmeckte. Maja hatte ziemlichen Durst gehabt. Also hatte sie das Glas leer getrunken. Dann hatte sie sich noch eines genehmigt und noch eines. Und dann noch eines und noch eines. Schon nach dem ersten Glas war es ein herrliches Gefühl gewesen – leicht und unbeschwert. Man hatte plötzlich den ganzen Groll auf diese Erde vergessen und war dankbar für die gesamte Welt. Sie hatte viel geredet, obwohl sie sonst kaum redete. Und sie hatte getanzt ohne sich irgendeinen Gedanken über die Art ihrer Bewegungen zu machen. Dieses „Ist – mir – doch – alles – egal“ – Gefühl hätte sie gerne lange festgehalten, am besten für immer.

Ein Gong diente als Befreiungsschlag für alle Schülerinnen und Schüler der Schule und augenblicklich fing es im Schulgebäude an zu lärmen. Maja hörte Rufe von dem an die Turnhalle angrenzenden Sportplatz. Hier spielten die Jungs und manchmal auch ein paar Mädchen nach dem Unterricht Fußball. Vor allem wer noch Nachmittagsunterricht hatte, tummelte sich gerne auf dem Platz.

Maja ging in die verlassene Turnhalle. Hier hatten sie gerade vorhin Basketball gespielt. Na ja, Lisa, Larissa, Natalie und Dana hatten in ihrer Mannschaft „gespielt“. Maja war mehr nebenher gelaufen. Irgendwann zwischendurch hatte Lisa sie dann bemerkt und ihr doch einmal den Ball zugepasst. Dummerweise hatte sie ihn nicht fangen können.

Frau Lengner ließ das Tor zum Geräteraum herunter und bewegte sich auf Maja zu: „Ich denke, es gibt da eine Sache, die wir bereden müssen, oder?“ Maja schluckte.

***

13.40 Uhr

Asha drückte die Türe hinter sich zu, lehnte sich dagegen und schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht war es doch die falsche Entscheidung gewesen, die Wohnung zu kündigen! Nach dem, was gestern passiert war, war eine Welt zusammengebrochen. Sie hätte nicht geglaubt, dass er sie jemals so demütigen würde. Natürlich gab es im Vorfeld die eine oder andere Bemerkung oder Reaktion, die sie stutzig hätte machen müssen. Aber sie hatte im Laufe ihre Lebens gelernt, über kleine oder auch mal etwas größere Ungereimtheiten hinwegzusehen und positiv in die Zukunft zu blicken.

Musik war plötzlich zu hören – ihr Handy! Viertel vor zwei Uhr. Er rief an. Rasch drückte sie ihn weg und schaltete das Handy ganz aus. Sie streifte sich die Schuhe mit den hohen Absätzen von den Füßen und ging in das große Zimmer, das ihr in den letzten Jahren gleichzeitig als Schlaf-, Wohn- und Essraum gedient hatte. Seine Wohnung war größer, aber auch wesentlich heruntergekommener als ihre. Sie hatte vorgehabt, den Schimmel im Schlafzimmer und in der Küche zu entfernen, die Wände zu streichen und die Männerbude wieder auf Vordermann zu bringen. Aber jetzt war ihr die Lust dazu vergangen.

Müde sah sie sich hier in ihrer alten Wohnung um. An der linken Wand gegenüber der Küchenzeile hatte früher ihr Bett gestanden. Sie hatte es für ein paar Euro verkaufen können. Vor dem großen Fenster hatte sie den alten Tisch ihrer Pflegemutter platziert. Den hatte sie nicht verkaufen wollen. Eine Freundin bewahrte ihn zusammen mit den vier antiken Stühlen, die dazu gehörten, in ihrem Keller auf. Wenn sie seine Küche gestrichen hatte, wollte sie seine scheußlichen Küchenstühle samt Tisch zum Sperrmüll bringen und das Möbiliar ihrer Pflegemutter dort platzieren.

Vorsichtig schob Asha den Vorhang zur Seite. Von hier aus sah man zum Wohnblock gegenüber. Dort auf dem Dach hatte jemand einen kleinen Garten angelegt. Im letzten Jahr hatte sie oft beobachtet, wie dessen Besitzer – ein Mann um die Vierzig – seine wenigen Quadratmeter Minigarten liebevoll gepflegt hatte. Im Frühjahr waren Tulpen, Narzissen und Traubenhyazinthen dort aufgeblüht. Im Sommer hatte er Tomaten, Gurken, Bohnen und Salat geerntet. An manchen Tagen war sie so nah am Fenster gestanden und hatte dabei zugesehen, wie er die überflüssigen Triebe der Tomatenstauden abgezupft, das Unkraut entfernt oder die Bohnen geerntet hatte, dass der Mann sie bemerkt hatte. Schließlich hatte er ihr gewunken und zugelächelt. Am Anfang hatte sie sich als Reaktion darauf rasch zurückgezogen, weil es ihr peinlich gewesen war, dass er sie bei ihren neugierigen Beobachtungsaktionen ertappt hatte. Aber dann hatte sie irgendwann zurückgewunken. Beim Zuwinken blieb es. Sie hatte sich nie getraut, nachzuforschen, wer er war. Und auf der Straße waren sie sich tatsächlich niemals begegnet. Aber das allabendliche Zuwinken hatte sich eingebürgert. Manchmal hatte sie sich schon morgens darauf gefreut, ihn abends zu sehen. Es war ein bisschen albern, teenagermäßig, aber das war ihr egal gewesen. Es hatte ja niemand davon gewusst außer ihm und ihr. Zumindest hoffte sie das.

Schließlich hatte sie angefangen, davon zu träumen, wie er sie anrufen würde und sie in der untergehenden Sonne ein Glas Wein an dem kleinen runden Tischchen mit den beiden verschnörkelten Gartenstühlen, die auf seiner Dachterrasse Platz gefunden hatten, trinken würden. Sie hatte sich wie ein junges Mädchen, das sich zum ersten Mal verliebt hatte, ausgemalt, wie ihre erste richtige Begegnung sein würde. Oft hatte sie überlegt, wie er wohl war, dieser geheimnisvolle Gärtner mit dem umwerfenden Lächeln, was er arbeiten würde und wie sein Privatleben aussah. Manchmal war er mit Freunden auf der Dachterrasse gesessen, aber mit einer Frau alleine hatte sie ihn nie gesehen. Das hatte ihr Hoffnung gemacht, dass es keine Frau in seinem Leben gab, hatte aber gleichzeitig Skepsis in ihr aufkeimen lassen, ob er vielleicht homosexuell war oder seine Lust an Prostituierten stillte. Während sie in ihrer „realen Welt“ die ein oder andere Liebschaft gepflegt hatte, die so rasch kam wie sie ging, hatte sie den Fremden zu einer unerreichbaren Ikone hoch stilisiert. Manchmal hatte sie überlegt, ob sie sich nicht vielleicht doch mühen sollte, die Ikone kennenzulernen. Aber mit Männern, die reden konnten und die sie anfassen konnte, hatte sie in den letzten Jahren so viele Enttäuschungen erlebt, dass sie es letztlich für klüger gehalten hatte, mit diesem Herren nur in ihren Tagträumen zu kommunizieren. Selbst wenn er so ein feiner Kerl wie Ramon gewesen wäre und sie tatsächlich ein Liebespaar geworden wären – sie hätte den Karren mit ihrem vehementen Kinderwunsch sicher wieder in den Dreck gefahren.

Eines Abends dann waren auf der Dachterrasse eine fremde Frau und er gesessen. Sie hatten etwas getrunken. Später hatten sie sich geküsst. Und Asha hatte dabei zugesehen.

Jetzt drehte sich Asha um, ging zur Küchenzeile und nahm den letzten Topf, den sie noch in der Wohnung hatte, aus dem Regal neben der Spüle. Sie goss Wasser ein und setzte ihn auf den alten Elektroherd. Ein paar Beutel Schwarztee lagen auf der Anrichte. Eine Tasse mit einem roten Herz darauf befand sich im Küchenkasten. Ralph hatte ihr die Tasse am Anfang ihrer Beziehung geschenkt. Ein kleiner Plüschhase war darin gewesen und ein Zettel, auf dem „Ich liebe dich“ zu lesen gewesen war. Asha legte einen der Teebeutel in die Tasse und goss heißes Wasser darüber. Ein Tropfen Wasser landete neben der Tasse. Sofort nahm sie aus ihrer Handtasche ein Papiertaschentuch, wischte den Tropfen weg und steckte das feuchte Tuch in die kleine Tasche ihres Jeansrockes.

Mit der Tasse Tee setzte sie sich auf den Boden, lehnte sich an der Wand an und starrte aus dem Fenster. Sie begann zu sinnieren. Als sie Ralph kennengelernt hatte, hatte es in Strömen geregnet. Es war ein paar Tage, nachdem sie den Dachterrassenmann mit der Anderen gesehen hatte, gewesen. Sie hatte ihn in der Kneipe kennengelernt, in der sie am Samstagabend manchmal bedient hatte. Er war das erste Mal in dieser Kneipe gewesen und hatte zerknirscht gewirkt. Sie hatte ihn nicht lange bitten müssen, zu erzählen, was ihn gerade bedrückte. Seine Frau war gestorben, die er so sehr geliebt hatte, wie er beteuerte. Eine schreckliche Sache, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Natürlich hatte sie Mitleid. Asha hatte Vater und Mutter bei einem Autounfall verloren, als sie sieben war. Sie war in ein Waisenhaus gekommen, wo sie sich jeden Abend in Erinnerung an die geliebten Eltern in den Schlaf geheult hatte. Eltern waren unersetzbar, so sehr sich die Bediensteten des Waisenhauses auch um sie bemüht hatten. Im Waisenhaus hatte es zu viele Kinder für zu wenige Betreuer gegeben. Da war so manche Träne unentdeckt geblieben und so mancher Ärger musste rasch hinuntergeschluckt werden, damit alles im Lot blieb und funktionierte. Dann, nach ein paar Jahren, hatte ein älteres Ehepaar sie zu sich genommen. Die beiden hatten keine eigenen Kinder und hatten ihr alles gegeben, was sie für ein gutes Leben brauchte. Es war der siebte Himmel für sie gewesen, bis der Mann an einem plötzlichen Herzinfarkt und die Frau ein Jahr später an Krebs gestorben war. Somit war sie wieder allein gewesen und wenngleich sie schon halb erwachsen gewesen war, hatte sie sich damals mit ihren fast 18 Jahren unglaublich verlassen gefühlt.

Nach kurzer Zeit hatte sie dann aber Ramon kennen gelernt und ihn sogleich geheiratet – Glück pur. Ramon war ein zuverlässiger, fleißiger, gewissenhafter junger Mann gewesen, der sie auf Händen getragen hatte. Das Glück sollte ein Kind krönen, aber dieser Wunsch wurde Ramon und ihr nicht gewährt. Und dann begann der Weg in die Hölle, Stück für Stück. Tausend Besuche bei diesem und jenem Doktor. Ramon war dagegen, wollte mit ihr alleine glücklich werden, wollte nichts erzwingen. Aber für Asha fehlte ein wichtiger Teil in ihrem Leben. Weil er sie geliebt hatte, hatte er sich überreden lassen, ihren Kampf um ein eigenes Kind mitzukämpfen. Doch mit jedem Mal, bei dem es nicht klappte, war sie unzufriedener, ungerechter, unausstehlicher geworden. Und irgendwann war das Glück zerbrochen, Ramon weg und sie stand wieder alleine da. Nach Ramon hatte sie sich dann in die verschiedensten Abenteuer mit den unterschiedlichsten Typen gestürzt. Aber keiner kam an Ramon ran.

Als sie nun Ralph das erste Mal begegnet war, wusste sie also nur zu gut, was es bedeutete, wenn man ein Stück Familie verlor. Dabei ging sie von ihrer eigenen Definition von „Familie“ aus – einem Zusammenschluss von Menschen, die einander in unendlicher Liebe und Fürsorge begegneten.

Asha schloss die Augen für einen Moment. Sie war erschöpft, obwohl sie heute nur den halben Tag gearbeitet hatte. Aber sie war gleichzeitig zu aufgewühlt, um zu schlafen. Warum hatte er das getan? Warum war er von einem Moment auf den anderen zum Teufel mutiert? Sie war verletzt in jeder Hinsicht. Und sie wusste nicht, ob diese Verletzungen so schnell heilen würden. Sie hatte dem Jungen nicht geglaubt, seine Warnungen nicht gehört. Nicht hören wollen vielleicht. Sie hatte ihrem Liebhaber geglaubt, einfach weil er ihr Liebhaber war. Ihre ersten Erfahrungen mit Männern hatten sie schließlich gelehrt, dass man Männern vertrauen konnte: Ihrem Vater, ihrem Pflegevater, ihrem ersten Mann. Naiv übertrug sie dieses Vertrauen auch auf ihn, obwohl sie zwischendurch doch genug Erfahrungen mit unzuverlässigen Männern gemacht hatte. Was für ein naives Dummerchen war sie doch gewesen! Wahrscheinlich hatte sie ihm auch vertraut, weil sie sich zu sehr nach einer Familie sehnte. Als Ralph das erste Mal von seinem Sohn berichtet hatte, sah sie sich geradezu dazu berufen, dem halbverwaisten Jugendlichen eine neue Mutter zu sein. Dass sich das allerdings äußerst schwierig gestaltete, wurde ihr schnell bewusst, nachdem sie Kevin kennengelernt hatte.

Asha nippte an ihrem Tee und grübelte weiter über Ralph Jerris nach, dachte an das erste Mal, als sie mit ihm Sex hatte. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Naivität! Diese verdammten Spielchen - sie hätte darauf von Anfang an nicht eingehen sollen. Es war eine fremdartige Erfahrung für sie gewesen, die auf spielerische Art Gewalt einschloss. Sie hatte nie Gewalt erfahren und doch turnte es sie an, als er sie eines Tages an das Bett fesselte und sie dazu aufforderte, ihn Jack zu nennen. Sie schüttelte wiederum den Kopf. Jack – so ein verfluchter Blödsinn! Wie alt war sie eigentlich? Was in aller Welt hatte sie nur dazu bewegt, den Unsinn mitzumachen? Verdammt lange hatte Asha das Spiel mitgespielt, sich ihm immer mehr ausgeliefert, sich die Augen verbinden lassen, sich von ihm sagen lassen, was sie zu tun hatte, wie sie sich bewegen und was sie sagen sollte. Sie hatte die Gefahr nicht erkannt, die Lust verkannt, die ihm diese Machtspielchen einbrachten. Es war mit ihrem Einverständnis geschehen, bis es nun plötzlich kippte. Und jetzt blieb nur noch abgrundtiefe Scham darüber, dass sie mitgespielt hatte.

Sie wusste nicht genau, wie es weitergehen sollte. Die Wohnung hier war gekündigt. Sie hatte sich überreden lassen, bei ihm einzuziehen. Verdammt! Was, wenn das Ganze noch einmal geschah? Sie durfte das auf keinen Fall zulassen! Um ihrer selbst Willen und um des Jungen Willen nicht. Nein, sie würde nicht von ihm weggehen, ihn verlassen. Sie würde das Feld nicht kampflos räumen – das war sie dem Jungen schuldig, den sie trotz seiner Widerborstigkeit mochte und für den sie ein seltsames Verantwortungsgefühl empfand, mehr als je zuvor für irgendjemanden. Immerhin teilte er mit ihr das Schicksal, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Seine Mutter war gestorben und auch wenn er darüber nicht sprach, glaubte Asha zu spüren, dass ihm seine Mutter fehlte. Vielleicht interpretierte sie das auch nur in sein Schweigen, in seine Rebellion, in seine wenigen Worte, die er zum besten gab, hinein. Fakt war aber sicher, dass er seinem Vater misstraute. Dieses Schicksal teilten sie nun auch. Wenn sie den wenigen Bemerkungen, die der Junge bisher von sich gegeben hatte, nun endlich Glauben schenkte, so wohnte er in der Höhle des Löwen. Asha wusste jetzt durchaus, dass der Löwe nicht Halt machte, wenn ihm danach war, Beute zu machen. Sie schloss die Augen und spürte die Wunde am Arm.

***

16.59 Uhr

Kevin zog die Haustüre leise ins Schloss. Zögernd betrat er die Küche, sah auf die laut tickende große weiße Uhr über der Küchentüre, dann auf seinen Vater. „Asha?“, rief er. Niemand antwortete. Nur die Uhr tickte immerzu. Mach endlich, schien der Zeitmesser zu sagen. Fünf Uhr. Ja, es war längst Zeit, zu handeln. Er ging zur Anrichte, zog sein Sweatshirt so weit nach vorne, dass es über den Zeigefinger reichte, und verschob den Hammer um ein paar Millimeter nach rechts. So genau wusste er immer noch nicht, was er sagen sollte. Er hatte versucht, seine Gedanken zu ordnen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Früher hatte er sich nicht nur einmal gewünscht, dass es passieren würde. Aber jetzt fühlte er sich seltsam leer, ausgebrannt.

Er ging zwei Schritte rückwärts. Vielleicht sollte er die Wohnung einfach verlassen, wegrennen, warten, bis jemand anderer ihn fand. Asha vielleicht. Er hatte irgendwie auf sie gezählt. Aber sie war immer noch nicht nach Hause gekommen. Wo war sie so lange? Sie hätte doch schon längst da sein müssen. Eigentlich hatte er gehofft, sie würde vor ihm kommen und die Polizei rufen. Es wäre geschickter gewesen, oder? Andererseits war es vielleicht sinnvoller, er rief selber an, meldete alles höchstpersönlich. So hatte er es ja auch vorgeschlagen. Dann würden die Bullen kommen und alles aufnehmen und danach hatte er hoffentlich seine Ruhe.

Das Telefon lag im Flur. „Ähm, also“, stöpselte er herum, nachdem die Stimme eines Mannes sich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. „Also ich muss einen Mord melden“, erklärte er dem Polizisten. Seine Stimme zitterte. „Also eigentlich einen Einbruch“, verbesserte er sich dann. Er sprach in kurzen abgehakten Sätzen und schluckte immer wieder zwischendurch. „Der A…., ähm“, stammelte er, als ihn der Polizeibeamte fragte, wer denn der Ermordete sei, „also mein Vater liegt tot in der Küche.“ Mutter war damals auf dem Bett gelegen. Das selbe Bett, das sein Vater heute noch benutzte – benutzt hatte.

Er hockte sich auf einen Küchenstuhl, bis die Bullen kamen, und beobachtete immerzu den Vater, als hätte er Angst, er könne wieder aufwachen. Eigentlich hatten sie es ja überprüft. Aber es geschahen manchmal seltsame Dinge. Natalie hatte von einem erzählt, den man lebendig eingegraben hatte, weil er einen Herzstillstand hatte. Und dabei war er dann doch nicht tot gewesen und musste im Sarg elend verhungern. Wahrscheinlich nur eine Gruselgeschichte – woher sollte schließlich jemand die Geschichte wissen – der Tote hatte sie nicht erzählen können, der war ja verhungert.

Wie seltsam der Vater da lag mit der Nase auf dem Boden. Kevins Blick schweifte kurz zu den Bierflaschen. Er hätte sich gerne eine volle Flasche geholt. Na ja, war jetzt wahrscheinlich besser, er ließ es bleiben!

Dann kamen endlich zwei Bullen und verbreiteten eine eigenartig nüchterne Betriebsamkeit. Einer fragte Kevin nochmal, was passiert sei und Kevin erzählte alles relativ emotionslos: Dass Einbrecher Geld gestohlen hätten, dass er kurz vor Fünf nach Hause gekommen sei und dass er gleich die Polizei gerufen habe.

Schließlich kamen zwei Männer mit weißen Anzügen und widmeten sich den herumliegenden Scherben, der Mordwaffe und dem Opfer. Sie schossen Fotos, fingerten mit ihren Plastikhandschuhen herum, pinselten ein, hoben kaum erkennbare Dinge vom Boden auf oder füllten Tütchen mit den verschiedensten Beweisstücken. Kevin beobachtete sie argwöhnisch.

Zuletzt kamen eine Frau und ein Mann, die wohl wichtiger zu sein schienen. Sie fragten die anderen Polizisten ein paar Sachen, drängten sich an ihnen vorbei und widmeten sich schließlich Kevin, der eigentlich keine Lust hatte, mit irgendjemandem zu reden, schon gleich gar nicht mit einem neugierigen Bullenpärchen. Entsprechend kratzbürstig gab er sich auch gegenüber den beiden Leuten von der Polizei, die im Gegensatz zu den anderen Bullen nicht in Uniform waren oder in seltsamen Anzügen steckten. Die Polizisten, die zuerst hier gewesen waren, verschwanden dafür wieder.

Inzwischen war es nun sechs Uhr. Kevin hatte die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und den Kopf auf die Handflächen gelegt. Er verfolgte mit den Augen eine Fliege, die sich auf der Hand seines Vaters hin und her bewegte.

„Wohnt hier noch jemand außer dir und deinem Vater?“, fragte nun der Polizist, nachdem Kevin berichtet hatte, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Kevin hatte sich den Namen des Polizisten nicht gemerkt. Er war eigentlich kein Polizist, zumindest kein „einfacher“ Bulle, sondern irgendein Kriminalkommissar oder Kriminaloberkommissar oder Kriminalhauptkommissar oder sonst ein Oberbefehlshaber. Jedenfalls ein besonderer Polizist. Wie auch immer. Kevin mochte ihn nicht. Es war einer dieser Typen, die immer ein bisschen klugscheißern mussten. Wahrscheinlich war er deshalb zur Polizei gegangen.

„Asha“, antwortete er missmutig. „Seit einer Woche pennt sie hier“, fügte er etwas leiser hinzu.

„Und wer ist Asha?“, fragte der Mann in rauem Ton. Das Gespräch mit Kevin war ihm ganz offensichtlich zuwider. Wahrscheinlich wäre er gerne wie andere Arbeitnehmer um fünf Uhr von der Arbeit nach Hause gegangen und hätte dann seine Ruhe gehabt. Er stöhnte, sah sich in der Küche um und war sichtlich angewidert von den teils schimmeligen, teils verdreckten Stellen an den Wänden, von dem schmutzigen Geschirr in der Spüle und von dem vielen verstaubten unnützen Zeug, das in dem ohnehin für eine Küche viel zu kleinem Raum überall herumstand.

„Asha ist Vaters“, Kevin hielt kurz inne und sagte dann doch, was er dachte, „Flittchen“.

„Seine Freundin, meinst du wahrscheinlich“, verbesserte der Polizeibeamte ihn und ließ an seinem Tonfall erkennen, wie unglaublich genervt er von Kevins pubertärem Gehabe war. Der Mann streifte sich mit seiner Hand über seinen Kugelbauch und zupfte dann an seinem dichten braunen Oberlippenbart herum. Einer der Typen im weißen Anzug stieß aus Versehen gegen den Küchentisch, weil sich in der Küche viel zu viele Leute aufhielten und kein Platz war. Er deutete seiner Kollegin an, dass sie mit dem Jungen den Raum verlassen sollten.

Kevin starrte auf den Küchentisch. 16. April, dachte er. Welche ein seltsamer Zufall! Heute ist es geschehen, hämmerte es in seinem Kopf und als ob er sich seiner Annahme versichern wolle, schaute er auf den Kalender in der Ecke, der einen blühenden Baum und im Hintergrund Berge mit weißen Gipfeln vor einem tiefblauen Himmel zeigte. Asha hatte den Kalender aufgehängt, nachdem sie eingezogen war. Und jetzt schaute er das erstemal darauf. Vor drei Jahren genau an diesem Tag war sie gestorben, erinnerte er sich. Es hatte im Gegensatz zu heute den ganzen Tag geregnet. Er hatte keine Mütze dabei gehabt, sodass der kalte Wind seine Ohren gerötet hatte und er froh gewesen war, als er endlich die warme Wohnung betreten hatte können. Die nasse Jacke hatte er über den Kleiderhaufen im Gang geworfen, auf dem sie alle ihre Klamotten ablegten. Vater fluchte zur rechten Zeit, wenn er seine eigene Jacke unter dem Kleiderstapel nicht mehr fand. Dann warf er einfach alle Kleidungsstücke in dem zugemüllten kleinen Flur umher, bis ihm das gesuchte Teil unterkam. Aufräumen musste die verteilten Kleider jemand anderer. Schließlich hatte ja auch jemand anderer die Sachen auf seine Jacke geworfen.

„Du bist also nicht allein hier, jetzt, wo dein Vater…“ Die Polizistin, die neben ihrem raubeinigen Kollegen stand, führte den Satz nicht zu Ende. Sie sah Kevin eine Weile besorgt an. Kevin hatte sich auch ihren Namen nicht gemerkt. Sie war wohl ebenfalls irgendeine Obertussi. Irgendwas Besseres halt. Irgendwer, der nicht nur die niedere Drecksarbeit machen durfte, sondern eben ein bisschen klugscheißern konnte.

„Er ist erschlagen worden von dem Einbrecher“, murmelte Kevin ungeachtet dessen, was die Frau gesagt hatte. „Einfach erschlagen“, sagte er monoton. Kevin starrte auf das leere kleine Holzkästchen neben den vier leeren Bierflaschen, die vor ihm auf dem Küchentisch standen. Es roch nach einem Gemisch aus kaltem Rauch, Alkohol und Moder – ein Geruch, der für Kevin normal war. Das Holzkästchen befand sich üblicherweise hinter einem Stapel Teller in dem Küchenkasten oberhalb der Spüle. Aber die Teller lagen als Scherben überall verteilt auf den dreckigen Tellern in der Spüle, auf der Anrichte, auf dem Toten und auf dem Küchenboden. Der Vater habe das ganze Geld, das sie momentan an Ersparnissen hatten, in dem kleinen Holzkästchen aufbewahrt, erzählte Kevin den Beamten. „Banken hat er nicht getraut“, erklärte der Junge, „Er hat gesagt, dass alle Bankfuzzis eh Betrüger sind. Wenn ihm Geld von der Arbeit oder so überwiesen worden ist, hat er das meistens immer gleich alles abgehoben und nach Hause gebracht.“

„Wie viel Geld war in dem Kästchen?“, raunte der Polizist.

„Ein paar hundert Euro, mehr nicht. Meistens hat mein Alter das Geld, das er gekriegt hat, gleich wieder verjubelt. Versoffen oder so“, antwortete Kevin widerwillig. „Keine Ahnung, wie viel er grade hatte.“

„Hm“, brummte der Mann nur.

Die Frau legte Kevin die Hand auf den Rücken. Sie fühlte sich warm an. „Komm!“, sagte sie, „Wir gehen besser in ein anderes Zimmer.“

„Ich kann ihn schon anschaun“, entgegnete Kevin trotzig und richtete seine Augen auf den toten Vater, den sie auf eine Bahre gelegt hatten, die immer noch neben dem Küchentisch stand. „Warum geht denn hier nichts vorwärts!“, schimpfte der Ober-Polizist den Mann im weißen Anzug, der neben dem Toten kniete. Der warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

„Die Spurensicherung muss hier ihre Arbeit machen“, erklärte die Frau Kevin nun etwas gereizter. „Wir gehen jetzt besser in einen anderen Raum. Hast du ein eigenes Zimmer?“ Kevin nickte. „Nächste Tür links“, brummte er. Die eben noch wärmende Hand legte sich fest um seinen Oberarm und zog ihn mit entschlossenem Griff hoch. „Ich komm ja schon“, zischte Kevin. Die Polizeibeamtin führte ihn in sein Zimmer. Der Obermackerpolizist folgte ihnen.

Dort angekommen zog der Junge bockig seinen Arm weg und ließ sich auf sein Bett fallen. Der Bettbezug war schwarz und zeigte einen Totenkopf mit einer Piratenaugenklappe über der rechten Augenhöhle. „Kevin Jerris“ stand auf einem der Hefte, die auf dem mit allerlei Kleinzeug übersäten Schreibtisch herumlagen. Darunter war „Englisch 1“ zu lesen. Vermutlich besaß er noch ein zweites Englischheft. Der Hefteinband hatte offensichtlich manch langweilige Englischstunde überstanden und dazu gedient, sich die Zeit dabei zu vertreiben. „Fuck the system!“, stand in unleserlicher Schrift direkt unter Kevins Namen. Ein großer Aufkleber prangte nur wenige Zentimeter unterhalb des Namensschildes auf dem Hefteinband. Ein schwarzes Monster war darauf abgebildet, das ein Glas mit einer roten Flüssigkeit in seiner Pranke hielt. „Bloody Honey“ war unterhalb des Bildes zu lesen. Kevin hatte dem Monster Draculazähne in roter Farbe gemalt. Der schwarze Plastikeinband war an mehreren Stellen eingerissen.

„Wo ist die Freundin deines Vaters gerade?“, fragte der Mann, der sich auf dem Schreibtischstuhl niedergelassen hatte und seine linke Hand auf das Englischheft legte.

Kevin zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich´n das wissen?“, keifte er den Mann an. Der verdrehte nur die Augen.

„Hat sie dir nicht gesagt, wann sie nach Hause kommt?“ Die Frau verschränkte ihre Arme.

„Nein, hat sie nicht“, fauchte Kevin jetzt so aggressiv, dass seine Halsschlagadern anschwollen und sein Gesicht rot wurde. Er hatte einfach keinen Bock, irgendwelche Fragen zu beantworten. Er spürte, wie ihm plötzlich alles zu viel wurde. Am liebsten wäre er aufgesprungen und losgelaufen, wie damals nach der Schule in der vierten Klasse, nachdem sein Vater sich mit der Lehrerin unterhalten hatte! Aber diesmal wäre er nicht mehr umgekehrt, sondern bis Amerika gerannt.

„Und du? Hast du nicht versucht, sie auf dem Handy zu erreichen?“, fragte der Fettbauchige.

„Hey, bin ich die Telefonauskunft, oder was? Hab ich nichts Besseres zu tun, als der Tuss gleich Bescheid zu sagen?“, ging Kevin erneut auf.

Der Mann wanderte auf und ab, soweit man das in dem engen Raum konnte, senkte und hob den Kopf, ging schließlich vor Kevin in die Hocke und sah ihm das erste Mal an diesem Abend in die Augen. „Hör mal, Kevin, ich weiß, dass das hier alles echt beschissen ist für dich. Aber wenn du etwas kooperativer wärst, würden wir uns leichter tun.“ Ein paar der Wörter waren in einen hellen Gelbton gefärbt, aber Kevin übersah den fordernden Dunkelton darunter nicht. Wenn der Alte meinte, er könne ihn jetzt auf diese Tour ködern, hatte er sich getäuscht. Und warum ging der in die Hocke, als wäre er ein kleines Kind? Arschloch! Er drehte den Kopf zur Seite und starrte auf ein Poster, auf dem ein Gitarrist völlig in das Spiel mit seinem Instrument vertieft war.

„Was wollen sie denn noch wissen?“, brauste Kevin auf, „Es ist doch eh alles klar. Da ist einer in die Wohnung eingebrochen, um was zu stehlen. Hab ich doch schon am Telefon alles dem andern Bullen gesagt. Und dann hab ich´s den Bullen gerade eben gesagt. Muss ich das jetzt noch hundert Mal erzählen? War einfach ein Einbruch. Das passiert doch alle Tage, ist doch nichts Besonderes.“

„Nichts Besonderes?“, fragte die Frau verwundert, „Du empfindest es als nichts Besonderes, wenn dein Vater bei einem Einbruch umgebracht wird?“ Sie zog die Augenbrauen nach oben.

„Bullshit!“, zischte Kevin, „Ihr Bullen verdreht einem echt das Wort im Mund. Es ist nichts Besonderes, wenn jemand einbricht. Vor 14 Tagen haben sie zwei Häuserblocks weiter eingebrochen und vor einem Monat sind in der Mozartstraße die Buden von den Leuten leer geräumt worden.“ Der Junge hatte recht. Seit einiger Zeit hatte es in dieser Gegend tatsächlich vermehrt Einbrüche gegeben und sie hatten bisher die Einbrecher nicht schnappen können. Wahrscheinlich handelte es sich um eine gut organisierte Einbruchsgang, die genau wusste, wann sie unbeobachtet in Wohnungen eindringen konnte. Umso verwunderlicher war es, dass die Einbrecher sich hier nicht genug versichert hatten, ob zur Tatzeit in dieser Wohnung auch wirklich niemand zu Hause war. Bisher hatten die Einbruchsgeschädigten immer berichtet, dass sie außer Haus gewesen waren, wenn bei ihnen eingebrochen worden war.

„Es ist bei keinem dieser Einbrüche jemand umgebracht worden“, dachte die Polizeibeamtin laut weiter und sah Kevin skeptisch an.

„Irgendwann machen die Typen halt ´nen Fehler. Dachten wahrscheinlich, der Alte sei in der Arbeit. Aber er hat mal wieder seinen Job verloren. Haben die bestimmt nicht gewusst.“

„Dein Vater hatte wohl getrunken“, sagte der Polizist.

„Der war dauernd voll“, entgegnete Kevin abfällig.

„Besonders viel Respekt hast du ja nicht vor deinem Vater, was?“, stellte die Polizeibeamtin fest. Kevin zuckte nur mit den Schultern.

„Woher hast du den Bluterguss am Auge?“, wollte der Mann wissen und zeigte auf das blutunterlaufene rechte Auges. „Na ja, ich, ähm…“ Kevin biss sich auf die Lippen. „Na?“ Der Bulle zog die Augenbrauen nach oben. „Also der Alte hat mir vorgestern eine verpasst“, rückte Kevin schließlich mit der Wahrheit heraus. „Wir hatten Streit, kommt ja vor. Und das ist dann eben ein bisschen aus dem Ruder gelaufen.“

„Hat dein Vater sich dabei auch an der rechten Hand verletzt?“, fragte die Frau, die bei der Leiche rotblaue Verfärbungen an den Fingern festgestellt hatte. Kevin nickte: „Hat gegen die Wand gehauen!“ Er verkniff sich das schadenfrohe Grinsen, das die Erinnerung an diese Szene in ihm hervorrief.

„Kam es öfter zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen euch?“, fragte die Oberpolizeitussi und in ihrem Gesicht spiegelte sich Abscheu. Kevin hob und senkte die Schultern. „Nicht so oft, ab und zu halt“, presste er heraus. Rasch fügte er hinzu: „Falls sie jetzt meinen, ICH hätte ihn womöglich deswegen umgebracht, haben sie sich getäuscht.“

„Das wollte niemand behaupten“, sagte die Polizistin ruhig.

„Der oder die Einbrecher haben in der Küche gewütet, aber die anderen Räume haben sie in Ruhe gelassen. Seltsam!“, bemerkte der Polizist. Er richtete sich auf und ging zum Schreibtisch, der direkt vor dem einzigen Fenster in diesem Zimmer stand. Nachdenklich sah er hinaus. Der Hof, auf den das Fenster einen Blick eröffnete, war menschenleer. Nur eine Katze trieb sich herum und wirkte, als wisse sie nichts mit sich anzufangen. Sie sah eigentümlich aus. Der Polizeibeamte wusste nicht recht, ob er sie bemitleiden oder sich über ihr Aussehen amüsieren sollte. Ihr Kopf war übersät von Haaren, während der Rest des Körpers kahlgeschoren war. Erst der Schwanz ließ wieder erkennen, dass es sich offensichtlich um eine edle Angorakatze handelte. Doch der Körper mit seinem unregelmäßig geschnittenen Haar erinnerte ihn an eine Ratte.

„Wir werden auf alle Fälle der Sache nachgehen!“, erklärte die Polizeibeamtin, „Aber nun werden wir erstmal das Jugendamt verständigen und…“ Sie wurde unterbrochen durch eine aufgeregte junge Frau, die in das Zimmer hereinstürmte und rief: „Was ist hier los?“

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Vergib ihnen seine Schuld

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