Читать книгу Paracelsus - Erwin Guido Kolbenheyer - Страница 10
Der Wurm im Holz
ОглавлениеDas Ochsnerhaus kam lange nicht zum Frieden. Rudi und Hans arbeiteten mit Marx dem Knechte in anderthalben Tagwerken auf den Feldern und Wiesen, um den Ertrag einzubringen, ehe der Reif sank. Die beiden Frauen setzten das verstaute Hauswesen in seinen Stand und reinigten es von der Verwüstung, die nach den Fremden zurückgeblieben war. Wochen hindurch fiel kaum ein Wort, wenn sie um die Abendschüssel versammelt saßen. Sie ruhten erschöpft mit Brust und Ellbogen an der gescheuerten Tischplatte und schliefen beinahe ein unterm Kauen.
In den letzten Erntetagen befiel die sechs Kühe das Maulweh. Der Notstall mußte wieder aufgerichtet werden, daß Schwein und Schaf nicht gefährdet seien. Die kranken Tiere standen fiebernd an der vollen Raufe, aus ihren Mäulern troff der zähe Schleim, über den Hufrändern begann die entzündete Haut zu schwellen. Am zweiten Tage lagen die Kühe, ihre Milch war versiegt. Herr Wilhelm kochte eine Salbe und trug sie dem alten Ochsner an. Der nahm den Tiegel, und Bombast erinnerte sich der Stunde, da er um Eis Ochsnerin gefreit hatte. Rudi Ochsner machte breitspurige Sprüche, ließ verzweifelt den Kopf hängen, während seine Augen zu entwischen suchten. Der Viehhalter von Einsiedeln war bereits bei den Kühen gewesen und hatte ihnen faustgroße Brotknödel, in die ein Purgativ verknetet war, durch den Schlund geschoben. Und es stand noch die alte Bärbi Schannetin für den Abend zu erwarten: sie hatte dem Klaus Weßner drei dämpfige Pferde heilgeschworen. Rudi Ochsner hätte jeden Trunk seines Schwiegersohnes unbedenklich eingenommen, aber das Vieh bedurfte anderer Künste, als auf hohen Schulen gelehrt wurden. Der Mensch konnte reden und deuten, so war sein Teufel bald beim Schwanz gepackt. Das Vieh litt und schwieg; dafür mußte einer die höheren Weihen besitzen. Rudi Ochsner entleerte den Tiegel heimlich im Schweinstrog, denn er hatte bemerkt, daß Bombast viel Schmalz an die Salbe gewendet hatte, und das Schmalz reute ihn. Die Schweine fraßen die Salbe und blieben am Leben. Nachdem Bärbi Schannetin jeder Kuh ein Kräutlein hinter die geschwollenen Lefzen gesteckt hatte und ihrer Zeichen und Sprüche ledig geworden war, besserte sich die Seuche im Ochsnerhause. Schon rieb Rudi Ochsner vergnügt seine Kinnstoppeln und lobte die Salbe des Schwiegersohnes, da brachen zwei Kühe plötzlich zusammen und waren verendet. Die andern kamen davon. Beinahe der ganze Gewinn der Engelweihe wurde zuschanden.
Etliche Wochen später brachte der Hans heim: das Maulweh habe seinen Weg über Uzach und Lachen nach Einsiedeln und längs des Sees weiter genommen. Man erinnerte sich eines Pilgers, dem ein schwarzer Hund gefolgt war. Überall wo der Pilger genächtigt hatte, blieb die Maulpest im Stalle. Zu Lachen fraß sie manchen arm. Und in Lachen wußte der Wirt „Zur Freudigen Anken“, von dessen Stall das Viehsterben ausgegangen war, daß der Pilger niemals seinen Mantel geöffnet, noch seinen Hut abgenommen habe. Aber die Kuhmagd hatte den Gast des Abends im Hofe stehen sehen, als ein Windstoß den Mantelsaum lupfte; da sei es in roter Glut unter ihm hervorgebrochen.
Beim Maulweh blieb es nicht. Wilhem Bombast mußte täglich über den Paß nach Pfäffikon. Dort hatten die Ordner in den Tagen der Engelweih einen Mann aufgehalten, der seinen schwärenden Leib der Gnadenmutter hatte darbieten wollen. Er starb unter den Händen des Baders auf der Schröpfbank. Es war die Zeit, da der alte Wein dem Moste weichen sollte. Sie klopften allerorts am See ungeduldig die Fässer ab und hatten einen guten Grund zur Fröhlichkeit. Auch ließen die Pilger ein Stück Geld zurück. Das Geblüt schoß heftiger durch die Adern. Man erlabte sich in der Badstube an Dampf, Aderlaß und Schröpfkopf. Die Augen der Männer hingen länger an den Hüften der Frauen und Mägde. So wurde die Saat reif, als der Schneesturm die letzten Blätter von den Bäumen blies. Verstört wichen Männer und Frauen einander aus. Was vorerst jeder heimlich an seinem Körper wie ein Teufelsmal geborgen, brach bald an Lippen, Nasen, Augen durch. Mund und Rachen waren zerfressen, so daß die Unseligen kaum mehr schlucken konnten. Nachts hörte man ihr Brüllen, denen die Knochen des Schädels, der Arme und Beine faulten. Viele erblindeten.
Vor wenigen Jahren … sie erinnerten sich der grauenvollen Nachrichten! Damals war die Rute Gottes an ihnen vorübergegangen, und nun ächzten sie unter ihren Streichen. Sie zogen, in aschebestäubte Säcke gewickelt, durch den Schnee über die Meinradsklause, dicke Kerzen in den erstarrten Händen, barhaupt und barfuß.
Das Lied vom alten und neuen Eidgenossen wurde von den Grauhaarigen gesungen, die in den Schenken jetzt das Wort führten. Die Jungen hörten das Lied wie einen Wallfahrtsleis.
„Siden, Damast und Sammat,
Dos was bi uns in schlechter Acht,
Wir han deren nit viel angemacht.
Ouch wallsche Speise und Melonen,
Rebhuhn, Wachteln, Kaponen,
Klaret, Hippokras, Malvasier,
Muskateller, Rapiser und Romanier
Und suster viel der wallschen Trachten,
Deren wir wenig in ünsern Hüsern machten.“
Ihr habet gut singen, murrten heimlich die Jungen. Gold und Geschmeid der Burgunder ist von euch nicht verschmäht worden, und auch die Ernte von Grandson hat durch die Gurgel gleiten und an den Leibern zerschleißen müssen. Aber in euern jungen Jahren hats noch keine Franzosen gegeben, zu der guten Zeit. Doch sie sprachen nicht laut, was sie heimlich murrten. Einer sah den andern verstohlen an, darum daß er ihm etwan sein Ding verhehle.
Viele mußten verbluten. Sie brachen unversehens nieder und ergossen sich, wenn man sie aufhob, aus dem Munde wie volle Schläuche.
Wilhelm Bombast, obgleich von Tübingen her gegen die Franzosen wohl gerüstet – sein Lehrmeister Saliectus war einer der ersten gewesen, die das Quecksilber bekömmlich zu dosieren wußten – konnte nur wenige retten.
Er ritt am Andreasabend sein Schwabenjörgeli aufwärts gegen die Klause. Über den Etzel zogen dunkle Wolken, deren Wülste hell aufgeflockt waren, sie verhießen nichts Gutes. Bombast war bei der alten Krütlin gewesen, um ein Abkommen über ihre Jüngste zu treffen. Das Mädchen hieß Gritli. Sie sollte von Mariä Empfängnis ab seiner Eis beistehen.
Bombast konnte es nicht mehr tragen, daß seines Weibes Kraft im Hauswesen wie von einem bösen Fieber verzehrt wurde. Als die letzte schwere Arbeit dieses Jahres getan war, hatte Frau Eis etliche Tage liegen müssen.
Da ruhte sie blaß und still in den Kissen, sie lächelte matt, wenn Bombast sich zu ihr neigte. Ihre Augen lagen groß in den Höhlen, ihr Kinn war hart geworden. Und Bombast suchte mit bekümmerten Blicken die zarte Lieblichkeit ihres Mädchengesichtes. Aus ihren Augen flehte es ängstlicher, daß er nur schweigen möge. Und er sprach nicht aus, was ihn preßte, und schonte sie. Ihre Hände wurden in dieser Zeit der Ruhe weiß und weich, so daß die Adern sie dunkler zu durchpulsen schienen. Und Bombast hatte, während er ihre Arme und Hände streichelte, das lastende Empfinden, als wüchsen die Adern seines Weibes unsichtbar über die Grenzen ihres Körpers hinaus und schlügen in dem Boden Wurzel. Bombast hielt seinen gärenden Mut, solange er vor seinem verschmachteten Weibe stand. War er allein, brach der verhaltene Sturm in heißen Flüchen und Gebeten aus ihm. Er haßte zu dieser Zeit das gefräßige Haus an der Teufelsbruck, darin er verhungern mußte.
Lange ließ sich Eis Ochsnerin nicht im Bett halten. Das Haus begehrte sie, sie war ihm unterworfen. Als die rauhen Tage über den Etzel niederstürmten, befiel sie ein trockener Husten, der nicht weichen wollte. Und Bombast erinnerte sich der alten Krütlin, die ihm ihre Jüngste als Magd angeboten hatte, da er sie von der Krupp heilte. Das war vor drei Jahren geschehen.
Gritli Krütlin ging damals langbeinig und ungestalt. In diesen Jahren war sie hoch und voll erblüht. Ihr Gesicht schwieg unter einer klaren geradlinigen Schönheit, die gefühlvolle Frauen als leer und stumpf beargwöhnen, während ein ungestillter Mann hinter ihr flammendes Leben erträumt. Gritlis Brust drängte das Mieder.
Die alte Krütlin zeigte ein unsauberes Lächeln, als sie die Tochter, ihren Spätling, dem angesehenen Arzte zuführte.
Und Bombast erschrak leicht, als hätte ihn unversehens ein nasser Zweig gestreift. Für einen Herzensschlag wünschte er, die Magd nicht gedungen zu haben. Aber im Ochsnerhause war schon alles weit und breit ausgetragen worden: die Alten gaben das Essen, und Bombast zahlte den Lohn. Er schämte sich seines kurzen Zögerns, als habe er einen Schritt in die Untreue getan. Und so fiel der Handschlag, den er der jungen Magd bot, hastiger aus, als seinem würdevollen Gehaben sonst entsprach. Die alte Krütlin, des vereinbarten Lohnes froh, war schon unsicher geworden. Nun klatschte sie belebt ihrer Tochter auf den Arm und meinte ermunternd:
„Mir ist wohl, dann sie ist bi Üer Edel nit an ein lausigen Mann ton, und ich besorg nützit nit. Mine Ougen werdind schwach vor das junge Bluot. Do sänd aber Mannslüt gnueg im Ochsnerhüsli und sänd mir guet vor alle Zuofäll. Dann einer alleinig, der wär zeviel. Heint ist der Tag recht vor ein Mageddingen: Sant Andräabend.“
Die Alte gluckste ihre lockere Freude in sich hinein, doch Bombast konnte seine Ruhe wahren, denn das Mädchen hatte die Mutter abgeschüttelt und war zornig errötet.
Da er nun unter den Wetterwolken heimritt, nagte er an dem, was er aus der dunstigen Kammer der Krütlin mit forttrug, wie ein Hund an einem ausgekochten Röhrenknochen, mehr des Nachgeschmackes wegen. Er konnte sich Zureden, daß er dabei ins Gleichgewicht fallen werde, wenn auch noch eine leise Unruhe nachzitterte. Er kannte sein Herz und er war gewohnt, es zu zügeln, denn niemals war er ein schöner Mann gewesen, auch nie geschmeidig genug, daß er in eines Weibes trunkenen Blick gesehen hätte.
Als aber die Krütlin den Andreasabend erwähnte, hatte eine zweite schwere Welle aus seiner Brust gegen den Hals geschlagen, so daß er dem Mädchen dankbar blieb um ihres zornigen Errötens willen. Auf dem einsamen Wege ebbte die Welle aus.
Er hatte an einem Andreasabend, damals ein Knabe von acht Jahren, das erste nackte Weib gesehen. In einem Bauernhause, wo er auf seinem Wege an die Regensburger Schule zu Sankt Emmeran Nachtquartier bekommen hatte, schlief er unter der Steige. Der Lichtschein einer klaffenden Tür weckte ihn aus den ersten schlummertrunkenen Atemzügen. Sein Magen regte sich noch, und er dachte von der Magd oder der Frau einen Bissen zu erbetteln. Der knauserige Bauer lag bereits in der Wolle, das wußte er. Zunächst lauschte er und hörte tappende Schritte. Dann sang eine Frauenstimme:
„Sant Andres, Mannbescherer,
Du treuer Magdelehrer,
Hie stah ich splitternackt.
Wann soll die Stund ankummen,
Daß einer mich genummen,
Unde mein Brautbette knackt?“
Das fahrende Schülerlein schob vorsichtig seinen Kopf in den Türspalt und erschrak, da er die Magd sah. Sie war von dem Lichte, das auf dem Estrich stand, beleuchtet wie die Eva eines Münsterportals, unter der ein Fackeljunge seines Herren wartet. Er meinte auch eher ein bemaltes Steinbild zu sehen, das durch Gottes oder des Teufels Willen von seinem Kragstein in dieser Nacht hierher gebracht worden war, denn das Weib stand mit erhobenen Armen regungslos und starrte in einen finsteren Winkel hinein, während die Lippen, leise bebend, den Andreassegen summten. Der Knabe hielt es, da er ruhiger geworden war, für das beste, niederzuknien und ein Kreuz zu schlagen. Unversehens kams ihm dabei über die Lippen: „Heilig Mutter Eva, bitt vor mich!“
Und langsam schlich er wieder auf sein Stroh zurück. Er war erstaunt, daß sein knurrender Schülermagen an dem sonderbaren Gesichte satt geworden war. Schon deshalb hielt er die Erscheinung lange für ein Wunder. Den Andreassegen aber hatte er gut behalten. Auf der Regensburger Schule vertraute er die Begebenheit einem Bachalaren an, der darüber in triefende Zoten ausbrach und ihm den Spottnamen „St. Andres“ auflud. Ein trübes Licht war über das Abenteuer gegossen. Er litt lange darunter, wurde den Frauen gegenüber unsicher, konnte ihnen nicht mehr in die Augen sehen wie ehedem.
Dieses längst verwundene Kindheitserlebnis hatte die alte Krütlin durch ihr Geschwätz heraufbeschworen, und die flehende Gestalt jener Bauernmagd schien an den Körperformen und Zügen der Gritli ein neues Leben zu gewinnen.
Ungewollt falteten sich die Hände des Arztes über dem Sattelknopf, und er murmelte:
„Führ mich nit in Versuchung umb mines Weibs und Kindes willen!“
Er wurde an seinen eigenen Worten wacher, strich das Barettlein aus der Stirn.
„Was ist? Du wirst nit. – Ein Gebet, mehr als not tuet, ist ehender lästerlich, als ein Fluoch zeviel. Du sollt nit bitten umb ein Ding, das ist in dines Muets Gewalt geben. Sunst drohet dir der gefährlich Verlaß, und diner menschlichen Schwächen hangend die Zügel schlaff.“
Er schüttelte ungeduldig den Kopf, und das Schwabenjörgeli schüttelte auch den seinen. Es hatte die langen Ohren zurückgelegt, denn sein Herr redete sonst nicht laut zu sich selber.
Bombast wurde immerhin an den mutigen Gedanken klarer. Er lächelte leise. Ihm schien, als sei er in den Jahren der Ehe, da er nur seine Eis kannte, dem Weibe gegenüber so schamhaft und unsicher geworden wie auf der Schule zu St. Emmeram, nur aus reineren Gründen. Und darin glaubte er sein jüngstes Wirrsal in der Kammer der alten Krütlin verstehen zu können. Er meinte, daß er noch dahin gelangen werde, eines fremden Weibes Schönheit so fromm zu schauen, wie er dazumal in der St. Andreasnacht die nackte Bauernmagd gesehen hatte.
Und er fragte, ob ein Weib gleichermaßen in solche neubürtige Reinheit zurückfinden könne wie der Mann. Eine Welt von zweiflerischen Gedanken sprang vor ihm auf. Und während er in das wirbelnde Chaos sah, fühlte ers in sich erblühen wie eine neue Kraft. Ihm war, als sei er über das eigene Wesen hinausgewachsen, er dachte: so muß dem Vogel sein, der die Eischale bricht.
Unter diesen wunderlichen Gefühlen verlor das Gift der alten Krütlin seine letzte Schärfe. Bombast wurde frei, ohne erst aufatmen zu müssen.
Ehe er vollends die Klause erreichte, stieß er auf die beiden Kraihahnen, die sich mit ihrer Zugsäge an einem Buchenstamm mühten, der ihnen quer über den Weg gesunken war. Sie arbeiteten in ihrer glühenden Hast und gewahrten den Arzt erst, als er absprang. Denn das Schwabenjörgeli wich nicht ohne eindringlichen Zuspruch vom ausgetretenen Wege ab. Vom Sattel her hätte es kein St. Georg durch das Dickicht lenken können. Es mußte geführt sein und äußerte auch dann noch die heftigsten Bedenken.
Baltisar und Heini Schürli ließen ihre Arbeit und wollten Bombast helfen. Doch er wehrte ab:
„Der Himmel hanget voll Schnee. Ihr müssend den Weg beraumen, eh dann die Nacht sinket.“
„Dannocht – es ist Menschenpflicht.“
„Nein, lasset! Jüh, Jörgele, zuo! Du elend Malefizkreatur, zuo!“
Bombast stieß den störrischen Maulesel in die Seite und gewann ihm ein paar Schritte ab. Das Jörgeli duckte die Ohren und schnob. Bombast bekam einen roten Kopf und fluchte sich den dicksten Ärger von der Seele, während er das weggetreue Jörgeli keuchend um den langen Baumstamm nötigte. Als der Steig wieder gewonnen war, mußte er das Barett abheben und verschnaufen, ihm war heiß.
Baltisar aber nahm aus seinem Tuch Brot und ging, indem er es brach, zum Jörgeli.
„Friß, du verlästeret Gottswesen, du stummer Marterer vor din Recht. Dann der Weg ist din guet Recht, das haben dir die Schürli beid durch eine menschlich ohnvollkommene Kunst des Bomfällins verwehret.“
Das Schwabenjörgeli beschnupperte vorsichtig den dargereichten Bissen, weil er nach Ruß roch, gewann aber so weit Vertrauen, daß es ihn nahm. Bombast, der nicht gern in Schweiß geriet, fand durch die Feierlichkeit des Baltisar zum Wohlwollen wieder zurück und klopfte den Hals des Maulesels.
Baltisar reichte dem Jörgeli einen zweiten Bissen.
„Friß, du ohnschuldig Kreature, die du eine sündhaftige Kreature muoßt tragin. Friß, der du weißt, was der recht Weg ist, und muoßt ein schleppen, der nit weiß, ob es der recht Weg sije oder nit.“
Baltisar war ärgerlich darüber, daß der Arzt das Jörgeli abklopfte, als sei weiter nichts zwischen ihnen vorgefallen.
Bombast hob drohend den Finger.
„Baltisar, du sollt min Jörgeli nit also ufwiglen!“
Da schwang der Köhler beide Hände gegen ihn aus.
„Wehe mir, du Bruoder dieser Welt und nit der himmelschen, wehe, daß ich die Kreature nit ufrottlen kann wider die Sünder, denen sie ist unterton. Du zemal bist ein Heilmeister und freventlich vermessen, Gott in den Arm fallind, so er willt mit Krankheit und Gebrest umb Sündenschuld treffen und ustilgen.“
„Kunnts nit glichermaßen des Tüfels Arm sein, der do kränket? Wer solls entscheiden?“
„Oh, ihr gelahrten Dunstkrameren und Rauchtreiber! Üch fallend die Widerred ab dem Moule als eim Apfelbom die madigen Äpfel zur Summerszit, so einer ihn nur rührt an. Du sollt mir nit das Gesicht vernebien. Ist nit der Tüfel als och Gotts Kreature? Und ist er nit sin härtist Ruoten und skorpionisch Gißel, darmit der Herr den Menschen trifft?“
„Wahrlich, Baltisar Schürft, wir möchtinds an diesem Abend nimmeh entscheiden! Din Frag ist ein Kapitalfrag. Daran kunnt einer ohnversehends zem Ketzer werden.“
Er saß lachend auf und nahm die Zügel.
„Gang hin, du Fluochender, Lachender! Gang hin ins Ochsnerhüsli an des Tüfels Bruck! Dort huset ein anderer och, vor deme hab ich in diesem Jahr allbereits min Herz müssend entüßeren! Reiniget üren Brunnen, us deme ihr trinket, dann es muoß ein sunderlichs Wasser sin. Der ein zwinget eim das Bueßgewand vom Libe, daß einer nackend für ihme stoht und Zweifeier wird an Sünd und Leben, das ist der alt Ochsner. Der ander hat den Hochmuotstüfel im Lib und will vollends dem starken Simsone geliehen, das ist der Hans. Und der dritt ist Heilmeister und wollet der Rache Gottes wehrn und siner Straf. Wahrlich reiniget üren Brunnen, darus ihr trinket, dann es muoß ein sunderlichs Wasser sin bi des Tüfels Bruck!“
Bombast winkte ihm zu und ritt weiter. Baltisar hatte bei den letzten Worten den Griff der Säge erfaßt. Er und sein Sohn warfen sich über die Arbeit.
Bombast ließ den Kopf hängen, er dachte: „Du sollt nit ohnrecht behalten. Und sunderliche Quellen möchtind im Ochsnerhüsli fließen, die mit jedem Pulsschlag ans Geäder stürmen.“
Bombast wunderte sich, daß aller Unfrieden, den er von der Krütlin fortgetragen hatte, in einer Ferne zu verdämmern schien, die lebensweit ablag. Der Ärger über sein Jörgeli und die heftigen Reden des Baltisar hatten ihn aufgerüttelt, als sei alles andere nur ein Traum gewesen. Der kurze, peinliche Kampf um seine innere Ruhe kam ihm fast übertrieben und unwahrscheinlich vor. Am Festträumen und Verträumen wird des Lebens Reichtum vertan. Darin liegt Gefahr, vielleicht eine verdeckte Schuld. Wer will entrinnen und wer kann entrinnen? Ist es das Schicksal des überreifen Blutes, der sonderbaren Quellen? Recht, Baltisar: Reiniget eure Brunnen!
So kam Wilhelm auf Theophrast. Der verträumte nicht, noch nicht. Welch weite Herzenszeiten mußte das Kind in wenigen Tagen seines Erlebens durchmessen, wenn der Vater, um dessen Schläfe ergraute Haare wellten, nach einem kurzen Ritte von der Paßhöhe aus kaum mehr die Wahrheitsbrücke zur Talsohle fand! Er wurde froh an diesem Gedanken, denn er fühlte, daß der allein noch junge Kräfte in sich berge, der wie ein Kind lebensweite Gezeiten des Herzens in einer Stunde durchringen könne. Vielleicht vermochte er Theophrast den harten Weg zu kürzen, ohne ihm die Kraft des inneren Erlebens zu schwächen.
Gritli nahm in einer stillen Weise, die beide Frauen des Ochsnerhauses mit ihrer Schönheit aussöhnte, Besitz von dem Arbeitsanteil, der ihr zustand. Für Theophrast war sie durch viele Tage Gegenstand tiefer Verwunderung und seiner ganzen Neugier. An ihr lernte er Menschen und Menschenwerk tiefer betrachten, denn sie tat manchen Handgriff anders als Mutter und Großmutter. Er mußte sich schwer besinnen, wie er den Unterschied ihr und den andern begreiflich machen könne. So hatte Gritli durch das Kind manche Pein, aber sie wuchs auch schneller in das Hauswesen, denn die beiden Frauen waren gezwungen, ihr gegen die unablässige Achtsamkeit des Kindes und, wo es not tat, im Werke beizustehen. Theophrast konnte sehr verletzt sein, wenn man ihn für eine Weile von dem Posten abdrängte. Er fühlte gut, daß er schwere Arbeit leiste. Tausend Kleinigkeiten erkannte er an der Fremdart der Magd und lernte sie verstehen und bezeichnen. In dieser Zeit schlief er länger und tiefer als je. Die Großen merkten seine Arbeit nicht. Sie hinderten ihn, wo sie konnten.
Doch er verlangte heißhungrig und hartnäckig darnach, hinter das Neue zu kommen.
Hans sah die junge Magd mit heiterer Ruhe. Er sagte wenig zu ihr, dann aber stets mit leichtem Spott, den sie zuweilen herb, manchmal auch frei erwiderte. Hans dachte in den ersten Tagen, daß er auch nach ihr nur seine Hand auszustrecken brauche. Wenn sie irgend eine Arbeit mit ihm zu schaffen hatte, ließ er seine Kräfte spielen, und sie erzitterte zuweilen vor ihm.
Als er von Zürich kam, wo der Kochenribly in aller Gelassenheit dreimal gerollt worden war, lag ein silbernes Geschmeid um seinen Hals. Er sprach nicht viel von der Fahrt, nur beim Essen ließ er – weil ihn die Eis fragte, von wem er das Frauengeschmeid habe – leichthin fallen, daß die Weiber der Zürcher Pontafel und der Gesellschaft zur Schnecken ihm gern mehr aufgehalst hätten, wenn sie vor ihren Buhlen nicht bang gewesen wären. Da erblaßte die junge Magd bis auf die Lippen. Hans merkte es und lachend rief er sie an:
„Gritli, hol ein Schluck noch, dann ich wollt gern vom Win meh trinken, unde du sollt ouch ein Schluck tuen, dann du bist blässer als der Mond.“
Sie lief, um ihr aufbrennendes Gesicht zu verbergen. Und als sie wiederkam und den Krug vor ihn hinsetzte, spottete er:
„Schmeck zue, Maideli!“
„Du sollt dir selber zueschmecken“, stieß sie hervor.
„Ei, du bist etwan us Pfäffikon, do verstohnds die Weiber mit dem Zueschmecken nit anderst dann ze Zürch.“
Der alte Ochsner und der Hans lachten. Die Mutter aber sah, daß die Gritli mit den Tränen kämpfte, und meinte:
„Ohnbesorgt, Gritli, dem Hänsli stoßend noch die fetten Brocken von Zürich. Es jücket ihn, denen Herren von der Pontafel glich ze tuon.“
Der Hans wurde zornig und bedachter.
„Ei, Muotter, es möcht nit lang währin, do sull der erst Schritt zue der Pontafel ton sin. In Bünden stohnd sie bereit, die von Tirol schlafend all in Waffen. Das hat nit einer sundern all ze Zürch hänts mir verhißen.“
Da wurde es still um den Tisch, denn sie wußten, daß der Schwyzer von des Hans Art mit seinem Schwerte goldene Edelmannsstufen aus bäurischem Gestein hauen konnte.
Rudi Ochsner, dessen Lebensfeuer noch nicht erloschen waren, ließ sich von der Magd so rauhaarig als möglich anfühlen. Er schenkte ihr kaum ein günstiges Wort. Doch war ihr sicher in seiner Nähe, denn sie merkte gut, daß er unter allem Knurren und Bellen auf ihr Recht bedacht blieb. Gegen sein Weib wurde er empfindlich und ungewohnt nachgiebig, so daß sie ihn nach etlichen Wochen leisen Kummers zur Rede stellte, da ihr sein neues Wesen unerträglich wurde.
„Ochsner, was vor ein Wesen? Sint die Küh sänd umbgstonden, hanget es dir an als ein heimliches Moulweh, und nützit gnüeget dir meh, dannocht lässist du alls mit suren Mienen bi Gott sin. Din Art ist anders.“
Sie vermied es, die Zeit seines sonderbaren Gehabens von dem Dienstantritt des Gritli zu zählen. Er merkte an ihren klugen Augen, daß sie über seinen Unfrieden mit Herzensnot wache und um mehr Sorge trug, als er selber bekämpfte.
„Laß guet sin, Muotter, wir werdind olt, und der Winter hat Stürm.“
Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Ihre Lippen bebten ein wenig, als sie sagte:
„Wir werdind olt, Ochsner. Allein üch Mannslüt trägt der Herbest Win, und der schümet; so er ze süß ist gewest, stoßet er den Zapfen us, erst wenn der Schnee fällt.“
„Muotter, wir gstunden in gueter Zit und ouch in der Not bi einander, als möchtind wir nit anderst endigen beid. Loß guet sin.“
Sie errötete sanft und fuhr ihm mit leiser Hand über Schulter und Arm. Er ließ es geschehen.
Doch am morgenden Tag, da der helle Neuschnee über dem Hochtal feierte, weil die Sonne unendlichen Glanz aus ihm weckte, nahm der alte Ochsner seinen Enkelsohn bei der Hand und stieg mit ihm auf die Klausen. Es verlangte ihn, einen weiten Blick zu tun. Theophrast war stolz, daß er den Großvater begleiten konnte. Er redete unaufhaltsam von den ungereimtesten Dingen zu dem Ahn, meinte sich als ein würdiger Weggenosse zu erweisen. Er sprach auch von der Magd Gritli.
Der Alte fiel ihm ins Wort:
„Bis still, Frästeli, los hin gen Einsiedlen! Hörst du nit die Glocken? Die hänt gelüt, do din Ähnli die jung Weßnerin hät zuo der Hochzit ingeführt!“
„Ich hör nit.“
„Mir ist, als wärind die Glocken ze uns gedrungen.“
Einige stille Schritte.
„Die Gritli saget mir: So ich groß bin unde stark als ünser Hans, müesset ich als ouch in den Krieg ziehn, dann vor ein Schwyzer ist der Krieg schöner dann das schönest Maideli.“
„Bis still, Frästeli. Nu los nieder ze Tal, dort rouschet die Sihl, die hab ich gehört, do der Jungruodi ist stif uf der Ofenbank gelegen und du bist zem Leben ufgewacht.“
„Ich hör nit.“
Dann aber wurde dem Kinde der Schneefrieden wundersam.
„Alls schweiget“, flüsterte es, „ist dannocht hellichter Tag! Schweiget alls, der Schnee deckts. Lust din Ohr die Sihl immer noch?“
Der alte Ochsner sah über den offenen Wiesenhang hinweg, als habe er sein Enkelsöhnlein nicht vernommen. Weithin vor seinen Augen war die heitere Pracht ausgespannt. Er nahm den Knaben auf und reckte den andern Arm.
„Sieh, Frästeli, das Jahr ist olt worden und rein. Dannocht fünklets, daß eim die Ougen flinzlen vor Glast.“
„Warumb ist das Jahr alt wordin?“
„Wie din Ähnli ist es olt worden. Und din Ahn hat Rünzlen im Gesicht und ist als weiß behoubet. Do der Schnee uf der Erd ist usbreit, ist das Jahr worden olt und still.“
Theophrast zog seine Stirn kraus und sagte ernst:
„Der Schnee hat kein Rünzlen nit. Und du flinzlest nit und bist nit still.“
So mußte der alte Rudi Ochsner seinen Enkelsohn wieder absetzen. Beide sahen einander betroffen in die Augen.
„Samer Gott und uf min Seel, du bist ein ganzer Mann und sollt recht behaltin vor din Teil.“
Er nahm eine Hand des Knaben, der nicht wußte, ob seine Ansicht gescholten oder anerkannt sei, und einen mißtrauisch spähenden Blick über die Weite warf, ob im Schnee dennoch Runzeln zu finden wären.
„Ist guet, Frästeli, ich wills mir schon behaltn. Du hörst keine Glocken, und die Sihl wird nit lut vor dir, du siehest keine Rünzlen im Schnee, und din Ahn flinzlet kom mehr, dannocht schweiget er nit still, wie das weit Land im Schneeschlaf schweiget. Du brouchst der Glichnusse noch keins vor din Leben. Und so rieh als du bin ich ouch bstellt gsi: brauchet der Glichnusse keines nit. Nu aber bin ich olt und nünt dann das Leben, dos ist jung und ewiglich. Darumb hab ich ein Münz ufton ohn kaiserlich Privlegi, dort schlog ich min falsches Geld. Das flinzlet als der Schnee und zerrinnt eim in der Hand als der Schnee. Das sänd mine Glichnus, darmit ich verhoff ein Endli Leben zu erstohn. – Aber kumm ze Tal in unser Ochsnerhüsli, du min gueter und getrüer Schuolmeister, daß ich dir dine Lehr zahl mit einer Händvoll Hüzlen. Die sänd als ouch runzlet und hänt dannocht ein süeßen Kern.“
Theophrast nahm die Verheißung dankbar auf, ihm war, als sei er mit knapper Not etlichen Maulschellen entgangen, so sehr hatte ihm das sonderbare Wesen seines Ahns zugesetzt.
Eis Ochsnerin fand allzuschwer in die neue Ordnung des Hauswesens. Ihr war, als wolle sie Bombast langsam der Heimat entwöhnen, da er mit ihrer Arbeit auch ihr ganzes Dasein in andre Hände gelegt zu haben schien. Sie beneidete die junge, schöne Magd um das Tagwerk, unter dem sie beinahe zusammengebrochen war. Sie schuf sich hundert unnütze Mühen und gab sie dann auf, weil sie nur verwunderte Mienen erntete. So fühlte sie alle Bitternis einer grenzenlosen Vereinsamung.
Der Mutter suchte sie zu helfen, doch die alte Frau hatte ihr Arbeitsgesetz, das unveränderlich mit ihr, fast an ihr ablief wie der Wandel der Gestirne über der Erde. Sie konnte bös werden, wenn andre Hände in ihr Gesetz griffen. Eis mußte sich zurückziehen.
An Theophrast wagte sie nicht die leere Zeit zu wenden. Er war kein Kind, das Müßigkeiten ausfüllte. Vor einem unbedachten Worte oder einer verhehlenden Beruhigung stand der kleine Mann gewichtig, breit, mit ernsten Mienen, er fand todsicher durch die halbe Lüge einen Hohlweg, auf dem man ihm nicht ausweichen konnte. Man hätte ihn überrennen müssen, und das wagte die Mutter nicht mehr. Weil alles Männliche der tiefen Schamhaftigkeit und Schüchternheit ihres Wesens fremd geblieben war, entfremdete sie die erwachende Männlichkeit von dem Knaben. Sie sah neugierig, manchmal belustigt seinem eigenwilligen Handeln zu, das stets irgendwie vom zufälligen Spiele abwich. Und nicht viel anders betrachtete sie das Leben des Wilhelm Bombast.
Der Gedanke, daß ihr Vater oder Bombast an der schönen Gritli einen Kampf bestanden hatten, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, wenn auch Kraft und Schönheit der jungen Magd sie beunruhigten. Sie war eifersüchtig, aber nicht um ihres Bombast, sondern um des Hauswesens, seiner Führung und jener Pflege willen, die das Ochsnerhaus bisher durch sie erhalten hatte. Und sie fühlte sich ausgeschaltet, wie einer, der nicht die Macht hat, neue Lebenszuversicht zu gewinnen, während ihm sein Lebensglaube entrissen wird; so sehr war sie verlassen. Sie konnte nicht stark und nicht einsam werden. Nur langsam, wie alles Leben füglich zurechtfindet, wußte sich auch ihr sinkendes Leben zu fügen.
Da sie im Gadem nicht vor aller Augen feiern wollte – denn Nadelwerk und Spinnen galt nicht für volle Arbeit und sollte nur die langen Winterabende füllen, wo Kälte und Finsternis anderes ausschloß – verbrachte sie manche Stunde des Tags in ihrem Schlafgemach.Dort lernte sie träumen.Und siebrauchte nicht mehr zu fürchten, daß es Sünde sei. Sonst war das bildhafte Fühlen, darin sie schlummerweich versinken konnte, manchmal in der Kirchenstille über sie gekommen, und sie war reuevoll zu Gebet und Gottesdienst aufgeschreckt. Nun aber, während ihre Spindel über den Boden tanzte, widerstand kein mahnendes Gebot mehr.
Es kam die Zeit wieder, in der Jungrudi gestorben war und Theophrast in wilden Wehen von ihr die Welt begehrt hatte. Sie hatte den trotzigen Bruder nicht in die Erde sinken sehen, weil sie vom Wochenbette gehalten wurde, als man ihn begrub. Ihr mangelte jetzt der treue Schluß, das heilige Siegel, das die Erde über ein erloschenes Dasein häuft. Jungrudi lebte noch aus jener Sturmnacht, in der er untergegangen war, in ihr. Und es kam ihr: ihretwegen war Jungrudi gestorben.
Nach dem Verlöbnis mit Bombast hatte er nicht mehr zu ihr gesprochen bis zum Tag des Beilagers. Seine letzten Worte hörte sie wieder:
„Ich gang, so alle schlafend. Du sollt dines Schwyzerbluots bedacht sin vor deme Schwoben! Allein red nit, eh dann ich fort bin.“
Sie hatte nicht verstanden, was er eigentlich wolle, denn Wilhelms stille Zärtlichkeit war wundersam in ihr aufgegangen wie ein Same des Glücks. Und da der Jungrudi ihr anvertraut hatte, daß er reisen werde, war sie am Tage nach der Hochzeit weniger betroffen als die andern. Damals vermochte Bombast sie vollends zu beruhigen: der Jungrudi wäre auch bei anderer Gelegenheit davon; Ursache sei allein, sein Aufruhrgeist so gegen den Vater wie gegen alle Ordnung der Familie. Und sie hatte Wilhelm Bombast gern geglaubt.
Jetzt schien ihr: ihretwegen war Jungrudi gestorben. Aus den wüsten Gerüchten, die über das Leben der Reisläufer im Lande gingen, zugleich geweckt an der Erinnerung der letzten Fieberworte des sterbenden Bruders, baute ihre Einbildungskraft wilde Erlebnisse, durch die Jungrudi hatte zugrunde gehen müssen. Sie war keiner Schuld bewußt, nie war sie Jungrudi mehr zugetan gewesen als der Mutter und dem Vater, nur seinen Schutz litt sie lieber als den des ungebärdigen Hans. Und doch lag jetzt die Heimatsflucht und der Tod des Bruders auf ihr wie ein Schicksal, das sie ängstigte, das eine Sühne verlangte. Die unversöhnte Seele des Toten wollte ihr Gebet und eine Buße für alle Sündenschuld der Söldnerzeit, anders vermochte sie das Bedrängnis ihres Herzens nicht zu deuten. Jungrudi mahnte sie um die schwesterliche Liebe, da er ihr zuliebe umgekommen sei. So dachte sie.
Sie betete viel. An Sonntagen und an Donnerstagen ging Eis nach Einsiedeln, dort büßte sie in der Gnadenkirche für ihn, indem sie auf den Knien siebenmal um die Kapelle der wundertätigen Maria kroch. Eis quälte sich vergebens. Die Seele des Bruders gab sie nicht frei. Sie fand die rechte Buße nicht.
Bombast offenbarte sie ihre Bedrängnisse nicht. Sie wehrte seine Liebe mit sanfter Gewalt ab. Wenn er sie küßte schauderte ihr, als gehe sie Wege der heimlichen Sünde. Aber sie konnte zuweilen hingebungsvoller und zärtlicher sein als je zuvor.
Bombast sah nicht das unstete Flackern ihres Blicks. Nach Stunden der Hingabe rang sie lange um Frieden, den sie erst fand, wenn sie das Sakrament genommen hatte.
Am Christabend saßen die Ochsnerleute länger um den Tisch, denn die Mutter hatte Küchli und Met aufgesetzt. Heimlich ging Mutter Weßnerin, als die andern aßen und tranken, in den Keller, nahm zwölf Zwiebeln von einem Zopf, höhlte sie aus, füllte sie mit Salz und trug sie ums Haus. Dort wo der Kleinholzstapel hoch unter das hängende Dach reichte, daß kein Schnee auf ihn fand, holte sie im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes eine Zwiebel um die andre aus der Schürze.
„Jänner, Hürnung, März, April, Mai, Brachmond, Heumond …“
Jede Zwiebel ein Monat. Morgen konnte sie am Salze sehen, wie das Wetter in jedem Monat sein werde.
Da sie wieder ums Haus zurückkam und eintreten wollte, tauchte vor ihr aus dem dicken Frostnebel eine Mannsgestalt auf. Sie erschrak, denn die Christnacht ist voll der Gesichte. Sie bekreuzte sich. Sollte einer von ihnen sterben und sein Schatten in diesen heiligen Zeiten vorahnend an die Schwelle irren? Sie blieb lauschend stehen.
Der Mann fand das Haus offen und trat ein. Sie hörte ihn an die Gademtür pochen und hörte, daß sie die Stühle rückten.
„Hei, Uli Enz ab der Rüeten!“
Das rief der Hans.
„Hans Ochsner, ein guet Zit!“
Es fiel die Tür zu.
Mutter Weßnerin schlich nach. Der Uli Enz war kein Weihnachtsgast, den sie gewünscht hätte. Er stammte aus Appenzell, war von St. Gallen an das Einsiedler Stift geschickt worden. Als Vogt stand er im Rufe, ein harter Mann zu sein. Er war einer der Stärksten weitum nach ihrem Hans.
Sie öffnete leise den Gadern und fand die Männer in Aufruhr. Nur Bombast saß ernstblickend im Bankwinkel. Auch Marx, der Knecht, hatte die Ofennähe aufgegeben.
Uli Enz ab der Reuten stand in der Mitte.
„Sie sänd von Tüfers in der Nacht ufzogen. Do kunnten die Bündter nit entgegen. Als hänt sie Münster genommen. Nu ruefen die Bündter üns. So einer ist ein redlicher Eidgenoß, der mueß folgen!“ Dabei ließ er seinen Spieß gegen das Estrich schellen.
„Du hast guet reden“, wehrte der alte Ochsner ab. „Du bist von Appazell, ihr seid nahend bi Tirol.“
„Die von Tirol hänt ein Botschaft uf Ulm gsandt an den Bund. Daß sömlichs denen Ritteren verbuhlet, schwobisch Stadtgschmütz der Tüfel schänd und alln die fallend Suocht ankumm! Die bringend Appazell unde St. Gallen uf, darnach all Eidgnossen. Dann was wollend die? Do ist kein Frag nit. Die Eidgnossen sulln unter römesch Recht unde Richskammer, daß der römesch Küng sin Fust uf sie hab, unde sie sulln ihme ihr Bluot versprützen gen den riehen Ludewig und die Franzosen! Warumb solln sie vor ihn das Bluot versprützen? Darumb alleinig, wil er ist Herr und Küng; mit deme Sold stohts jedannocht merklich letz. Den gueten Zuog machend die vom Adel, der Eidgenoß sollet aber sin Bluot davor geben. Der römesch Küng ist nit so dumb, der spannet üns in sin Gericht und presset den gemeinen Pfennig üns ab und möcht ünser Schwyzeraxt unde Spieß, das guete Bluot darzuo, daß er sin römesch Künghoffart krönit!“
„Laß guet sin, Uli Enz, der römesch Küng ist in Niederlanden und hat ein ander Sorg“, rief Bombast.
„Hei, do schrijets mir wohl vernehmlich us deme Winkel, Herr Wilhelm Bombast von Hohenheim, adligs Bluot unde Schwobenbluot! Do schmeckend wir wohl, worus der Wind weht!“
Bombast stand auf.
„Uli Enz, du sollt Husfrieden halten. Min Adel und Schwabenbluot sänd ehrlich und ficht mich ninder an, mit einer schwobschen Kunst üch fri Eidgnossen Leib und Seel heil und fest ze machen, so üer Bluot ist faul wordin, stinkend aus üren Beulen.“
„Ünser Bluot ist nit foul. Aber des solltu gewiß sin: ab dem Rhin und am Bodensee soll viel schwobisch Bluot stinkend uf zem Himmel, daß ünser Herrgott möcht sin Nasen zuohaltin.“
Bombast wollte erwidern, da legte der alte Ochsner seine Hand auf des Uli Enz Schulter.
„Hie bin ich Husvater und ich verhoff, daß keiner nit möchti von mir gemahnet sin in diesen minen Wänden. Der dort, Wilhelm Bombast von Hohenhoim, ist min lieber Sühn und houset im Ochsnerhüsli.“
Darauf trat Uli Enz freimütig an den Tisch und reichte Bombast seine Hand über die duftigen Küchli hinweg.
„Satz dich und lang zuo, ouch will dir ünser Muotter ein Trunk Met reichen.“
Rudi Ochsners Stimme klang belegt, da er den Kriegsboten einlud. Sie setzten sich wohl, aßen und tranken, aber sie wurden nicht frei. Der Uli Enz suchte seine Worte, denn er hatte immer wieder an verschluckten Flüchen zu würgen.
In heller Freude war Uli Enz zu Hans Ochsner herübergerannt, als er den Bündner Boten die Nachricht abgefangen hatte. Er und Hans Ochsner waren einig, mit erster Gelegenheit gemeinsam zu reisen.
Hans war nicht wieder an den Tisch gekommen. Er ging im Gadern auf und nieder, hörte kaum zu, als Uli Enz vorbrachte, was er von der hündischen Sache gegen Tirol wußte. Auch der alte Ochsner lauschte nur mit halbem Ohre. Er wartete auf das erste Wort von seinem Hans.
Der trat nach einer Weile an den Tisch, trank aus Ulis Krüglein und sagte:
„Wann willtu reisen, daß ich min Sach rüst.“
Dabei brach heller Jubel aus seinen Augen, seine Zähne blitzten, er vermochte ein Lachen nicht mehr zu meistern. Er schlug dem Uli auf die Schulter, daß der Tisch zitterte. Beide lachten einander an. Er zog einen Schemel neben den Gast, und sie berieten halblaut miteinander, als sei sonst niemand im Gadern.
Rudi Ochsner ließ den Kopf auf die Brust niedersinken und warf nur hie und da einen Blick auf die beiden Gesellen hinüber, Bombast verließ nach kurzem Gruß den Gadem, um seiner Eis zu folgen, die ihres harten Hustens wegen längst im Bette lag. Der alte Ochsner winkte nach einer bang durchlauschten Zeit dem Marx. Der lümmelte auf der Ofenbank, das Kinn in beiden Händen, die Ellenbogen gegen die Knie gestützt, und glotzte den Hans und Uli Enz unverwandt an. Er kam steifbeinig näher und setzte sich etwas unsicher neben den Alten, wo sonst Bambast saß.
„Uf üns kummt eine harte Zit, Marx“, meinte der Rudi Ochsner und sah den Knecht scharf an.
Marx wußte, was den alten Ochsner drückte. Es lag eine Frage in den Worten. Auch er hatte sich schon bedacht.
Siebzehn Jahre stand er bei den Ochsnerleuten und damals war er mitten in den Zwanzigern, als er an die Teufelsbruck kam. Er hätte sich mit dem Spieß immer noch ein Stück Geld erstehen können. Allein der hündische Handel schien ihm nicht verlockend. Er meinte:
„Wohl, Ochsner, wir werdind ouch bi ünser ringsten Schmer abkommen.“
Da hellte sich das Gesicht des Hausvaters ein wenig auf. Er schob dem Marx sein Metkrüglein hinüber. Der Marx trank es aus.
„Vor die Zit kunntest mir sechs Plappart zuolegen, Ochsner!“
„Es möchtin wohl an vieren gnuog sin, dann derselb Handel wird solang nit währin.“
Marx hatte auf drei gerechnet, also gab er sich mit den vieren zufrieden und schlug in des Wirtes Hand ein. Dann zog er ruhig auf die Ofenbank zurück, streckte seine langen, ungelenken Glieder über sie und schnarchte bald. Für ihn war der hündische Handel erledigt.
Die beiden warteten von Tag zu Tag, daß ein Reisrodel bestellt würde oder eine Weisung der Einsiedler Ammänner aus Zürich und Schwyz käme; als nichts eintraf, beschlossen sie am Morgen nach Drei König gegen Pfäfers zu ziehen.
Im Ochsnerhause wurde kein Wort darüber gesprochen. Die Mutter hatte bekümmert das Gewand des Reisigen durchgesehen, ohne daß er es viel beachtet hätte. Am DreiKönigstag brachte der Hans aus Rapperswil einen prächtigen Pelzkoller, schwarzgelb auf die Stiftsfarben geteilt.
Sie spürten, was morgenden Tages geschehen sollte. Und doch lockerte sich das Schweigen nicht. Am Abend holte Rudi Ochsner einen dunklen Südwein, der viele Jahre im Kellerwinkel gelegen hatte, eine dicke Flasche, deren Bauch seitlich zusammengedrückt war. Alle mußten von dem schwer duftenden Weine trinken, auch Gritli und Marx. Dann reichten sie dem Hans die Hände und gingen bis auf den Vater und die Mutter.
„Wann willtu ihn treffen?“ fragte der alte Ochsner in letzter Stunde.
„Umb Mettenzit gangend wir von Einsiedlen.“
„Kehr ohngekränket wieder. Wir wollend all diner gewärtig sin. – Umb Mettenzit fallend eim die Wort schwer“, fügte er leise hinzu.
„Ich verhoff alls Guete vor üch, lieben Eltern, unde vor mich.“
Das brachte der Hans zum eigenen Verwundern gut und bündig über die Lippen. Dann drückte er die Mutter an sich und führte sie, die schwer ihre Tränen niederrang, stark und frei zur Schlafkammer. Der Vater folgte. Er vermochte aber nicht mehr in seines Sohnes Augen zu blicken.
Als die beiden Alten ihre Tür geschlossen hatten, reckte sich Hans hoch auf, dehnte seine Brust, breitete seine Arme. Ein Glückstaumel überkam ihn. Er löschte das Licht in der Herdasche aus und stieg langsam die finstere Treppe hinauf.
Vor der Kammer hörte er einen verhaltenen Laut. Eine Hand tastete nach ihm. Es umfingen ihn zwei Arme. Sie preßte ihr Gesicht an seine Brust, um ihr Schluchzen zu ersticken.
„Bi Gott … du …“
Sie umklammerte seinen Nacken und drückte ihre Stirn an seinen Mund. Und sein Herz schlug, als fände er ein Weib zum ersten Male. Er hob sie auf und trug sie in die Kammer.
„Grein nit, Maideli …“
„Du … sollt mich … mit dir nehmen.“
„Maideli … du bist so jung.“
„Ich willt dir kochen … und waschen … und getrü diner warten.“
Er nahm sie, wie der Föhn die Erde nimmt, der aller Kreatur den Atem für seine gewaltige Stunde raubt. Der Schnee hauchte seinen matten Schein durch die zwei kleinen Fenster. Der Hans sah das junge Weib, selig und satt, ihre Zähne schimmerten durch den halbgeöffneten Mund, ihre Augen ruhten furchtlos auf ihm. Er setzte sich noch einmal an den Bettrand, legte seine Hand auf ihre Brust, die ruhig stieg und fiel, sie kreuzte ihre Hände auf seiner Hand.
„Maideli, das ist ein ruch Leben, so du willt han.“
„Ich gang mit dir.“
„Die Hodler, so den Troß führend, zartlen nit mit denen Huren. Die Huren sänd ein hässigs Volk. Du muoßt zu ihnen stöhn.“
„Ich gang mit dir.“
„Stah uf, Gritli, hol din Sach.“
„Es leit für diner Tür.“
„Hols in.“
Sie holte ihr Bündel und legte es neben das seine. Dann schliefen sie beide, bis ihn sein brennendes Herz weckte. Er wollte Vater und Mutter nicht mehr sehen.
Flink war das Gritli in den Kleidern.
„Gang du vorus. Vor Willerzell soll tu ünser gewärtig sin. Der Uli Enz führt ein Mulesei mit, daruf wird als ouch din Büscheli liegen.“
Er folgte ihr bald, obgleich die Nacht noch weit vor Mettenzeit stand; er konnte die ersten Schritte der Freiheit nicht mehr erwarten.
Nur die Mutter war wach. Sie saß im Bett und hörte, daß er ging. Wohl ahnte sie zitternden Herzens ihres Sohnes Flammen. Sie stand nicht auf. Ein altes Weiblein sollte seinen Weg nicht vertreten, wars auch die Mutter, die ihn schwer geboren und treu gesäugt hatte. Sie betete für den starken Sohn.
Schneenacht, durch die zwei brennende Herzen ziehen.
Knirsche deine alten Weisheiten, Schnee.
So mußte Eis an die Arbeit. Einige Tage schien sie heimgefunden zu haben. Bald beugte sie eine trostlose Müdigkeit, die durch schlafberaubte Nächte gesteigert wurde. Sie wußte nur, während sie ihrer Arbeit nachhetzte: der tote Bruder mahnt.
Nachts lag sie mit offenen Augen und glaubte zu fühlen, daß die gleichmäßigen Atemzüge des Mannes und des Sohnes über ihren Körper huschten. War sie eine Zeit starr und verhalten gelegen, lauschend nach einem Leben, das jenseits der Sinne schwebt, konnte es ihre Brust mit Eisfingern rühren, leise, leise. Und ihr Herz stand vor Angst darüber still, daß es die Hand des Toten wäre. Schlug das Herz jäh wieder ins Dasein zurück, daß ihr Hals und Ohren pochten, so wurde sie von einem Taumel erfaßt, als sähe sie in einen tiefen Abgrund. Sie preßte die Lider zusammen, feurige Büsche lohten vor ihr auf. Hinter ihr hetzte ein Entsetzen näher und näher. Sie meinte ihre Arme zu erheben, in den Abgrund zu stürzen und fühlte nur mehr ein Sausen um sich. Dann schrak sie auf, lag matt und keuchend, der Schweiß floß von ihren Gliedern. Sie betete endlose Gebetsketten. Gegen Morgen schlief sie erschöpft ein und konnte kaum wachgerüttelt werden, wenn der Tag rief.
Die Mutter war damals schwer zu einer Magd überredet worden, als sie aber die Eis durch das Hauswesen schleppen sah, verlangte sie selbst nach Hilfe.
Sie winkte an einem Abend den Schwiegersohn unter die Tür des Milchkellers.
„Umb die Eis ist mir bang, Hohenhoim.“
„Ich bin ehe bi der Krütlin gewest, do ich ihr der Gritli Lohn usbezahlet. Die kennt ihrer weitum und hat mir eine Magd verheißen.“
Der flackernde Lichtschein ließ die Schatten über das kummervolle Gesicht der alten Frau spielen. Sie sah Bombast hilfeflehend an, und es zitterte aus ihr:
„Nu ist der ander fort … der kehret ouch nümen.“
„Ei, Muetter, der Hans bstoht, do solltu nit bangen.“
„Wohl, der bstoht, dann die Welt ist weit und vor ein Kerl als der Hans offen allerweg. Hie ist sins Blibens nümen. Und die Eis entschwindt eim unter den Ougen. Es ist nit umb die Gritli allein. Ich weiß, du willt als ouch fort. Alls dränget von hinnen, unde ich hab mit getrüen Händen min Huswesen gehalten. Es ist nit an mir.“
„Kummt die guete Zit wieder, soll ünser Elsula wohl ihr Kraft finden. Der Summer hot ihr ze hart ton.“
Er nahm die hagere Hand, die rauh und hart war vor Arbeit, und drückte sie leise. Er vermochte sie nicht besser zu trösten, sein eigenes Herz war allzu beschwert. Sie wischte abgewandt mit der Linken über die Augen und gesammelten Willens, mit einem helleren Blick, sagte sie:
„So du meinist, sie sullt erkräften, als will ichs hoffen. Bi Gott, ich hab min Täg nit viel Fröiden gsehn. Sullet ich all min Kinder hingeben, das wird Gott nit wollen.“
Damit wandte sie sich emsig an ihre Milchkübel, und Bombast ging langsam hinüber in den Gadem, Weib und Kind zu suchen.
Schaffende Hände wurden teuer im Lande, da Stadt und Land Fähnlein aufstellten. Die alte Krütlin ließ sich das Magdwerben gut zahlen und brachte endlich ein starkes Bauernmensch aus Lachen zu, das nach einigen derben Ermunterungen allmählich für das Tagwerk im Ochsnerhause erwachte und dann ihren Schwung beibehielt, wie eine Mühle mit schweren Gängen.
Eis ließ die Arbeit, an der sie nicht gesunden konnte, ohne innere Unrast liegen. Aber auch ihre Spindel tanzte nicht mehr so unablässig über den Boden des Schlafgemachs. Sie saß in einem Polsterstuhle, den Bombast in Einsiedeln an Geldesstatt genommen hatte, vor einem der kleinen, niedrigen Fenster, matt von ihren wachen Nächten. Ihre Augen ruhten verschleiert auf irgendeinem beschatteten Fleck, sie suchten dunkle Farben, als wollten sie sich an das letzte Geheimnis gewöhnen.
Und Eis dachte, ohne zu beten, an die Gnadenreiche, der ein wonnesames Schweben in ewiger Gottseligkeit beschieden ist. Auch die Gnadenreiche braucht sich nicht zu regen. Hoheitsvoll und stumm ruhet sie auf den Stufen des höchsten Throns. Nur ihr Herz nimmt auf, was an Gebeten zuströmt. Wie laue Stürme drängt es von der Erde zu ihr und schwellt den weiten Muttergottesmantel. Sie sitzet ganz regungslos, denn all ihr Mut ist den unbegrenzten Bitten zugewandt. Alles Gebet muß durch ihr Herz. Dort wird es zu dem lauteren Feuer, das zu Gott sprechen darf.
Maria sitzet so still, auch sie. Die Auserwählte ist sie, die ihre Hand und ihren Körper nicht besudeln kann, schon auf Erden durch keine gemeine Mühsal. Maria hat nur den Sohn gebären müssen, der sich im Tempel verlief, da er ein kleiner Knabe war – das ist auch bei einer großen Engelweih in Jerusalem geschehen. Wunderbar hat ihn die suchende Mutter gefunden, wunderbar war Theophrast von einem Engel des Herrn zur Mutter geleitet worden. Wunderbar hat es ihn unter den heiligen Strahl des Frauenbrunnens getrieben.
Da schrak Eis aus ihren Träumen.
„Heilig Gnadenmuotter, hilf mir, Sünd, lästerliche Sünd! Hilf mir von denen freventlichen Gedanken! Heilig Gnadenmuotter! O Gott! Min Gott! Es fasset mich grousam!“
Sie ließ die Spindel schnurren und saß gebückt, ganz ihrer hastigen Arbeit hingegeben. Sie murmelte einen Englischen Gruß um den andern, ohne an den Sinn der Gebete zu denken, spann, bis sich die Hand unter einem stechenden Schmerze einkrampfte. Es tat weh und wohl zugleich und hielt sie von Spindel und Flachs ab. Sie rieb heftig die Innenfläche ihrer Hand. Teufels- oder Gotteszeichen? Sie sollte nicht, durfte nicht arbeiten.
War auch sie auserwählt unter den Weibern? Nicht wie die Gnadenmutter, hochgelobt, gebenedeit – nur unter den Erdenweibern auserwählt. Gemeine Arbeit, endlose Mühe hatte sie bis zur Stunde dem beseligenden Ahnen ferngehalten. Seit je war sie anders. Nie hatte ein Mann ihr beim Tanze Brust und Hüfte zu pressen gewagt oder von ihr heimlichen Einlaß begehrt. Und Bombast war ernst, ein Mann von gesetztem Wesen, schon als sie ihn zum ersten Male sah. Nie hatte sie eine Genossin, sie wußte von dem Liebesspiel der andern nichts, ahnte es nur.
Auserwählt. Die Toten kamen und begehrten ihr Gebet. Jungrudi hatte sie gefunden. Vielleicht kam der Hans bald. Er sollte in ihr Gebet aufgenommen sein, um seiner Sünden willen, die er täglich beging. Gritli dazu, die sündigte mit ihm. Und alle die andern, die Lebendtoten!
Sie hörte Schritte. Es blieb nicht Zeit, ihr Gewissen, das sich immer in demselben Netze verfing, zu befreien. Es brannte nur heftig in ihr auf, als sei sie von einer schweren Schuld getroffen.
Theophrast rannte herein und schwang eine tote Katze in der Rechten. Das Tier tropfte noch rot vom Kopfe.
„Mammeli, sie hat das Vögeli erworgen wölln, und ich hab sie erschmissen. Nu ist sie gericht!“
Er strahlte vor Begeisterung. Die Mutter starrte ihn an.
„Mammeli, hörest nit? Du sollt kein Forcht nit han, dann sie ist gericht und tot.“
Er kam langsam nahe und hielt ihr die Katze hin.
„Gang! Mir grouset! Dine Händ sänd voll Bluot!“
Theophrast stutzte, dann warf er die tote Katze von sich und rieb die Hände am Höschen. Eis war tief erblichen. Sie wischte mit zitternden Fingern über ihre Stirn. Sie murmelte:
„Unser Herr und Heiland liebet all Wesen. Er hätt niemalen ein Kätzli erschlahn.“
Das Kind wich eingeschüchtert, es erkannte die Stimme seiner Mutter kaum. Aber Reue konnte es nicht fühlen.
Nach einigem Besinnen:
„Mammeli, sie hänt den Änderle an den Galgen ton, darumb daß er hat ein Wammes gstohln. Und die Katz sollet das ohnschuldig Vögeli mörderen? Das Vögeli schrije umb Hilf und hot mir mit sin Fittich gewunken, sollet ichs nit hörn?“
„Es ist der Katz Art, sie muoß würgen.“
Theophrast stand in schwerem Bedenken. Er sah nieder auf die tote Katze. Aber er fühlte keine Schuld. Er stieß die Katze mit dem Fuß und rief:
„Das Vögeli sollet leben und ist entwuschet. Das Vögeli ist fri, und ich gstund bi dem!“
Er sprang auf die Mutter zu, umfing sie und lehnte in ihrem Schoß, sah lachend auf zu ihr. Er ließ sie nicht, obgleich sie ihn heftig abwehrte.
„Mammeli, du sollt nit ohnlustig sin, das Vögeli ist entwuscht!“
Aber ihr Herz zitterte unter einer fremden Not, die sie entsetzte. Sie fühlte die Wärme des kindlichen Körpers wie ein Glück, dem sie entweichen müsse, um rein zu bleiben für die Bitten aus einer andern Welt.
„Mammeli!“
„Bis still, es wehet mich sunderlich an … kumm, Frästeli, hie … uf min Schoß!“
Dem Kind wurde bange. Sie zog es auf ihr Knie.
„Still, Frästeli, satz dich grad uf unde reck dine Schwurfinger zur Hoch!“
„Was solls?“ flüsterte das Büblein.
Er verstand sie nicht. Sie mußte ihm die Finger zurechtbiegen. Und dann reckte sie auch ihre Schwurhand auf.
„Still, Frästeli, nu wollend wir losen, wes Stimm üns anruoft.“
Sie saß steif und stierte in die Wand. Theophrast sah qualvoll in das starre, fremde Gesicht, seine Hand entfaltete sich und sank langsam auf die Brust, leise glitt er von dem Knie der Mutter. Er kauerte ihr zu Füßen und drückte sein Gesicht in ihren Rock.
„Ich wills nümen wieder tuon …“
Er greinte und wiederholte seine Worte, ohne zu wissen, was er nicht wieder tun werde. Sein ganzes Wesen war wund. Er sah auf und schrie:
„Din Ougen, Mammeli! Du sollt nit so schouen!“
Sie schien zu erwachen, tastete auf den Kopf ihres Kindes nieder, nahm sein angstvolles Gesicht zwischen beide Hände und sah ihm lange suchend in die Kinderaugen, die in Tränen schwammen.
„Mammeli …“
Es brach aus ihr wie ein Gewitter, das erst in großen, spärlichen Tropfen fällt, bevor es seine Güsse entlädt. Sie bog sich tief nieder zu ihm, und der Knabe zuckte unter den ersten Tränen. Als er aber sah, daß seine Mutter ihre Züge wiedergewann, rankte er den schmächtigen Körper an ihr empor und umhalste sie.
Während ihre Tränen sein Gesicht benetzten, saß er auf ihrem Schoß und preßte sie an sich. Und er weinte nicht.
Er wußte, daß die Mutter seines stummen Trostes bedürfe, und er fragte nicht.
Wie eine Erleuchtung war es über ihn gekommen, daß er nicht mutlos sein solle, weil er in diesem Augenblicke stärker sei als die Mutter.
Er wartete geduldig, bis ihre Tränen versiegten, dann streichelte er leise ihr Haar und tröstete sie:
„Nu solltu nümen greinen. Bald kummt der Vater, der wird dir ein Salben geben und lässet dir zur Ader und gibet dir ein Heiltrunk. Do solltu wieder fröidig sin. Kumm, er ist uf Einsiedlen, wir gohnt ihm zue.“
Sie küßte ihn und nickte. Als sie den Pelzmantel umgetan hatte, Theophrast wich dabei nicht von ihrer Seite, ergriff er ihre Hand und ließ nicht mehr los. Im Vorbeigehen zog er die Mutter zu der toten Katze. Die hob er auf und meinte beruhigend:
„Die tuet dir nünts nit, Mammeli, die werfend wir über die Bruck.“
Eis ließ sich von ihm führen.
Sie sah Bombast von weitem, denn es war frostklar. Eis flüsterte bedeutsam nieder:
„Sag nit dem Vater, daß ich hab geweint, es möcht sinem Herzen wehe sin, dann er ist fast bekümmeret umb üns.“
Bombast hätte sie beinahe nicht beachtet. Theophrast mußte ihn anrufen und er tat es erst aus nächster Nähe, so wunderlich hatte ihn das Verbot der Mutter berührt.
Da ersah der Vater die Seinen.
„Ei, kummt ihr mich ruefen?“
„Nein, Bombast, wir gangend dir ungfährt entgegen.“
„Ich bin umbsunst geritten. Der Wälti Schwend schicket mir sin Knecht für die Tür, do ich wollt absteigen. Er sije so weit wohl und bedürfet min Arznei nit meh. Die schwobisch Arznei sije siner Natur nit günstig. Dannocht wolle er vor all getane Müh etlich guete Zürcher Plappart, so weit er schuldig sije, an mich wenden. – Ich mueß lachen, dann der Knecht saget die Litanei in eim Atem her, als man sie ihm eingelernt, drucket mir einTüchli mit denen Zürcher Plappart in den Schoß und ducket eilig ins Tor, vermeinend, ich wollet ihme die Quittung blau hinter die Ohren schreiben. Der Wälti Schwend ist der dritt sider Wochen zween, dems für min schwobisch Arzenei grouset. Die schickend all uf Richterswil zem Hansen Binzenmeyer. Der hat kein schwobisch Arzenei. Der möcht ihnen mit sin schwyzer Tüfelsdreck die Kränk samen der Seel us dem Leibe fegen.“
Er lachte bitter vor sich hin und trieb das Jörgeli an. Frau und Söhnlein gingen an seiner Seite.
„Sowerdind wir balde ünser grings Sparhuifele ufgezehret han. Frästeli, du wirst mir kein Arzt nit, das ist eine sure Kunst!“
Theophrast aber wußte, daß er gewaltige Trostkräfte besaß. Wenn er auch nicht des Vaters Rede erfaßt hatte, so war ihm doch ihr bitterer Ton aufs Herz gefallen. Er drückte seiner Mutter die Hand und meinte:
„Ich will dannocht ein Arzet sin. Nit einer vor gring Lüt, sundern ich will über die Berg, als der Änderle. Weit über die Berg.“
„Hei, min Vögele, was flügge ist din Schnabel! Werdind es als ouch dine Fittich sin?“
Theophrast schwieg, denn er meinte, sein Vater spiele auf das Vöglein und die Katze an. Er wagte nichts weiter. Dem Vater war nicht zu trauen, er kam hinter alles.
Aber in Eis rang es nach einem Laut. Daß man Bombast von der Tür wies, traf sie selber. Und Theophrast wollte über die Berge, jetzt schon in seinen grünen Jahren redete er davon! Das jagte ihr Gewissen auf, denn Bombast blieb nur ihretwegen an der Teufelsbruck. Sie entlud sich in heftigen Schimpfreden über Wälti Schwend und Hans Binzenmeyer.
Bombast erschrak über sein Weib, das niemals die Sanftmut verloren hatte, er griff nach ihr, sah immer besorgter in ihr gerötetes Gesicht. Auf ihren Augen lagen Zornschleier. Theophrast ließ die Hand der Mutter fahren.
„Eis? Elsula! Nit, min Eis! Loß guet sin!“
„Guet sin? Guet sin? Wir müessend all verkummen! Das Lurenvolk! Der verloren Pofel! Wir müessend elend werdin umb sie!“
Bombast stieg ab und umfaßte das fiebernde Weib.
„Eis, loß sin! Was ficht dich an! Elsula! Min Eis!“
Das Jörgeli zottelte davon, es witterte den nahen Stall, Theophrast rannte ihm schreiend nach.
Herr Wilhelm hielt sein Weib, streichelte es mit zitternder Hand. Er sah ihre Not. Er hätte aufschreien mögen vor Qual um sie.
„Elsula“, flüsterte er, „ich bin bi dir. Du bist min Liebs und Guets. Du sollt niemalen nit von hinnen. Du sollt bleiben, wo du bist. Und wir bi dir. Du min Eis. Wir wollend üns schon drein schicken. Loß guet sin, du bist bi mir.“
Sie drängte sich an ihn, als müsse sie in Todesangst ersterben, und sie hauchte:
„Bombast, in mir ist alls zerhouen, alls in Scherben! Hilf mir, dann ich muoß vergahn!“
Er leitete sie langsam nach Hause und sprach ihr sanft und heiter zu; das Herz wollte ihm brechen. Er drängte, unaufhörlich redend, sie in die Schlafkammer hinauf, entkleidete sie, bettete sie und reichte ihr einen milden Schlaftrunk. Er mußte auf dem Bette sitzen, sie ließ ihn nicht von sich, bis sie eingeschlafen war.
Dann sank der Mann in die Knie, stöhnte in die Bettlaken hinein:
„Gott, Herre Gott, was willtu! Min Gott, unde warum?“