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Freitag, 17. April 2015

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Sexuelle Übergriffe in Flüchtlingsunterkünften

In der Bayernkaserne sollen sexuelle Übergriffe auf Frauen und Mädchen durch Aufseher und Flüchtlinge an der Tagesordnung sein. Die betroffenen Frauen und Mädchen erstatten aber kaum Anzeige aus Angst.“


Man rechnet nicht mit Ausschreitungen wie diesen. Sie sind zu schwer, um sie ertragen zu können. Sie sind ein Damm im Fluss, der alles staut, alles aufhält, alles ins Stocken geraten lässt. Eben noch war alles geflossen, hatte sich elegant im vorgegebenen Flussbett bewegt. Im Licht der Sonne hatte alles geglänzt und geglitzert. Niemand sah die Tiefe und dass es dort unten kalte Strömungen gab. Man dachte, man könne sie mit dem Glitzern überdecken, könne an der Oberfläche entlangschwimmen, wenn man nur den Kopf hoch genug hielt. Aber irgendetwas zog einen dann doch nach unten, ließ einen abtauchen in die Tiefen. Und es war verdammt kalt dort unten.

***

16. 30 Uhr

Der Kühlschrank offenbarte einige Flaschen Bier, eine Unmenge angebrochener Soßen, ausgetrockneten Hartkäse, ein paar Scheiben Salami, drei verschrumpelte Karotten und Erdnussbutter. Sie musste morgen unbedingt für das Wochenende einkaufen. Oder sie würde Kevin zum Einkaufen schicken. Krampfhaft versuchte sie, an Alltagsdinge zu denken: Wäsche waschen, kochen, bügeln, einkaufen. Den Faden wieder finden nach einem Ereignis, das sie aus der Bahn geworfen hatte. Nach einem Ereignis? Nach einer Kette von Ereignissen! Kevin und sie hatten gestern beide lange mit den Bullen und mit einer Dame vom Jugendamt diskutiert und verhandelt, bis sie schließlich durchsetzen hatten können, dass Kevin trotz ungeklärter Vormundschaft nicht einstweilen zu Pflegeeltern kam, sondern in der Wohnung bleiben durfte, deren Miete inzwischen ja auch Asha mitbezahlte. Er war ihr gestern dankbar dafür gewesen, auch wenn er es nicht direkt geäußert hatte. Aber er hatte sie wahrgenommen, mit ihr geredet, ihr vielleicht das erste Mal, seit sie in sein Leben getreten war, ein warmherziges Lächeln zugeworfen. Irgendwann waren die Bullen dann weg gewesen, Asha hatte sich in das Schlafzimmer zurückgezogen und er in sein Zimmer. Erst jetzt, fast 24 Stunden nachdem der Mord offenbar passiert war, redeten sie wieder miteinander. Aber beide waren unsicher, wie sie in dieser veränderten Situation miteinander umgehen sollten.

In der Gefriertruhe fand Asha ein halbes Dutzend Tiefkühlpizzen, von denen sie eine herausnahm. Sie fragte Kevin, der mit Kopfhörern auf seinem Bett lag und die Wand anstarrte, ob er auch eine wolle. Kevin reagierte nicht, was angesichts der Lautstärke, mit der er sich zudröhnte, kein Wunder war. Asha zog ihm unsanft die Stöpsel aus dem Ohr.

„Ob du eine Pizza willst, hab ich dich gefragt!“, brüllte sie. Kevin antwortete genervt: „Meinetwegen!“

Eine halbe Stunde später saßen sie am Küchentisch und jeder kaute auf einem Stück Pizza herum. Schmatzgeräusche und das Ticken der Uhr über der Küchentüre erfüllten den Raum.

„Hast du ihn umgebracht?“, unterbrach Asha unvermittelt das gleichmäßige Geräusch des Zeitanzeigers an der Wand.

Kevin reagierte erwartungsgemäß gereizt. „Spinnst du? Warum sollte ich den Alten umbringen? Ein Einbrecher war hier, hab ich doch gesagt! Das ganze Geld is auch weg und du redest so eine Kotze.“

„Na ja, hätte ja sein können. Besonders gut habt ihr euch ja nie verstanden.“ Asha fuhr mit den Fingern durch ihr langes wasserstoffblondes Haar. Sie hatte es gefärbt, weil Ralph das gefallen hatte. Sie hatte außerdem ihre Fingernägel rot lackiert und am rechten Schneidezahn blitzte eine Edelsteinimitation dem Betrachter entgegen. Er hatte gesagt, dass ihn rote Fingernägel anmachen würden und den Stein für ihre Zähne hatte er auch spendiert. Sie hatte mit innerem Widerwillen sich einem Wunsch nach dem anderen gebeugt. Einmal mehr verachtete sie sich für ihre Naivität. „Und besonders traurig bist du auch nicht über seinen Tod“, sagte sie leise.

„Was geht das dich an?“ Missmutig biss Kevin ein viel zu großes Stück von der Pizza ab und half mit der linken Hand nach, damit er es vollständig in den Mund brachte. Dann kaute er es mit offenem Mund.

„Du isst wie ein Schwein!“, murmelte Asha und schüttelte den Kopf. Ralphs Sohn verdrehte die Augen und mampfte weiter. Asha wischte sich eine Wimper aus dem Gesicht und biss ein kleines Stück von ihrer Pizza ab. Sie fühlte sich unwohl.

„Der Alte is mit nem Hammer erschlagen worden. Pa hat dein Bild aufgehängt. Das mit den Katzen. Weißt du ja. Und die Einbrecher haben eben den Hammer gesehen und zack! Aber das hab ich dir doch eh schon erzählt“, sagte Kevin, als er nur noch so viel im Mund hatte, dass er gleichzeitig essen und reden konnte.

„Warum haben sie nur das Geld mitgenommen, hm?“, fragte sie und fügte dann etwas leiser hinzu, „Und meinen Schmuck haben sie dagelassen und die Computer und überhaupt alles andere.“ Sie rieb sich die Hände.

„Was weiß denn ich! Vielleicht hat sie irgendwas aufgeschreckt und sie mussten schnell fliehen. Bei dem Einbruch vor zwei Wochen haben sie auch nur Bargeld mitgenommen, hat´s geheißen. Wer will schon das Glitzerzeug. Nur Bares ist Wahres“, sagte Kevin flapsig.

„600 Euro waren in dem Kästchen – ist nicht so wahnsinnig viel, oder?“ Die junge Frau stand mit gerunzelter Stirn auf, schob mit der rechten Hand ihren Minirock ein wenig nach unten und sah sich in der Küche um. „Ich hab Durst. Wärst du so lieb und würdest mir eine Limo holen?“, fragte sie und bemühte sich um ein Lächeln.

„Wärst du so lieb und würdest mir eine Limo holen?“, äffte Kevin Asha nach und konnte ihre plötzliche Liebenswürdigkeit nicht nachvollziehen. „Du kannst auch normal mit mir reden. Ich bin nicht mein Alter. Und ich will auch nicht mit dir in die Kiste hüpfen. Also warum soll ich dir ´ne Limo holen?“ Er sah Asha provokant an.

Asha zog die Augenbrauen hoch und seufzte: „Vielleicht einfach nur, weil´s nett wäre.“ Ihr Deutsch wies einen besonderen Akzent auf. Zwar lebte sie in Deutschland, seit sie ein Jahr alt war, aber ihre Eltern stammten nicht von hier und hatten früher nur wenig Deutsch mit ihr geredet, sodass sie sich eine andere Sprachfärbung angewohnt hatte, obwohl die Pflegeeltern ein nahezu perfektes Schriftdeutsch gesprochen hatten.

Kevin murrte, stand aber dann doch auf und kam mit einer Zitronenlimonade in der Hand zurück. Asha kratzte sich am Kopf, als er die Flasche auf den Tisch stellte. Ihr rechter Oberarm wurde dabei auf der Innenseite sichtbar. Kevin bemerkte das große Pflaster dort. „Hast du dir wehgetan?“ Asha verschränkte rasch die Arme. „Eine kleine Brandwunde. Habe vorgestern was aus dem Ofen geholt und nicht aufgepasst. Da hab ich mich verletzt.“ Auf der Innenseite des Oberarms? Kevin runzelte die Stirn.

„Na, dann ist es ja gut!“, sagte er, „Ich dachte schon, mein Alter hätte vielleicht seine Zigarette auf deinem Arm ausgedrückt.“ Er grinste fies. Asha wich seinem Blick aus und holte ein Glas aus dem Küchenschrank, aber Kevin war das Zucken ihres Körpers nicht entgangen.

„Möchtest du auch ein Glas Limo?“, fragte sie mit dem Rücken zu ihm gewandt.

„Glas kannste dir sparen. Hab schon getrunken“, sagte Kevin und setzte die Flasche Limo vom Mund ab.

Asha drehte sich um und zog die Augenbrauen nach oben. „Mann, Junge, du hast echt null Manieren“, seufzte sie.

„Kann doch dir egal sein. Bist nicht meine Mutter“, maulte Kevin. Er sah den kurzen Film von ihr wieder vor sich. Sie war ein Flittchen, das sich filmen ließ ... scheiß Hurenweib. Gestern hatte er das verdrängt und er hatte sie sogar ein Stück weit dafür bewundert, wie sie den Bullen und der Tuss vom Jugendamt Paroli geboten hatte. Das hätte seine Mutter nicht geschafft. Niemals. Aber jetzt dachte er wieder an Ashas verficktes Gesicht, als er es ihr auf diese abartige Weise besorgt hatte. So hätte seine Mutter sich niemals aufgeführt. Er schluckte. Verdammte Schnalle!

Asha schenkte sich etwas aus der Flasche ins Glas und trank dieses in einem Zug leer. Dann wandte sie sich Kevin zu: „Gehst du am Montag wieder in Schule?“

„Den Teufel wird ich tun. Ein Tag muss ja wohl schon noch drin sein, wenn der Alte schon abgekratzt ist. Das reicht, wenn ich am Dienstag gehe. Oder vielleicht auch erst am Mittwoch, mal sehn.“ Er fuhr sich mit der rechten Hand über das Tattoo auf dem linken Unterarm. Es war ein Totenkopf mit einer Zigarre im Mund. Kevin hatte sich das Bild am Tag nach seinem 13. Geburtstag eintätowieren lassen. Es war nicht schwer gewesen, den Tätowierer zu überreden, die Aktion auch ohne Einverständnis der Eltern durchzuführen. Eine Weile hatte er es geschafft, das Tattoo vor den Eltern verborgen zu halten. Dann hatte es der Vater doch eines Abends entdeckt, war erwartungsgemäß ausgetickt, hatte seine Aggression aber mehr gegen Kevins Mutter, der er vorwarf, dass sie dies nicht zu vermeiden gewusst hatte, gerichtet. Kevin hatte sich ziemlich mies an jenem Abend gefühlt, nachdem die Mutter kommentarlos die Schläge des Vaters hingenommen hatte, die eigentlich Kevin hätten gelten müssen.

„Du solltest nicht so reden über deinen Vater“, schimpfte Asha jetzt. Die vulgäre Ausdrucksweise widerstrebte ihr, auch wenn sie Kevins Wut gegenüber dem Vater inzwischen nachvollziehen konnte.

„Wieso? Ich sag doch nur, dass er abgekratzt ist“, spottete Kevin und legte noch eins nach, „Mein Erzeuger ist Hops gegangen.“

„So soll man nicht über Tote reden“, sagte Asha. „Man muss Respekt vor dem Tod haben.“ Ihre Pflegemutter hatte sie immer gelehrt, nichts Schlechtes über Verstorbene zu sagen, selbst wenn sie im Leben noch so furchtbar gewesen waren. Das hatte sich bei Asha eingeprägt, wie so Vieles, das die Pflegemutter ihr beigebracht hatte. Das Bild der leiblichen Eltern verblasste mit den Jahren und wenngleich sie auch diese positiv in Erinnerung behielt, wurden die Pflegeeltern mehr und mehr zu ihren „richtigen“ Eltern. Sie waren das, was man unter „einfachen braven Leuten“ verstand, die keinem etwas Böses wollten und den Menschen mit sehr viel Geduld und Liebe begegneten. Vater und Mutter – wie sie ihre Pflegeeltern mit der Zeit nannte – gehörten zu den großherzigsten Menschen, die Asha je kennengelernt hatte. Manchmal war ihre Gutmütigkeit wohl etwas zu weit gegangen und war von dem einen oder anderen als Einladung verstanden worden, sie auszunutzen. In der Regel aber hatte ihnen ihr freundliches offenes Wesen viel Respekt und Sympathie eingebracht. Vor allem für Asha waren sie bis heute ein Vorbild.

„Ach ja?“, sagte Kevin nun abschätzig und verdrehte die Augen angesichts der antiquierten Meinung Ashas. Missmutig kaute er an seinem Stück Pizza herum. Mit halbvollem Mund sagte er: „Du bist ja auch nicht grad totunglücklich vor Trauer, oder?“ Asha tat, als hätte er nichts gesagt und schob sich ein weiteres Stück ihrer Pizza in den Mund. „Vielleicht kommt sein Abgang dir grade recht. Eine Weile konnte sich der Alte ja immer ganz gut von seiner besten Seite zeigen. Hat genug Typen mit seiner schmierigen Freundlichkeit getäuscht – vor allem Weiber, die er ins Bett kriegen wollte.“ Er grinste sie herablassend an. Dann beugte er sich zu ihr vor und stichelte: „Aber allmählich wurde er doch grob, oder? Hab ich recht?“

Sein Vater hatte gleich nach Mutters Tod eine Tussi gehabt – ein halbes Jahr lang, dann war sie eingezogen. Nach einer Woche war sie wieder ausgezogen – gerade noch im richtigen Moment. Dann hatte er ein paar Tanten am Laufen gehabt, die so schnell gingen wie sie kamen. Und schließlich hatte er sich Asha geschnappt. Mit seinem Aussehen und seinem Eroberungsgehabe fiel es ihm nicht sonderlich schwer, die Flittchen rumzukriegen. Seit Mutter tot war, zog die Mitleidstour auch ganz gut. Armer verwitweter alleinerziehender Familienvater. Das wirkte bei den Frauen. Kevin war sich aber auch sicher, dass er immer mal wieder eine nebenher gehabt hatte als Mutter noch gelebt hatte.

„Unsinn. Wir haben uns gut verstanden. Er war in letzter Zeit ein bisschen genervt, weil er den Job verloren hat. Und du hast ihn auch nicht gerade glücklich gemacht“, entgegnete sie gereizt. Sie bemerkte, wie sie ihre Verbitterung über Ralph auf den Jungen übertrug. Das musste sie sein lassen!

„Schon klar“, sagte Kevin brummig. Er hustete, räusperte sich und murmelte dann: „Hat mir ja oft genug gesagt, dass er mich eigentlich nicht haben wollte.“

„Das hat er sicher nicht böse gemeint. Aber wer möchte schon mit zwanzig Jahren Vater werden. Das musst du verstehen, oder? Immerhin hat er deine Mutter damals geheiratet und sich nicht aus dem Staub gemacht.“ Es war besser, wenn Kevin ein gutes Bild von seinem Vater hatte. Egal was Asha selbst über Ralph Jerris inzwischen dachte, sie hielt es für richtig, Kevin deutlich zu machen, weshalb sein Vater vielleicht so war, wie er eben war. „Toll“, brummte Kevin. „Er hat oft zu mir gesagt, dass er dich mag“, mühte sich Asha um passende Worte. Sie versuchte zu lächeln, aber es wirkte gekünstelt. „Hat er das?“, fragte Kevin ernsthaft erstaunt. Er suchte die Momente in seinem Gedächtnis, in denen er das Gefühl gehabt hatte, sein Erzeuger würde ihn mögen. Tatsächlich fand er sie auch: Er erinnerte sich daran, wie der Vater ihn als kleinen Knirps ein paar Mal mit in ein Fußballspiel genommen hatte. Damals war ihm der Vater noch groß und stark vorgekommen und er hatte gedacht, dass alle Väter so wären wie sein Vater. Im Stadion hatte er neben ihm Platz nehmen dürfen und immer wenn ihr Verein ein Tor geschossen hatte, waren sie miteinander aufgesprungen und hatten sich gefreut. Und wenn die gegnerische Mannschaft ein Tor geschossen hatte, waren sie aufgesprungen und hatten „Arschficker“, „Hurensöhne“ oder „Volltrottel“ gerufen. In der Pause war der Vater mit ihm zu einer der Buden gegangen und hatte ihm eine Wurst und Limo gekauft.

Und dann erinnerte er sich noch an einen Ausflug zusammen mit beiden Eltern. Sie waren gemeinsam in den Zoo gefahren. Kevin wusste sogar noch, welches Kleid die Mutter getragen hatte. Es war himmelblau gewesen, hatte ihr bis zu den Knien gereicht und vorne Knöpfe gehabt. An diesem Tag hatte er seine Eltern wunderhübsch gefunden. Zu dritt waren sie durch den Zoo gewandert, nur sie drei! Bei den Eisbären hatten sie eine Ewigkeit verbracht. Und Vater war nicht einmal ungeduldig geworden, als er ihn gefragt hatte, warum Eisbären nicht so weiß wie Schnee, sondern eher beige waren und ob sie Menschen mit nur fünf Bissen auffressen konnten. An diese beiden Fragen konnte sich Kevin heute noch erinnern, weil der Vater sich um Antworten bemüht hatte und weil er behauptet hatte, dass Eisbären viele Bisse machen müssten, um einen zu fressen, ein Wal einen Menschen aber in einem Stück hinunterschlingen konnte.

„Glaubst du, dass ein Wal einen Menschen in einem Stück hinunterschlingen kann?“, fragte er jetzt Asha prompt, die ihn daraufhin verblüfft ansah.

„Wieso?“

„Halt so.“

„Wale fressen keine Menschen. Haie fressen Menschen.“

„Killerwale fressen schon Menschen“, behauptete Kevin. Aber ganz sicher war er sich nicht.

Asha stellte die leeren Teller aufeinander. „Killerwale sind doch so schwarz und weiß, oder?“ Kevin nickte.

„Die gibt es doch auch in Amerika, in diesem Sea World, oder?“, fragte Asha, „Aber da fressen sie keine Menschen.“

„Hm“, brummte Kevin nur, stand auf und ging in sein Zimmer, ohne ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln. Asha sah ihm nachdenklich nach.

***


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