Читать книгу Vergib ihnen seine Schuld - Erren Werg - Страница 6
Dienstag, 14. April 2015
Оглавление„Über 2000 Frauen wurden von Boko Haram verschleppt
Laut Amnesty International sind seit dem vergangenen Jahr in Nigeria über 2000 Mädchen und Frauen entführt worden. Sie werden zwangsverheiratet, als Sexsklavinnen gehalten oder zum bewaffneten Kampf gezwungen.“
Man müsste helfen! Man müsste den Wahnsinnigen, die in einem Menschen nichts sehen außer eine gefühllose Spielfigur, einen Riegel vorschieben!
Ich wollte doch glücklich sein. Heute wenigstens. Warum schlage ich dann die Zeitung auf? Man müsste sich das Trommelfell durchstechen und die Augen auskratzen, um nicht zu bemerken, wie es den Anderen geht. Man müsste den inneren Drang nach Gerechtigkeit ignorieren, um frei zu sein, frei zu leben.
Aber die Wahnsinnigen verhindern mein Glück und das der Anderen.
***
9.00 Uhr
„Claus Schenk Graf von Stauffenberg wollte am 20. Juli 1944 Hitler töten. Sein Versuch ist jedoch gescheitert.“ Hannes Meiner blickte auf 26 Jugendliche, von denen in dieser Minute erstaunlicher Weise kein einziger störte.
„Warum ging der Versuch schief?“, rief Lisa, ohne sich zu melden. „Nun, es sind mehrere Missgeschicke zusammengekommen, die Hitler das Leben retteten“, erklärte Meiner.
„Zum Glück hat er´s überlebt! Wäre geil, wenn der heute noch leben würde. Der würde endlich mal in diesem scheiß Staat aufräumen und nicht das ganze Flüchtlingspack reinlassen“, schrie Georg aus der hintersten Reihe vor und grinste. Er strich sich mit der Hand über die Stoppelhaare. Dann verschränkte er die Arme und legte sein Kinn darauf, als wolle er sich klein machen. „Ach halt doch dein verficktes Maul!“, brüllte Mehmed. „Verdammte Nazisau!“, keifte Iwan. Mit einem scharfen „Schluss jetzt“ brachte Meiner die Masse wieder zur Räson. Er schob rasch sachliche Erklärungen zu Lisas Frage nach: „Zum einen ist die Besprechung Stauffenbergs mit Hitler und einigen anderen um eine halbe Stunde vorverlegt worden, weil Hitler am Nachmittag Benito Mussolini empfangen wollte. Das war das erste Problem. Stauffenberg musste die Zeitzünder der beiden Sprengsätze aktivieren, die er bei sich hatte. Dazu hat es aber aufgrund der Vorverlegung des Treffens keine Gelegenheit gegeben.“
„Aber das Ding ist doch hochgegangen, hab ich gedacht“, wunderte sich Tom.
„Ja, Stauffenberg hatte eine Ausrede, um die Sprengsätze zu präparieren. Wie ich euch ja bereits erzählt habe, hatte Stauffenberg nur eine Hand, weil ihm die rechte Hand nach einer schweren Verletzung bei einem Tieffliegerangriff abgenommen werden musste. An diesem 20. Juli war es sehr heiß. Stauffenberg hat gesagt, dass er sein Hemd wechseln müsse und dazu Hilfe brauche. Also ist er zusammen mit seinem Komplizen Werner von Haeften in einen Nebenraum gegangen. Haeften hat die Sprengsätze bei sich gehabt. In dem Nebenraum haben die beiden dann diese Sprengsätze startklar gemacht. Es sind zwei Päckchen mit je einem Kilo Sprengstoff gewesen. Nachdem die beiden ein Sprengstoffpäckchen fertig präpariert hatten, wurden sie von einem Oberfeldwebel gestört. Der hat verlangt, dass Stauffenberg sich mit dem Umziehen beeilen solle. Deshalb haben Haeften und Stauffenberg das zweite Sprengstoffpäckchen nicht mehr präpariert. Und anstatt dass Stauffenberg den zweiten Sprengstoff ungeschärft zu dem ersten in die Aktentasche gelegt hat, hat er diesen Haeften gegeben. Der aber durfte nicht in den Besprechungsraum. Also hat Stauffenberg nur ein Päckchen mit sich geführt. Er hat wohl gedacht, das würde ausreichen, um die Hütte mit allen Insassen in die Luft zu jagen. Aber dem war nicht so.“
„Wenn er das zweite Päckchen mitgenommen hätte, wäre Hitler also umgekommen?“, fragte Linus interessiert nach.
„Vielleicht“, antwortete Meiner, „zumindest wäre die Detonation wesentlich stärker gewesen.“
„Und deswegen ist Hitler dann heil geblieben? Aber ein paar Leute sind doch gestorben, oder?“, meldete sich Lisa noch einmal zu Wort.
„Ja, ein paar mussten ihr Leben lassen, aber Hitler ist mit leichten Verletzungen davongekommen. Stauffenberg hatte die Aktentasche in der Nähe von Hitler hingestellt. Irgendjemand hat sie jedoch im Laufe der Besprechung an eine andere Stelle gelegt, etwas weiter weg von Hitler. Das war natürlich für Hitler gut. Das Zweite, was ihm wohl das Leben gerettet hat, war die Tatsache, dass er sich zu dem Zeitpunkt, als der Sprengstoff explodierte, dicht über einen Tisch mit einer sehr massiven Holzplatte gelehnt hat. Diese Holzplatte hat ihn geschützt. So ist er mit Prellungen, Blutergüssen und ein paar Schürfwunden davongekommen.“
„Ist ja krass“, kommentierte ein Junge aus der zweiten Reihe die Erzählung. Meiner war höchst zufrieden, dass die Schülerinnen und Schüler seinen Ausführungen so aufmerksam folgten. Er hatte sich gut vorbereitet und verstand es, Dinge spannend zu erzählen. Vielleicht war es aber auch nur die Thematik, die die Jugendlichen fesselte. Wenn Tod, Gewalt und Gefahr im Spiel waren, stieg das Interesse der meisten Menschen rapide an, egal aus welcher sozialen Schicht sie kamen oder welcher Altersgruppe sie angehörten.
„Das ist der Scheiß mit Bomben. Der Stauffenberg hätte einfach einen Prügel nehmen und dem Hitler ordentlich eins über die Rübe ziehen sollen. Da hätte ihm auch eine Hand dazu genügt“, warf Tom flapsig ein. Ein paar Jugendliche lachten, andere verdrehten die Augen. Meiner ignorierte die Bemerkung. Er hatte in all den Jahren gelernt, viele Dinge zu überhören, die seine Schützlinge von sich gaben. Anders verhielt er sich diesbezüglich im privaten Bereich. Wäre er bei Katharina ein wenig „tauber“ gewesen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Einen Augenblick schweiften seine Gedanken ab, während er auf eine Schülerarbeit an der Rückwand des Klassenzimmers starrte, die eine Art Geisterhaus zeigte. Dann aber mahnte er sich selbst, seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf die Klasse zu richten. Ein paar unaufmerksame Augenblicke konnten nämlich sehr schnell zum Chaos führen.
Meiner versuchte nun, den moralischen Aspekt von Stauffenbergs Handeln in den Mittelpunkt zu rücken: „Was würdet ihr sagen: War Stauffenberg ein Held oder ein Mörder? Hat er Recht getan, zu versuchen, Hitler umzubringen, oder nicht?“
„Ich denke schon, dass man den Typen umbringen hätte sollen.“ Mehmed suchte nach Argumenten, die seine Meinung untermauerten: „Stauffenberg hat das richtig gemacht. Er hat schließlich versucht, Schlimmeres zu vermeiden. Hitler war ein Verbrecher. Das wusste jeder normale Mensch.“ Mehmed lebte in Deutschland seit er ein Jahr alt war und sprach nahezu akzentfrei Deutsch. Er gestikulierte mit den Händen und war voll bei der Sache. „Ich meine, der Hitler hatte Tausende von Leuten auf dem Gewissen. So einer gehört doch weg! Ich würd schon sagen, dass der Stauffenberg ein Held war. Ist doch super, dass der sich getraut hat. Die anderen haben doch alle nur gekuscht und nix gesagt!“
„Ja, das finde ich auch“, stimmte Lisa zu. „Hitler hat schließlich die ganzen Juden vergasen lassen, weil er einen Hass auf sie hatte. Das ist doch Wahnsinn.“
„Hitler war durch und durch ein Vollidiot. So einen darf man töten“, fügte Kevin hinzu. „Da hat die Lisa voll recht“, sagte er und lächelte zu ihr hinüber. Lisa hörte ihm zu, sah ihn aber nicht an. Georg biss sich auf die Lippen, gab diesmal jedoch keinen Kommentar ab.
„Den hätte man sollen einsperren. Wegsperren. Basta.“ Iwan war im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern aus Polen gekommen. Sein Lieblingswort war „Basta“ und die Art und Weise, wie er das sagte, war so erheiternd, dass Meiner sich jedes Mal ein Lachen verkneifen musste. Er war ein offener, fröhlicher Kerl, der für nichts mehr schwärmen konnte als für einen saftigen Hamburger. Und wenn es dazu noch knusprige Pommes gab, war sein Glück perfekt. Entsprechend pummelig war er, aber das störte niemanden. Über ihn machte man sich deswegen nicht lustig. Über Maja schon. Sie hörte der Diskussion aufmerksam zu, trug aber nichts dazu bei. Meiner dachte wieder an das, was Eva neulich über Maja zu ihm gesagt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie recht hatte. Aber wenn doch? Er musste nochmal mit Eva und Frau Lengner darüber sprechen. Morgen am besten, heute nicht mehr. Morgen war auch noch ein Tag. Meiner konzentrierte sich wieder auf die Diskussion.
„Wie willst du wegsperren? Ist doch Blödsinn. Hat doch Leute, die ihm helfen“, sagte Dana, Iwans Landsmännin, die sich von den paar Kröten, die ihre Mutter an der Supermarktkasse und ihr Vater in der Fabrik verdienten, gerne viel zu viel Kleister für ihr Gesicht kaufte. Ihre Äußerungen klangen immer ein wenig genervt und mit ihrer Mimik verstärkte sie diesen Eindruck noch.
Lisa ergriff wieder das Wort: „Ich glaube, dass Dana recht hat. Das ist nicht so leicht, in einem Unrechtsstaat den Machthaber einzusperren. Da hilft es eigentlich nur, ihn umzubringen.“ Meiner wunderte sich einmal mehr über Lisas Wortschatz. „Unrechtsstaat“ und „Machthaber“ gehörten bei den wenigsten seiner Schützlinge zum Sprachrepertoire.
Tom verließ seine lässige „Ihr seid alle Holzköpfe und ich bin hier der Coole“-Haltung und beugte sich nach vorne, um diesmal einen qualifizierteren Beitrag als vorhin abzuliefern: „Aber in Ägypten und so, da haben sie ja auch so Hitler-Typen gehabt, und keiner hat die umgebracht. Da bei dem arabischen Sommer mein ich.“
„Arabischer Frühling“, verbesserte Meiner in gedämpfter Lautstärke.
„Das ist was anderes. Heutzutage kann das Volk sich leichter erheben. Da muss man keinen Machthaber umbringen. Das war damals viel schwerer, glaub ich“, wandte Lisa ein.
„Und Hitler war doch der Teufel, oder?! So einen wie den gab´s doch nicht mehr!“, meinte ein dunkelhaariger Junge in der dritten Reihe.
„Das glaub ich nicht, dass Hitler der schlimmste Tyrann war. Es gibt immer noch genügend Hitler-Typen. Braucht man doch bloß nach Syrien oder nach Nigeria schauen oder so. Die ganzen Terror-Milizen. Die enthaupten Leute, die überhaupt nichts getan haben. Und die entführen Mädchen aus Schulen und so. Die besetzen ganz viele Städte und töten die Menschen und machen so Kultursachen kaputt und wollen einen Staat, der voll bescheuert ist. Wenn die so viel Macht wie der Hitler hätten, wär das noch schlimmer als bei Hitler oder zumindest genauso schlimm. Schaut doch mal: Warum fliehen denn so viele Leute aus diesen Ländern und kommen zu uns?“, gab Linus seine Gedanken etwas diffus zum Besten.
Meiner nickte, unterließ es, Linus Kommentar noch etwas hinzuzufügen, und setzte einen neuen Impuls: „Was Stauffenberg getan hat, war eine Art Selbstjustiz. Ist das in Ordnung, selbst über Recht und Unrecht zu entscheiden und quasi die Todesstrafe auszuführen?“
„Nur bei bestimmten Leuten“, sagte Mehmed. „Und wenn es nicht anders geht.“
„Die Gerichte tun doch nichts, wenn einer ein Arschloch ist! Geben ein paar Jahre, tss. Manche muss man anders bestrafen“, ergänzte Kevin Mehmeds Bemerkungen, „die haben doch nichts anderes verdient.“
„Ja genau, die die wo die Kinder schlagen und die Leute umbringen und so. Die soll man auch umbringen. Basta.“ Iwan verschränkte die Arme, als wolle er damit seinen Worten Nachdruck verleihen. Er malte gerne Schwarz-Weiß und war mit seiner Urteilsbildung schnell fertig.
„Da müsste man meine Mam auch umbringen“, raunte Natalie verbittert aus der dritten Reihe. Meiners Augen verweilten kurz bei Natalie. Das Bild ihrer Mutter tauchte in seinem Gedächtnis auf - wie sie vor ihm gesessen und unentwegt auf ihr Handy gestarrt hatte, während er mit ihr gesprochen hatte. Wie sie geheult hatte, weil sie mit Natalie nicht mehr fertig wurde, und sich dabei zu ihm vorgebeugt hatte, sodass er darum gefürchtet hatte, der Stoff ihres Pullovers könne nicht mehr reichen, um ihre riesigen Brüste zu bedecken. Wie sie nach Natalies Leistungen gefragte hatte, um während der Antwort, die Meiner gab, wieder nur auf ihr Handy zu schauen, bis er sie gefragt hatte, ob sie einen wichtigen Anruf erwarten würde, woraufhin sie das Handy verschwinden lassen hatte.
„In Ländern, in denen kein ordentliches Recht wie bei uns herrscht, da ist Selbstjustiz vielleicht manchmal notwendig.“ Lisa spielte mit ihrem Bleistift, hielt aber inne, als sie ihre Überlegungen kundtat.
„In unserem Land gibt es auch für Vieles kein Recht. Zumindest nicht für Leute unter 18“, sagte Kevin. Er hatte die Ellenbogen auf seinem weißen Schülertisch aufgestützt und legte den Kopf schief. „Wenn man Eltern ist, hat man Rechte. Aber so lange man nicht 18 ist, ist man denen ausgeliefert.“ Er sah zu Natalie hinüber. Sie kleidete sich wie ein Junge und sah auch aus wie ein Junge. Ihre kurzgeschorenen Haare hatten denselben Schnitt wie Michaels, der eine Reihe vor ihr saß. Die Sweatshirts, die sie trug, verdeckten ihre wenigen weiblichen Rundungen. Sie war bleistiftdünn. Mit ihrer entschlossenen, kaltschnäuzigen, ehrlichen Art verschaffte sie sich Respekt in der Klasse.
Meiner lenkte die Gedanken der Schüler wieder zurück zu den Personen Hitler und Stauffenberg. „War Hitler der Böse und Stauffenberg der Gute? Was würdet ihr sagen?“
„Hitler war der Gute!“, mühte sich Georg noch einmal um einen Beitrag.
„Blödsinn! Du hast doch ´nen Vollschatten“, schnauzte Kevin den hinter ihm sitzenden Klassenkameraden an. Einige andere Mitschüler stimmten ihm zu.
Diesmal reagierte Meiner auf Georgs Aussage, wobei er sich unsicher war, ob das tatsächlich zielführend war: „Hitler hat sich selbst wohl als Guten gesehen. Sein Ziel war es, sein Volk zu Ruhm und Ehre zu führen.“
„Genau!“, brüllte Georg und hob die rechte Hand, um einen Hitlergruß anzudeuten.
„Hat aber Menschen umgebracht. Das ist nicht gut. Der war ein Volltrottel“, meinte Dana. Sie strich sich mit ihren schmalen Fingern vorsichtig eine blonde Locke aus dem Gesicht.
Meiner trieb die Klasse noch ein wenig weiter in die Verteidigungsposition. „Hitler hat nur alle angeblichen Feinde umgebracht.“
„Ist doch Blödsinn. Juden waren nicht Feinde. Er hat trotzdem umgebracht. Das ist nicht Recht. Basta.“ Iwan verschränkte die Arme und sah grimmig drein.
„Was sagst du dazu?“, fragte Meiner nun Georg.
Der spielte mit einem Stift und raunte: „Die Juden haben ´n Haufen Scheiß früher gemacht.“
„Zum Beispiel?“, fragte Meiner nach.
„Die Leute übers Ohr gehaun“, erklärte Georg mürrisch. Sein zartes Jungengesicht färbte sich wieder rot.
„Das war jedenfalls die Sichtweise vieler Menschen. Kannst du es genauer ausführen?“ Meiner spürte, dass es ihm gerade Freude bereitete, Georg vorzuführen.
„Halt auch. Die haben halt die Leute betrogen.“ Weiter kam Georg nicht mit seiner Argumentation. Er stöpselte noch ein paar Wörter zusammen, dann schwieg er.
„Ich denke, wir sollten uns das in den nächsten Stunden einmal genauer ansehen, um das jüdische Volk und vielleicht auch das deutsche Volk zu jener Zeit besser zu verstehen.“ Georg machte einen Rundrücken und vermied es, Meiner anzusehen.
„Wollen Sie damit sagen, dass es richtig war, die Juden umzubringen, weil sie vielleicht irgendwann in der Geschichte mal Unrecht getan haben?“, echauffierte sich nun Lisa. Maja sah sie mit nach vorne hängenden Schultern an und dachte über Lisas vollen straffen Busen nach.
„Um Gottes Willen, nein!“, verteidigte sich Meiner sofort. Am Ende behauptete noch jemand, er sei ein Rechtsradikaler, so etwas ging schnell! „Aus meiner Sicht war es natürlich ein höchst verwerfliches Verbrechen. Aber trotzdem ist es wichtig, nachzuvollziehen, wie es zu so extremen Reaktionen kommen konnte. Schließlich hat Hitler kaum jemand gestoppt, er ist also sicher nicht der allein Schuldige. Jedem Verbrechen geht etwas voraus, das betrachtet werden muss, um Verbrechen zu verstehen und vielleicht dadurch neue Ungerechtigkeit zu vermeiden.“ Er machte eine kurze Pause und sah von einem Schüler zum anderen, wobei er bemerkte, dass seine letzten beiden Sätze Unverständnis ausgelöst hatten. Trotzdem fuhr er mit seiner Rede fort: „Gleichzeitig aber ist es sehr schwer, das Gute und das Böse vollends zu fassen. Wir müssen uns sicher immer wieder drum mühen, verschiedene Perspektiven zu betrachten und zu verstehen.“ Meiner hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gesprochen, als der Gong die Stunde beendete und die Klasse wie auf Kommando anfing, in den Taschen zu kramen, zu reden oder aufzustehen.
***
18.00 Uhr
Kevin nahm zunächst keine Notiz von seinem Vater, der mit einer Flasche Bier in der Hand ins Wohnzimmer wankte. Erst als er die Fernbedinung in die Hand nahm und die Soap, die Kevin seit einer halben Stunde verfolgte, wegschaltete, richtete sich der Junge abrupt auf und protestierte lautstark. „Was soll das denn jetzt?!“, fauchte er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Diesen Blödsinn brauchste nicht anschaun!“, zischte Ralph Jerris, warf die Fernbedienung auf den abgenutzten Holztisch zurück und ließ sich in den Fernsehsessel plumpsen. Augenblicklich schnappte sich Kevin wieder das kleine schwarze Kästchen und drückte auf die Nummer 7. Dreißig Sekunden lang verfolgte Ralph Jerris kommentarlos die Soap und trank dabei ein paar Schluck Bier. „So ein Scheiß!“, zischte er schließlich ein paarmal hintereinander. Kevin stöhnte: „Ist doch eh gleich aus. Kannst du so lange die Klappe halten?!“ Ralph ballte seine rechte Hand zu einer Faust: „He, he, he, du hast mir verdammt nochmal nicht zu sagen, was ich tun soll oder nicht. Und du bestimmst hier auch nicht das Fernsehprogramm, dazu würd´s noch kommen! Die Kacke schaun wir auf jeden Fall nich an! Schalt jetzt um und zwar avanti!“ Er rülpste laut, erhob sich aus seinem Sessel und meckerte weiter: „Du hast doch bestimmt deine verdammten Hausaufgaben noch nicht mal gemacht, oder? Also verzieh dich!“ Kevin verdrehte die Augen: „Mann, jetzt lass mich gefälligst in Ruh. Ich mach schon noch das Zeug. Zehn Minuten dauert die Sendung noch.“ Der Vater riss die Hand abrupt nach oben. „Zehn Minuten? Du schaust doch dauernd in den scheiß Kasten oder in dein Handy oder deinen PC oder sonstwas rein! Mach jetzt Hausaufgaben, sonst schaffst du nie ´nen Abschluss oder du bleibst nochmal sitzen! Das wär ja wohl kacke, was! Hast bestimmt den ganzen Tag wieder rumgelungert. Du bist so ein fauler Sack! Und ´nen Computer hast du außerdem auch, mit dem du deinen Mist anschaun kannst. Häng doch damit rum und lass mir den Fernseher! Normal ist dir doch dein Computerscheiß eh lieber!“, lallte der Vater und stellte die halb leere Bierflasche auf den niedrigen Wohnzimmerholztisch.
„Ich schau das jetzt fertig an. Hab doch gesagt, dass es eh gleich aus ist“, keifte Kevin.
„Das ist mir scheißegal!“, schrie der Vater, packte die Fernbedienung, ließ sich wieder in den Sessel plumpsen und schaltete zu einer Sportsendung um. Aber während Kevin sich sonst meist verzog, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, gab er jetzt nicht klein bei. Nachdem der Vater die Fernbedienung wieder auf den Tisch gelegt hatte, schnappte Kevin sie sich erneut, um sich die Vorabendserie weiter anzusehen. „Spinnst du?!“, brüllte der Vater und erhob sich abermals.
Der Konflikt schaukelte sich mehr und mehr hoch. Beide standen jetzt in dem kleinen Wohnzimmer neben der abgesessenen Couch und stierten einander wütend an. „Verdammtes Arschloch!“, fluchte Kevins Vater. „Hurensohn! Vollidiot! Schmarotzer! Du wirst es nie zu was bringen, wenn du nicht mal deine Hausaufgaben machst! Ich werd dir zeigen, was passiert, wenn du immer deinen Schädel durchsetzen willst!“ Er stürzte im nächsten Moment auf seinen Sohn zu, um ihm mit der geballten Faust ins Gesicht zu schlagen. Kevin drehte sich blitzschnell zur Seite. Die Faust des Vaters knallte gegen die Wand. Der Vater schrie auf vor Schmerz. Er hielt sich die verletzte Hand. „Verdammtes Arschloch!“, fluchte er abermals. Er wiederholte fünfmal das Wort „Arschloch“. Sechsmal. Siebenmal. Er brüllte: „Nur herumtreiben! Und abends anschaffen, was im Kasten laufen soll! Ich hab dir diesen scheiß Computer gekauft, hab mich für dich abgeschuftet!“ Er hob einen Schuh vom Boden auf und schleuderte ihn seinem in die Küche fliehenden Sohn nach. Kevin knallte die Küchentür zu und murmelte dabei: „Wer sich da den ganzen Nachmittag ´rumgetrieben hat!“ Mit aller Kraft drückte er die Türe zu. „Mach auf, du Dreckskerl!“, brüllte der Vater. Er warf sich gegen die Türe. Aber Kevin schaffte es, diese zuzuhalten. Für einen Moment war er selbst erstaunt darüber, dass er inzwischen offensichtlich genug Kräfte besaß, um dem Vater nicht sofort unterlegen zu sein. Das war die Chance! Zu lange hatte er sich geduckt. Zu oft hatte er geschwiegen. Zu viel hatte er erduldet. Zu häufig hatte er in seinem Zimmer geweint, wie das ein kleiner, dummer Junge tat. Ein kleiner, feiger, dummer Junge!
Kevin wischte sich trotzig mit dem Unterarm über die Augen. Nein, er war kein kleiner, dummer Junge mehr. Keine einzige Minute länger wollte er ein kleiner, dummer Junge sein. Keine einzige Träne wollte er mehr vergießen. Früher war es Angst gewesen. Jetzt war es Wut. Wut war besser. Sie hatte Kraft in sich. „Fick dich doch ins Knie, Alter!“, fluchte er. Dann schlug er mit der flachen Hand gegen die Tür. Der Vater trat einen Schritt zurück. Kevin runzelte die Stirn. Hatte sich sein Vater zurückgezogen? „Ja, lass mich in Ruh! Lass mich verdammt nochmal in Ruhe!“, keifte Kevin und merkte plötzlich, wie die erste Träne aus seinen Augen lief. Verflixt! Wie er das hasste! Es war wie bei einem Weib! Wie bei seiner Mutter, wenn sie wieder mal die Arschkarte gezogen hatte! Wütend wischte er sich das Wasser aus den Augen und zog den Rotz nach oben. „Scheiße, scheiße, scheiße!“, fluchte er und presste die Augenlider zusammen. Dann spannte er die Arme an, die Beine, den ganzen Körper. Einige Sekunden war es ruhig, dann flogen ein paar Gegenstände gegen die Türe. Manche knallten dumpf dagegen, bei anderen gab es ein Rascheln, Klirren oder Klimpern. Schließlich war es wieder still. Verdächtig still. Kevins Herz klopfte bis zum Hals. Wieder und wieder wischte er Tränen aus den Augen. Wie er ihn hasste! Wenn doch nur er an jenem 16. April vor mittlerweile drei Jahren gestorben wäre!
Minuten lang stand Kevin mit angespanntem Körper gegen die Tür gelehnt. Wenn es so still war, hatte er als Junge immer am meisten Angst gehabt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Es waren die Minuten, in denen sein Vater etwas ausheckte.
Kevin horchte, vernahm aber nur das Ticken der Uhr über der Küchentüre. Tick-tick-tick – im gleichen Schlag ging es so seit Jahren. Die Uhr war zu laut. Viel zu laut!
Seine Tränen wurden weniger. Dafür pochte es in seinem Kopf und auch sein Herz raste immer schneller. Schließlich war das Öffnen der Schlafzimmertüre zu vernehmen. Sie quietschte immer ein bisschen, solange Kevin denken konnte. Niemand gab den Scharnieren Öl und so hatte das Quietschen auch nie aufgehört. War sein Vater ins Bett gegangen?
Es hatte Tage gegeben, an denen er einfach mit der Tyrannei aufgehört und seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Am nächsten Tag war dann alles ein wenig besser gewesen. Manchmal – wenn sie Glück hatten – war er nach der Arbeit und dem Essen auch gleich ins Bett gegangen, ehe er zu trinken angefangen hatte. Das waren die besten Tage gewesen. Manchmal war er aber nach dem Essen nochmal auf Sauftour mit seinen Kumpels aus der Fabrik gegangen – das waren die schlimmsten Tage oder vielmehr Nächte gewesen. Vielleicht waren sie deshalb so schlimm gewesen, weil Kevin aus irgendeinem Traum, der ihn weit weg getragen hatte, zurück in die Realität gerissen worden war. Dann hatte ihn ein Schrei des Vaters, der Mutter oder beider geweckt. Und sein Herz hatte so schnell zu schlagen begonnen wie gerade eben.
Kevin entspannte sich ein wenig, als er das Türenquietschen hörte – das war der Fehler. Sich zu entspannen war schon immer ein Fehler gewesen. Das hätte er eigentlich wissen müssen. Wenn er dachte, er könne ein wenig locker lassen, waren Angriff und Niederlage umso bitterer gewesen. Deshalb hieß es auf der Hut sein. Am besten Tag und Nacht.
Der Vater hatte wahrscheinlich Anlauf genommen. Jedenfalls knallte er mit gewaltiger Wucht gegen die Küchentüre. Kevin wurde zurückgeschoben bis an die Wand. Mit dem Kopf stieß er gegen die Mauer. Doch er registrierte diesen Schmerz kaum. Rasch kam er hinter der Tür hervor. Vater und Sohn standen sich jetzt heftig atmend gegenüber. „Vater unser“ hatte Kevin als Kind oft mit der Mutter am Abend gebetet. Aber der Vater im Himmel ließ sie genauso im Stich wie der Vater aus Fleisch und Blut hier auf Erden. „Der Vater im Himmel hat dich lieb“, hatte die Mutter ihm als Kind immer weiß machen wollen. Doch spätestens als der Vater auf Erden die Mutter während des Gebets an den Haaren vom Schlafzimmer in die Küche gezogen hatte, damit sie ihm etwas zu essen bereitete, hatte er aufgehört, an den lieben Vater im Himmel zu glauben.
Vater und Sohn hatten nun die Hände geöffnet, die Arme leicht vom Körper abgespreizt, den Oberkörper nach vorne gebeugt und die Beine breit auseinander gestellt. Wie bei einem Ringkampf standen sie einander gegenüber, so als würden sie nur darauf warten, dass jemand das Zeichen zur ersten Runde gab. Der Vater wirkte immer noch ein wenig kräftiger als er. Aber Kevin war im letzten Jahr sehr gewachsen und überragte ihn inzwischen um ein paar Zentimeter. Außerdem war er schließlich ein Stück jünger als der Vater. Vielleicht konnte er sich doch etwas schneller bewegen als er. In den letzten Wochen hatte er viel trainiert. Von Iwan hatte er sich ein paar Karategriffe zeigen lassen. Mit Michael war er ein paar Mal ins Judo-Training gegangen.
Die Wut kam wieder. Gut so. Kevin fielen plötzlich die kleinen Falten im Gesicht des Vaters auf. Auf der Stirn. Um die Augen herum. An der Lippe. Überall. Die Wut hatte Kraft in sich, die er in seinen Fäusten spürte. Zuschlagen, sagte sie. Koste es, was es wolle. Und wenn er dabei draufging! Scheißegal.
„Wenn ich ein Arschloch bin, dann passen wir ja zusammen!“, wagte Kevin jetzt zu sagen. Dabei ahnte er, welche Folgen diese Rebellion haben würde. Aber er konnte nicht mehr den Mund halten wie all die Jahre zuvor. Im nächsten Moment landete die Faust des Vaters unterhalb seines rechten Auges.
„Was soll das werden?“, fragte da plötzlich eine weibliche Stimme scharf.
***