Читать книгу Paracelsus - Erwin Guido Kolbenheyer - Страница 6
Wegmacher und Wege
ОглавлениеKlaus Weßner zog seine kurze, fette Stirn in Falten und ging, so steif er konnte, in die Schlafkammer. Uli Enz ab der Reuten, ein Klostervogt, saß im Gadem. Der Sauspieß lehnte zwischen seinen Beinen, und der rechte Arm lag auf dem Tische. Die Finger trommelten. Manchmal trommelten sie sich etwas weiter tischeinwärts, wo die Zinnkanne mit dem Seewein stand.
Klaus Weßner kam aus der Schlafkammer zurück. Er hielt einen Schlüssel in der Faust, dessen Bart ein Kunstwerk war. Vom Ofensims holte er den Leuchter, bückte sich schnaubend nach einem Kienspan, setzte ihn an der Herdglut in Brand, entflammte den Unschlittstummel. Dann sah er noch einmal bedeutungsvoll hinüber.
„Zweenhunnert und fufzig.“
„Zweenhunnert und fufzig“, brummte Uli Enz und trommelte härter.
Klaus zog die Brauen so hoch, daß die fetten Runzeln unter dem eingekämmten Haar verschwanden. Er schlug mit dem kunstreichen Schlüsselbart ein paarmal auf die Tischplatte. Seine Wangen zitterten vor Erregung wie eine wohlgeratene Sülze, an die man das Messer setzt: der Klostervogt tat nicht freundlich genug. Klaus funkelte ihn aus schleimigen Äuglein an.
„Zweenhunnert fufzig … uf ein Hieb! Kost’t Üch ’s Moulufreißen … alleinig …“
„Und du tuests nit der Gnadenmuotter ze Gfalln!“
Klaus schwapperte vor Ehrgeiz, denn seine große Stunde kam nur alle sieben Jahre einmal, und er wollte sie ausgenießen.
„Und tu ichs nit … so … so …“
„Gangent wir uf Zürch."
„Ze Zürch seind ihr eh gewest!“
„Nit allenthalb … daß dich der Tüfel schänd, tuests oder nit! Mir ist der Ars nit an din Stuhl gewachsen!“
Der Vogt paukte auf den Tisch, daß die Kanne tanzte.
„Sollichs … das wollend wir für den Herrn Diebold bringen! Üppig reden! Wüst Umbpochen! Ich künnt an diner Statt sin, eh dann du us den Windlen bist gewest! Der Klus Weßner hats, und ihr brauchet ’s. Der Klus Weßner tuets, wil er ist geneigt, wohlgeneigt, wohl-ge-neiget!“
Der Vogt stieß mit der Saufeder aufs Estrich und erstickte den prächtigsten Fluch. Unwillkürlich griff er nach dem Krüglein, seine Galle hinunter zu spülen. Klaus Weßner aber stand bereits bei der Tür, denn er fühlte, daß er für dieses Jahr nicht höher hinaus konnte. Es blieb immerhin erfreulich, daß der Vogt den besten Fluch verbissen hatte.
Die Kellerluke kreischte laut, sie durfte nicht geschmiert werden. Die Treppe krachte, sie durfte nur notdürftig gebessert sein. Wer da seine Tritte nicht richtig setzte, lief Gefahr hindurch zu brechen, oder er stieg unversehens in ein großes Faß, das auf dem Balken eines Bockes schaukelte und samt dem Eindringling zu Boden donnern mußte. Die Stiege führte in das Faß. Klaus nur wußte die Stelle, wo es gut war, auf die Leiter abzusteigen, die nebenbei lehnte.
Dann ging Klaus am Wein vorüber, den er selber aushob und auffüllte. Er kam in der Tiefe an eine gut beschlagene Tür. Jeder hätte sie für eine Tür mit ehrlichen Angeln gehalten, Klaus kannte sie besser. Er stemmte sich dagegen, als er sie aufsperrte, stützte sie, denn die Tür glitt samt den Angeln aus der Mauer und sank vornüber in den Kellergang. Wer sie nicht hielt, den konnte sie erschlagen, oder er wurde von den Eisenhauern erfaßt, die von der Kopfleiste des Beschlages in den Keller fletschten. Klaus liebte seine Erfindung, denn sie gab ihm einen ruhigen Schlaf.
Gleich hinter ihr stand die Eisenkiste mit dem Marmelschloß, das von der Mitte des Deckels aus seine sechzehn wohlgefederten und gut geschmierten Riegel in den Truhenwänden verankerte.
Er hing das Licht an einen Nagel und umtastete den Koffer wie einer, der sein Liebchen herzt. Dann ließ er die Riegel schnappen, hob den Deckel, setzte sich lächelnd auf die Kante und beäugte die prallrunden Ledersäcke. Das tat er für sein Leben gern.
Fromm und sanftmütig lagen sie da, wie ein Ferkelwurf an den Zitzen der Muttersau. Und jegliches Säcklein enthielt unbegrenzte Möglichkeiten, war eine unveräußerte Macht. Was da lag, vermochte halb Pfäffikon aufzukaufen. Doch dann wäre Streit mit den Bauern, Hoffart und Neid der Herren über Klaus gekommen. Auch eine Prälatenpfründe hätte es eingebracht, eine sehr dicke Würde also. Da knapperten aber und sogen zu viele mit. Es möchte alle erdenklichen Sünden, getane und zukünftige, für Zeit und Ewigkeit ausgetilgt haben, und des Herrgotts Fluch und Verdammnis wäre am jüngsten Tag verstummt, wenn die Seele des Klaus ihre feisten Ablaßzettel vorgehalten hätte. Doch keiner soll der göttlichen Gerechtigkeit vorgreifen. Und endlich könnte der Klaus sein Leben lang in Bett, Bad und an wohlbesetzten Tischen liegen und vollem. Nichts, gar nichts brauchte er zu besorgen, wenn er nur nach und nach einen Sack um den andern öffnete und … da stieg es dem Klaus angst und bang in der Kehle. Das Geld hat Beine, es konnte laufen, sollte laufen, aber wieder zurückfinden, angemästet vom Zins, wie Säulein aus dem Ecker zurückkommen. So verlohnte sich schon das bißchen Dünkel und Hochmut derer, die abgeweidet wurden. Der Klaus blieb der Schlauere.
Wie gut roch es in Klausens Keller! Dumpfig, doch leicht durchduftet vom Wein; selbst der dünne Schimmelpilz, der auf den Ledersäcken wuchs, hatte einen wohligen Geschmack. Klaus schnupperte jeden Sack ab, bevor er ihn öffnete. Er schwelgte, da er die zweihundertfünfzig Rheinischen in den Zwilchbeutel des Klosters klimpern ließ; wohllüstig erglühten seine Wangen.
Er kam trunken wieder und war demütig, freundlich, satt. Saß behaglich in der Ofenhölle und ließ den Uli Enz ab der Reuten die Gulden nachzählen.
„Vollwichtig, vollwichtig“, brodelte er und winkte von dem warmen Sitze dem Vogte zu, der unter der Last des Silbers ging.
Anders die Ochsnersche Gevatterschaft. Das waren Gotteshausleute. Die zahlten mit Schweiß, den man nicht auf die Zinsweide schicken kann. Der Rudi Ochsner und der Hans standen seit Wochen im Holz, und sie hatten die Knüppel zu beiden Seiten der Straße aufgeführt, die jenseits der Teufelsbruck durch das Hochmoor zieht. Wo der Boden weich geworden war, wurden die Knüppel in die Sumpflachen gestampft, verhangen und verkeilt. Der Rudi Ochsner konnte froh sein, daß ihm vergönnt war, die Engelweiharbeit im Frühjahr zu erledigen. Wenn das Rädlein über seinem Dache stand, mußte er die Hände frei haben. – Mit ihnen fronte Baltisar Schürli und sein Sohn Heini.
Beide standen im Ruche der Sonderbarkeit. Baltisar war erst botmäßig geworden, als schon weiße Haare in seinem struppigen Kopffell glänzten. Man traute ihm zu, daß er ein Kaufmann in Schaffhausen gewesen sei, den die Gläubiger überholt hätten. Er trug langen Bart und lange Haare, seine Nase war rot geädert. Im übrigen verhielt er sich so still, daß die Leute seine Verschwiegenheit durch trüben Leumund auf das beruhigende Maß zu ergänzen suchten. Am Etzelhang bewohnte er eine Hütte und brannte Kohlen, jedoch nur so viel, als das Kloster von ihm begehrte. Sein Sohn entlief mit zwölf Jahren. Baltisar war auch darüber stumm geblieben. Man verdächtigte ihn, gegen sein eigenes Blut gefrevelt zu haben. Dabei kam man allerdings auf eine merkwürdige Eigenschaft des Markgenossen.
Nicht lang nach dem Verschwinden des Knaben zog er auf einem Handwagen Kohle ins Kloster. Etliche Einsiedler Leute begegneten ihm bei der Kapelle des heiligen Gangolf, die hinter dem Galgenberge liegt. Sie riefen ihn an:
„Baltisar, hast din Büebli verbrennt! Baltisar du muoßt hangin!“
Er blieb stehen und antwortete:
„Wohl, du Gerechter. Ich han min Büebli verbrennt, heimlichen in Flammen des Zornes, do er ist von mir gewichen. Wohl, du min Bruoder, ich sullt sterbin. Dann ein jedlichs Leben ist des Todes schuldig und mördert ein jeder vor sin Teil, den er am mehristen liebet, dann er willt ihn als trutzig behalten und hanget ihm an und saget niemalen nit: Gang von mir, du sullt ganz Gottes sin und gar.“
Die Einsiedler Leute stutzten bei dem unverhofften Bekenntnis. Doch jener, der Baltisar des Mordes bezichtigt hatte, faßte sich schnell, da er sah, daß einer wider solche Reden nur in den Nebel schlagen könne. Er schrie den Köhler an, und während er schrie, stieg ihm das Blut zu Kopf, daß er glaubte, er müsse ehrlich erzürnt sein.
„Du Laur, willtu frumbe Lüt narrin?“
„Das sije fern, du Gerechter“, antwortete Baltisar und schloß die Augen.
Da hieb ihm der Schreier ins Gesicht, um nicht in den Nebel zu schlagen, denn er meinte, daß er verhöhnt würde. Baltisar taumelte wohl gegen den Wagen, daß die Kohle raschelte, aber er richtete sich wieder auf und rief, obwohl er bebte und sein Auge tränte: „Mach vollend, lieber Bruoder.“
Er reichte ihm die andre Wange und bekam, was er begehrte, denn die Einsiedler waren alle zornig geworden, daß der Mensch seine Mannheit von sich warf. Sie verbleuten ihn, er zog aus der Nase blutend ins Kloster.
Ein Weib hatte es mit angesehen, durch sie wurde der Handel offenbar. Aber die Herren ließen Gras darüber wachsen, zumal Baltisar Schürli nicht geklagt hatte. Er war nur hinkend und blutrünstig ins Kloster gekommen. Wenn aber einer hinkt und blutet und still bleibt, will ihm kein Biedermann seine menschliche Schwäche angesehen haben.
Zehn Jahre nach diesem Erlebnis sah man eines Tages den Baltisar Schürli vor dem Handwagen mit glänzender Kohle, aber er zog nur die halbe Last, weil ein junger Mensch hinten anschob. Auf den Stufen der Gangolfkapelle saßen zwei Pilger, die hörten ein Gespräch zwischen den beiden und brachten es unter die Leute.
Der Baltisar hatte vor der Kapelle gehalten, und der junge Mann war zu ihm getreten in der Meinung, er solle nun den Zugriemen nehmen. Der Alte aber sagte bloß:
„Hie hat mich vor zehen Jahrn einer des Galgens schuldig geheißen, indem du mir bist entwichen, min Sohn. Lobe den Herrn, dann sie habend mich wacker verbleuet, und ward ich manniger Sürid entledigt unter ihren Füsten, darumb daß ich mich dorin ergeben und nit widergeschlahn.“
„Vater, du bist ein Bruoder des Lebens meh dann ich. Gott hat offenbar an dir und mir gehandlet.“
Und sie rollten ihre Kohlen weiter.
Die Einsiedler erfuhren also, daß Heini zurückgekehrt sei, sonst aber nicht viel mehr. Darum betrachteten sie den jungen Schürli nicht weniger aufmerksam, wo immer er sich zeigte. Man sah eine große Narbe über Stirn, Wange bis ins Kinn. Man sah, daß er dieselbe Nase im Gesicht führte wie sein Vater, nur nicht von blauen Äderchen gesprenkelt. An ihm konnte man aber noch einen außerordentlich langen Hals beobachten, den ein spitz vorstehender Adamsapfel zierte. Dieser Adamsapfel, der eher einem Schnabel glich und bei jedem Schluck sonderbar auf- und niederstrebte, wie ein Hahn beim Krähen duckt und ruckt, trug dem Heini unter den Leuten den Namen Kraihahn ein. Weil aber hinter dem Barte des Alten nach den gleichen Nasen ein ähnliches Halsgebilde vermutet werden konnte, hieß man den Alten einen heimlichen Kraiher.
Heini Schürli ging im härenen Gewand von arg verschossener Farbe, er gürtete sich mit einem Hanfstrick, sein Scheitel wies aber, trotz allem religiösen Wesen, keine Glatze. Und bald ging Baltisar genau so wie sein Sohn.
Selten sprachen sie miteinander. Flog ihnen irgendein Wort zu, das sie ärgern und aufstacheln sollte, lächelten sie leise und blickten einander zufrieden an.
Hans Ochsner ertrug derlei wie eine Spinne, die unters Hemd gekrochen ist. Der alte Ochsner aber lauschte seit jener Nacht, da ihm der Jungrudi gestorben und der Enkel geboren war, durch den Alltag hindurch auf Stimmen, die andre nicht vernahmen.
Schürli, Vater und Sohn, taten stumm ihre Arbeit. Dem Rudi Ochsner wäre es nicht angestanden, die Kleinleute zum Reden zu bringen, sie waren ihm vom Kloster beigegeben worden. Der Ochsner führte sein Wappen, und es gab Länder, wo Kohlenbrenner für unehrlich angesehen wurden. Rudi überließ die beiden dem Hans, und der verfuhr mit ihnen nach seinen gereizten Kräften. Die Schürli keuchten unter der Last, die er ihnen auflud, dann aber nahm er das Dreifache an Knüppeln auf die Achsel, lief ihnen voraus, warf es hin, als wärs ein Bund Stroh. Vor der Lache wartete er, bis die beiden angekeucht kamen, schleuderte ihnen jene Knüppel der Reihe nach vor die Füße, die gerade gut zueinander paßten, und die Schürli hatten wohl zu achten, daß sie nicht fehlgriffen, sonst hagelte Schwur und Fluch auf sie nieder. Das schien sie härter zu treffen als Prügel; sie bekreuzten sich und sahen tief betrübt zu Boden.
Der alte Ochsner schwieg. Er hatte versucht, sich ins Mittel zu legen, aber Baltisar schlug die Hilfe flüssig ab:
„Loß ihn, lieber Bruoder, er hat sin Wesen nit us ihme Selbsten und ist ein Helfer wider ünser Sünden.“
Rudi Ochsner zuckte die Achsel und arbeitete abseits. Er schnitt die Zwiesel zurecht, mit denen die Hölzer im Sumpfe verhangen wurden, und keilte sie in den Boden.
So gedieh der Knüppelweg, als gelte es die ewige Seligkeit. Und es galt auch so viel, wenigstens für die beiden Schürli, deren Wangen zusehends hohler wurden, während die Augen stets inbrünstiger erglühten. Dem Hans wurde dabei nicht wohl zumut. Die beiden legten sich sachte auf sein Gewissen und sanken immer schwerer hinein, wie einer langsam im frischen Heu versinkt. Er verbiß öfter das Fluchen, als ihm bekömmlich war.
Eines Tages gegen die Mahlzeit hin, als die beiden halb verlechzt ihre Knüppeltracht vor dem Sumpfloch abluden und demütig warteten, daß er ihnen vorwarf, was der Reihe nach angelegt werden sollte, packte der Hans einen Knüppel und schleuderte ihn in die Lache, daß er aufrecht stecken blieb und alle übel bespritzt wurden. Er griff die beiden, den Baltisar und den Heini, vorn an ihren Kutten jeden mit einer Faust, riß sie hoch und schüttelte sie, dabei fletschte er sie in hellem Zorn an:
„Daß üch der hitzig Ritt ufbeiz! Potz Tauben, ich künnt es nimmeh schouen an! Was hänt ihr hinter den Rippen vor ein Bütel mit Dreck! Es künnt üch einer ertretin, daß ihr ufschreiet us der lästerlichen Hoffahrt! Wollet ihr anders sin unde baß!“
Baltisar und Heini hatten einer des andern Hand erfangen, während sie zwischen Himmel und Erde hingen, sie hielten einander und versuchten zu lächeln, was zu ihrem Glück mißlang.
Rudi Ochsner sprang hinzu und rief:
„Bi dem Eid, Hans! Du sollt Fried haltin! Ich mahn dich zem ersten!“ Der Hans stieß die beiden ab, er starrte seinem Vater ungläubig in die Augen.
Es kam nicht allzu häufig vor, daß ein Eidgenoß den andern um den Landfrieden mahnte. War einer aber beim Schwur aufgerufen, so galt es die Ehre des Mahners, vor den Herren zu klagen, wenn der Raufbold nicht abließ. Der Mahner lud eine nachhaltige Feindschaft auf sich.
„Du tuest mir hart“, stammelte der Hans.
Er trat zurück, aus seinem Gesicht war das Blut gewichen.
„Ist keiner, der sichs an mir getrouet, Vater. – Die sänd ohnlidig, beid.“
Schürli, Vater und Sohn, waren Hand in Hand auf einen Knüppelhaufen gesunken, sie fanden ihr Lächeln wieder. Beide hatten sich schon des Todes versehen, was ihnen nicht schwer fiel, da es ihre Gewohnheit war, des Äußersten gewärtig zu sein. Nur war ihnen diesmal leibhaftig angst geworden. Sie atmeten erleichtert und schlugen den Schrecken zu ihrem Bußschatz.
„Loß die“, drang der alte Ochsner mit gutem Ernst, „die gohnt ein andern Weg, dann du und ich. Du künntist sie nit gewinnen. Sie tunds Gott zuo Gfalln und nehmend das Krüz.“
Der Zorn des starken Mannes stockte und wich einem unverhohlenen Erstaunen. Das Herz des Alten, das schon gezittert hatte, wurde froh, da er sich des wilden Knaben erinnerte, der ihn vor Jahren aus gleichen verwunderten Augen angesehen hatte, wenn er einer Torheit überwiesen war.
Hans dehnte sich hin und her, wischte seine dreinfahrenden Hände an den Hüften, und sein belastetes Gewissen drückte den letzten Zorn nieder, er fragte:
„Willtu die Kraihahnen nit vor heimlich Schälk achten, so eines Manns Gemüet us itel Hundsfötteri verhöhnend?“
„Ich sinn, sie tunds nach ihrem Glouben umb Gottswillen.“
Der Hans schob die Mütze in den Nacken und rieb die Stirn, hinter der es ungewohnt zuging. Er brummte in seinen blonden Bart: „Was vor ein sunderlichs Gefalln er bi denen künnt finden?“
Hans meinte nicht seinen Vater, sondern den lieben Gott. Er sah den Prügel aufrecht in der Lache stehen, wunderte sich über seinen Grimm und riß den Knüppel aus, daß der Moorboden schmatzte.
Er winkte den beiden.
„Wohluf, wir wollend darumb nit sumen!“
Doch Baltisar breitete vorerst die Arme gen Himmel und sagte:
„Herre, host du dich gewandt von uns unde din Zuchtrueten von uns genommen? Und liebest uns nit meh? Dann wen du liebest, den züchtigest du. Siehe, wir sänd bereit.“
„Des solltu nit verwunderet sin“, meinte der Hans. „Der willt mit siner Zuchtrueten nit allerweg in ürn ufgeschwollin Froschlaich houen, daß es zem Himmel sprützet, das scheitzlich Wohlgefallin!“
„Hör ihn nit, Herr! So er dich lästeret, ists umb Unserer Schwachheit willen, darnoch wir des Heils noch nit erfüllet sänd zur Gänzi, daß es mit hellen Flammen von üns strahlet. Hör ihn nit, dann ouch in derselbigen verhärten Brust schlahet das Herz ehrbar gen den Vater, ob es ouch verborgen sije!“
„Halts Moul! Arbeit! Und loß eins Manns Herz ohnbeleckt, du Tippei!“
Damit gewann der Hans sein inneres Gleichgewicht wieder, und die Knüppel fanden ihren Ort in der Lache.
Die Gotteshausleute mußten im Jahre der großen Engelweih weithin Wegarbeit leisten, so daß nur jene, die im Kloster schafften, auch dort verköstigt wurden. Die Auswärtigen erhielten ein Entgelt für eigene Speisung.
Die Sonne hing über dem Tödi, und der Magen zeigte dieselbe Zeit an, so gingen die beiden ungleichen Paare zu ihren Bündeln. Doch die Schürli setzten sich nicht, sondern standen dicht bei einander und ratschlagten. Als sie übereingekommen waren, knüpfte der Baltisar das Tüchlein auf und ging, gefolgt von Heini, zu Rudi Ochsner.
„Du bist der erst sider mannigem Jahr, so Unser nit speiet. Willtu des ärmren Bruoders Brot verachtin?“
Rudi Ochsner sah Brot und Käse, und beides trug vielfach Zeichen des schürlischen Gewerbes. Allein er wußte, daß Frömmigkeit leicht über unschuldigen Erdenschmutz hinwegkommt. Er schnitt von der gereichten Speise ein wenig ab, um den Geber nicht zu kränken, und gab ihnen von dem Rauchspeck des Ochsnerhauses, was sie freudig nahmen.
„Kummt, satzet üch ze üns“, sagte Rudi Ochsner.
Sie taten es gern und hielten sich in bescheidener Nähe, sie genossen den Speck unter Augenzwinkern und beifälligem Gemurmel.
Den gleichfalls angebotenen Wein wies aber Baltisar mit Haltung von sich, während sein Sohn Heini ein deutliches Verlangen kaum bezwang. Baltisar meinte:
„Er ist des Tüfels.“
„Er ist mit nichten des Tüfels, sundern Rapperswiler“, berichtigte der alte Ochsner.
„Er ist dannocht des Tüfels, dann er hat min Leben vom rechten Weg abtrieben.“
„Des züget din frumber Rüssel“, brummte der Hans.
So hatte eine Vermutung, die von den Einsiedlern an die blaugesprenkelte Nase des Baltisar geknüpft wurde, ihre Bestätigung erfahren.
„Hans Ochsner, du sollt eim Mann, der büeßt, ohngeschmächt sin Buoß verschärfin. SinGlouben solltu nit bespein.“
Der Hans sah auf, als habe er nicht recht gehört, er runzelte die Stirn. Baltisar hob beschwichtigend die Hand und fuhr schlicht und leise fort:
„Ich hab ein erschlahen im Rausch. Hab all das Meinig vor Wergeid gelan und muoß als dienen, bin hörig worden und muoß Kohlen brinnen, indem mir nit ist gelossen, was ouch die Kirchenbueß künnt decken. Als ist all min Leben der einen Schuld verpfändt. Und ist mir das Wib verschmacht’ unter der Armuet. Bi Gott, ich hab nit gelobet miner Schmach ze geschwiegen, dannocht ich hab es ton, do es der Bueß frommt. Das ich red, machet allein, weil einer hat an diesem Tag erkennt, wir sänd nit zwen verloren Narren beid, sundern tuends umb Gottswillen.“
Der Hans lugte mißtrauisch hinüber.
„Du hast ein erschlahn?“
„Ich hab den Matz Ploch ze Schaffhusen erschlahn unde all min Fröid mit ihm. Ich kunnt ni sagin, wie es ist beschechn, dann der Win wandlet mich ganz. Er ist vor mir gelegen, min Messer in der Brust bis an das Heft. Alle hänt uf mich gewiesen und geschrien: er hat den Matz Ploch erschlahn. – Und ist min Fründ gsi.“
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte der Hans:
„Was aller Gestalt machet ihr üch ze Narren beid vor üns?“
„Mit nichten vor allen! Indem der Ruodi Ochsner hat ünser Bueß angesehen. So üns einer gloubet, werdind wir kein Narren nit sin.“
„Was schweigst nit uf der Straßen ganz und gar, sundern redest als ein hütziger Fraterzell, so du din Moul uftuest? All müssend lachen, es sige dann, daß eim der Zorn ufwischet, darumb daß du tuest als ein Hund, welicher den Fuoß leckt, der ihn tritt.“
Der Baltisar starrte weithin.
„Das ist ein schwer Frag, so du tuest. Aber ich muoß min Rousch han. Ehedem ist er im Win gelegen, jetz aber in der Schmach. Wolle Gott, daß dieser ein frumber sije. Ich weiß nit. Mir ist uf diese Stund, als sije ich von Grund us nüchteren. Das machet allein des Ruodi Ochsner Vertrouen. Mir ist, als künnt ich vor üch Ochsner beiden nit meh büeßen, indem mine Buoß in der Schmach leit und daß ich ganz sige zertreten. Ich nit weiß, ist es Himmel oder Höll: daß Gott mich hat vor üch der Buoß erlediget, oder daß der Tüfel mir wolle den Weg wehrin. Ich weiß nit, was es ist.“
Rudi Ochsner sah, wie die Hände des Baltisar vor innerer Erregung zitterten, er hörte, und er glaubte dem Sonderbaren. Der Hans aber schüttelte den Kopf, doch sah er stumm zu Boden.
Heini Schürli legte seine Knochenfinger auf des Vaters Arm.
„Loß ihnen sin“, flüsterte er, „wir wöllends zwingen.“
„Das ist es nit, Heini. Hot anher keiner geruofen und gewinkt, darumb so ist es still beschechn. Der Ruodi Ochsner hat aber geruofen. Er hat von dem geringen Brot gessen, indem wir sin Gemüet versuochet hänt. Nu gilt ein Frag, was Hochmuet sije oder nit. Dich hänt die Brüederen vom gemeinsamen Leben us Sindelfingen geschickt, uf daß du des Vaters Buoßwerk teilist. Willtu nun Zäun unde Muren ufrichtn?“
So sahen die Ochsner, daß nicht sie die Wählenden waren, und das verdroß beide nach eines jeden Art.
Der Rudi meinte: „Sollich Zweifel mügen dich nit bedrucken, Baltisar Schürli. Gang diner Weg nach dem Glouben ohngeschorn umb mich oder ein andern.“
„Ich habs ton und wills furthin ton. Allein es ist härter, dann du vermögest es ze glouben.“
Der Hans winkte ab. Er stützte sein Kinn in die Fäuste und genoß die Ruhe. Im Rudi Ochsner stritt Für und Wider. Fast gereute es ihn, daß er sich in den Handel gemengt und den Sohn beim Eid gemahnt hatte. Er wurde eher darüber zufrieden, daß der Hans die scharfe Mahnung bei den wunderlichen Worten des Baltisar verschmerzt zu haben schien, als daß er die Zunge dieses Mannes gelöst hatte. Die Reden des Baltisar fingerten ihm zu nahe bei seinem eigenen Wesen herum, und das stand keinem zu. Der Hans hatte das Richtige erwittert: Halts Maul! Arbeit’ und laß eines Mannes Herz unbeleckt! – Aber es blieb im Rudi Ochsner ein ungeklärter Rest. Er war zu dieser Stunde der unruhigste unter den vier Männern. Die beiden Schürli wichen wieder in ihre Dämmerung zurück. Der Baltisar hatte endlich gesprochen und damit mehr gestillt, als sein Gehaben eigentlich vermuten ließ.
Da sie die Arbeit wieder aufnahmen, sagte der Hans:
„Tuet ihr nach ürem Bedünken, ich will üch nit hetzen.“
„Wir wöllends ton.“
Sie schafften jedoch nicht weniger als zuvor, da der Wille des starken Mannes über ihnen gestanden war. Sie mühten sich im Schweiße des Angesichtes bis an den Rand ihrer Kräfte. Das tilgte den leisen Verdruß der Ochsner, denn sie sahen, daß die beiden nicht unwert seien. Rudi Ochsner konnte zufriedener den Tag beschließen, als er gehofft hatte, allein weder er noch der Hans sprachen, als sie gegangen waren, während die beiden anderen am Arbeitsplätze rasteten, vom Baltisar Schürli und seiner Buße.
So ging die Fronzeit zu Ende, ohne daß die ungleichen Männer mehr mit einander geredet hätten, als nötig war. Doch am letzten Abend, da der Klostervogt die getane Arbeit besah und sie der Pflicht ledig geheißen wurden, hing eine leise Spanung den beiden Alten an.
„So du in einer Not sollt sin, gang ins Ochsnerhüsli an der Tüfelsbruck“, sagte Rudi Ochsner dem Baltisar.
„Du weißt mine Not, lieber Bruoder, es möcht mir kum eine härter zuostoßen.“
„Wir hangend all am Leben, Baltisar Schürli.“
„Das sije Gott geklagt.“
„Des sije er gepriesen, dann es ist von ihme.“
„Wohl dir, du hast kein Toten nit vor dir liegen und din Messer steckt ihme in der Brust bis ans Heft.“
„Ich han als ouch min Toten, Baltisar Schürli.“
So schieden sie von einander.
Auf dem Heimwege meinte der Alte zum Hans:
„Er wird nit kummen.“
Der Hans brummte: „Sand dannocht Narren beid. So ers im Rousch ton hat, was mueß er all sin Leben darumb hinschmeißen.“
„Hans, wir sänd all Narren des, was über uns hinweggoht. Und wir sänd in eim ohnsichern Grund verhangen als die Knüppeln in dem Moor. Und weißtu, ob es weise sije unde gerecht, was über üns hinweg willt, dessen hinwider wir die Knüppeln sänd und der Weg? Du weißt es nit. – Also wir hänt den Weg gebout vor die Vielen, so zu der Engelwih kummen wölln. Es werdind die mehristen Narren sin: der hoffärtigen Demuet, der itlen Grechtigkeit, der Luog wider das eigen Herz. Die werdind all meinen, als frumb unde gerecht ze sin und nit im mindest Narren. Dann sie gohnt den Weg, zuo dem die Lüt sagend, es ist ein frumber und gerechter Weg. Was gloubest du, mueß Gott und die heilig Jungfrou dasselbig meinen dann die Lüt?“
„Do frag ich nützit nach. Wir hänt ton, was üns ist zuokummen. Und so einer mir wollt in die Quer mit Ohngebühr, der soll guet versechen sin, dem will ichs wohl wisen.“
„Hans, das ist din Art und ist ein trüe Art. Jedannocht es lebet ein ander Art, die wund wird und bluotind am ohnsichtbaren Ding. – Morgenden Tages wollend wir uf das Habernfeld, dann es ist hoche Zit, sunst möcht er nit reifen. Und die Wochen gang ich als ouch uf Schmerikon und kost den Win. Es möcht ein richs Jahr sin, do müessend wir zesammen stöhn.“
Über den Alltag und seine Arbeit wurden Vater und Sohn einig. Aber sie hatten an dem Büßer Baltisar erlebt, daß sie unter anderen Gestirnen gingen. Der Alte dachte in diesen Tagen mehr an Jungrudi. Es focht ihn, während sie auf ihrem Knüppelwege hinschritten, eine Sehnsucht nach dem Toten an.
In dem dunklen Flur des Ochsnerhauses saß auf der Treppe der kleine Theophrast und rührte in einem Tiegel.
„Was tuost, Frästeli, in aller Finsternus?“
„Die Muotter leidts nit.“
„Was rührst do?“
„Ein Salben vor Podagram.“
„Kumm, es wird Nacht.“
„Min Salben ist nit gar.“
Rudi Ochsner öffnete die Gademtür, es fiel Licht auf den Kleinen, der ruhig rührte.
Der Alte kehrte noch einmal um und setzte sich zu ihm auf die Treppe, deren nächste Stufe von den fragwürdigen Heilmitteln zeugte.
„Was vor Ding, Frästeli, KotzTüfel! Küehdreck,duSäuli!“
„Sine Salben stinkend als ouch“, meinte das Kind ruhig.
Der Alte lachte. Theophrast sah zu ihm auf und runzelte die Stirn.
Der Alte lachte noch mehr, bog den blonden Kinderkopf zurück und sah in die funkelnden Augen. Da verstummte der Alte, eine jähe Freude schlug ihm durch die Brust.
„Frästeli, dine Ougen sänd Ochsnerougen!“
„Wes Ougen?“
„Din Ougen, Büebli.“
Theophrast wandte sich wieder an seine Salbe, denn der Großvater redete ungereimte Dinge.
Konrad von Rackeiberg, Fürstabt, ballte die Fäuste und knirschte mit den breiten, immer noch blank bewehrten Kiefern, denn er mußte wohl oder übel an die Briefe. Den Winter über war der Prior Diebold hinter den Büchern gelegen, ein hoffärtiges auf Latein und Griechisch geteiltes Geisthabit, mit gelahrtem Lappen- und Zaddelwerk behängen, für sich zu schneidern. Der Fürstabt konnte dem Prior nicht wehren: die gelehrten Traditionen des Ordens! Wo es nun galt, den aufgezäumten Dünkel vorzureiten und das ersessene Latein an den Mann zu bringen, verzog Diebold hinter der Wirtschaft: Der gefürstete Abt zu St. Gallen möchte es übel vermerken, wenn er, der Prior, und nicht der Fürstabt von Einsiedeln selbst schriebe. Ein Pfleger sei unwürdig, in St. Gallen geheime Winke zu erteilen. Die geheimen Winke! Glossenweis könnten sie von ihm am Briefrand erledigt werden! Dann möchte man in St. Gallen den Unterschied am Stil bemerken. Dort sähe man auf Stil. Da saß der Hieb. Die sollten ihren Stil vollem, als säßen sie bei gebratenen Pfauen mit Pfeffersauce und käuten Portulak dazu! Er war ein Mann von schlichten Sitten: Kuonrad von Rackeiberg.
Gestern hatte der Prior den Hilfsschreiber geschickt, das Schreibzeug instand zu setzen. Gut, das war angeordnet. Dann kam er selber nachsehen, ob alles wohlbereitet sei, und brachte zwei Buch Papier. Es sei Baseler auf spanische Art. Abt Konrad hätte es dem Prior gern an den Kopf geworfen. Seit der Mette ging er vom Schreibpult zur Tür hin und wieder. Er fegte eine Straße in das frisch aufgestreute Reisig.
Er stand noch in gesunden Säften, brach in die Fünfziger ein, als läge dort der Schatz der Jugend verborgen. Das römische Erbrecht, fidei commissum, der Teufel hats über die Alpen geworfen, und der deutsche Adel duckt sich drunter, um Familie zu halten, denn die Zeit frißt den Adel an – das fremde Recht hatte ihm den Ring an die Hand gezwungen. Sonst schlügen seine Pulse nicht durch Cuculla und Tunica, und er trüge eine natürliche Glatze.
Unter den Eidgenossen hielt er es noch am leidlichsten aus, obwohl er fluchte. Die Eidgenossen wehrten sich gegen das römische Recht, sie konnten freudige Kerle bleiben. Er war unterlegen, Kuonrad von Rackeiberg. Übrigens der Giel zu St. Gallen ist stets ein Mann von Herz gewesen. Und dort vom Bodensee einwärts in den Appenzeller Bergen warteten die Holzhaufen der Höhenfeuer auf den Brand, die Hände lagen an den Glockenstricken. Der Kaiser Max soll nur die Eidgenossen in den römischen Rechtssack zwingen wollen! Die werden stürmen, und er, von Rackeiberg, wird seine Gottshausleute nicht halten. Ist nur erst der Engelweihtanz vorüber und wieder Ruh und Fried für sieben Jahr.
Aber das wäre bestenfalls Politik. Er sollte Briefe schreiben. Nicht allein nach St. Gallen. Nach Schaffhausen, Pfäfers, Weilheim, Blaubeuren, Ochsenhausen, Ensdorf, überall hin, wo Zeit und Wege günstig schienen und die Regel des hl. Benedikt galt, damit der Beichtpfennig hübsch im Orden bleibe. Auch nach Fulda und Reichenau, dort hielten sie desgleichen gelehrte Traditionen, und auch dorthin mußte sein Latein. Desgleichen ans Mutterhaus nach Neapel der italischen Pilger wegen und über Basel nach Cluny der Franzosen halber. Zur letzten großen Engelweih hatte er vierhundert Beichtväter auf geboten, und es war Mangel gewesen: über hundertfünfzigtausend Pilger. Weiß Gott, ein Fähnlein schwyzer Fußvolk stünde ihm besser an! Aber die brauchten keinen vom angenagten deutschen Adel, den das römische Recht erhalten muß.
Der Abt besah das Schreibzeug. Etliche Kalmusrohre, einige Gansfedern, alle fein geschnitten, fügsam und weich, wenn man sie am Daumennagel probierte. In den Nagelfalten saß noch ein wenig braunes Blut. Der Abt schleuderte die Feder aufs Papier. Aber sie sank sanft nieder, das ärgerte ihn: die Wucht brach an dem allzu leichten Gewicht der Gansfeder. Er trat ans Fenster, öffnete den Ausguck, starrte in die Dämmerung und leckte am Daumennagel.
Vorgestern noch: sein letzter Hirsch. Das Jahr stand sechs Tage vor Mai. Sein Pferd hatte er bei den Frauen in der Au eingestellt und war mit den Bracken gepirscht. Der Wind kam von Süden. Er wußte, daß ein Gutgeschränkter unter dem Haggeneck wechselte. Er hatte ihn für diesen Abend aufgespart. Von ihm kam der Blutrest.
Der Winter war mild gewesen. Die Tiere trennten sich bereits vom Rudel … aber in die erste Brunst fiel die Engelweihe! Da kommen sie mit Kerzen und Fahnen, endlos. Je näher desto unersättlicher in ihrem heiseren Geplärre. Der Wechsel am Haggeneck wird wieder verdorben sein, Kuonrad von Rackeiberg wird bis an die Mythen müssen, das vergrämte Wild zu finden.
Die Briefe! Der Giel zu St. Gallen tat es leicht mit einem flüssigen Latein und alle, alle anderen. Die hatten ihr wohlbesetztes Skriptorium, sie brauchten nicht für die heiligen Zeiten etliche Schreiber irgend woher zu betteln. Im gnadenreichen Einsiedeln stand er, Fürstabt, Kuonrad von Rackelberg. Das versammelte Konsistorium war der Propst Diebold von Geroldseck und sah auf gelehrte Traditionen. Der Dechant, der die Klosterzucht bestreitet, blieb wieder er. Der Pater cellarius hieß Diebold von Geroldseck. Einsiedeln hat an ihn kommen müssen, da man es verlottert und ausgesogen hatte. Keiner biß an und wollte in die Einöde; auch die Jagd war anderweitig besser. Die vier Schwesternhäuser? Kaum mehr der Rede wert, einzig das in der Au. Und dort flog selten ein frisches Leben zu. – Als vom Hans Waldmann, der gehürnten Zuchtpauken in Zürich, das Frauenmünster durchfegt worden war, sind etliche verscheuchte Täublein über den See heraufgeflattert. Ansprüche haben sie gemacht. Im Stift waren sie damals noch ihrer fünf gewesen, der Krachwadei Dekan Engelbert hat nicht mehr gezählt. Sie hatten zu tun bei den sieben hergescheuchten Frauenmünstlerinnen. Doch sind alle fünf in Feistzeit gestanden, taugliche Beichtiger, obgleich sie nach den ersten hitzigen Wochen ausgesehen haben wie der Hirsch im November. Nur die Roswitha hat sich gehalten. Die war kein Strohfeuer. Aber jetzt auch nur ihre eigene Glut, gehegte Glut – ein dutzend Jahre. Inzwischen ist der Diebold gekommen, und in den sind nunmehr die gelehrten Traditionen gefahren. Die andern sind abgefallen. Den Bastian haben die Franzosenblattern gefressen, der Reinhard ist am Sumpffieber verendet, der Benno tut Buße. Der Ambrosi hat einen hohen Protektor und sitzt in Mainz. Der Engelbert hat nicht gezählt, der war schon eine halbe Leiche.
Abt Konrad sah über das Moor hin. Mühselig kämpfte der erste Tag mit den Schatten, die im weiten, grauen Nebel verstrickt lagen und nicht weichen wollten. Durch den offenen Gucker strömte der feuchte Frühhauch herein und netzte wohltuend das Gesicht. Der Brühl lag leer, die Rinder brüllten noch im Stalle. Aber der Hof war laut vom Diebold und seinen Leuten. Die Öfen wurden angeschürt, die Rauchfänge dunsteten von der feuchtgewordenen Kohle des Narren Baltisar. Diebold goß Zeichen aus Blei, Kupfer, Messing. Zwei Münzmeister, aus Zürich einer, der andere von St. Gallen, standen mit ihren Knechten seit einer Woche im Futter und guten Lohn des Stifts. Von dem gemünzten Zeug wurde etliches versilbert, daß es hübsch und gediegen glitzerte. Der Diebold goß kleine Arme, Beine, Augen, Herzen, Köpfe, Frauenbrüstlein aus rotem, gelbem, blauem Wachs. Meist aus rotem, doch gab es etliche Fromme, die mehr von der blauen und gelben Farbe hielten. Jedem nach seinem Glauben. Gesegnet sei eine trächtige Dummheit, wenn sie nur rechtzeitig niederkommt. Nachher schmolz alles wieder in demselben Tiegel zusammen. Der Diebold zog Lichter nach allen Größen und Gewichten. – War dann der Kram im Wechselschuppen aufgespeichtert, schwang er, Kuonrad von Rackeiberg, Fürstabt, den Weihwedel drüber, und die Schulden des Stiftes, die Völlerei der vierzehn Engelweihtage waren bezahlt. Dann galten die gelehrten Traditionen des Ordens.
Der Abt schlug das Guckfensterchen zu, daß die Butzen klapperten. Er trat an das vierbeinige Schreibpult, auf dem des Lämpchens Schein noch sieghaft dem Morgen widerstand. Er tauchte eine Feder ins Tintenhorn, spritzte sie weithin aus und schrieb. Zunächst nur den Entwurf. Er gedachte später des Reuchlin Vocabularius Breviloquus von Diebold auszuleihen und des Jakob Wimpfeling Elegantiarum Medulla, damit er vor den spottlustigen Augen derer zu St. Gallen, Fulda, Reichenau bestehen könne – des törichten Geredes wegen, um ihnen keinen Fallstrick des gelehrten Hochmutes zu drehen – seinetwegen gewiß nicht. Er war ein Mann von schlichten Sitten, Kuonrad von Rackeiberg.
Er schrieb:
„Min fründlich und allzit willig Dienst, Liebs und Guts dem hochgeboren, führnehmlich gottwohlgefälligen und der hl. Jungfrau merklich zutanen Herren und lieben Bruder, minem vertrauten, hochgeachten und günstigen, gefürst’ten Abt Gotthard Giel von Glattburg zu St.Gallen zuvor.
Indem unser lieben Frauen allhie ze Einsiedlen Engelweih hinwiederumb ist das siebend Jahr umb und allso mit großem Drang der vielen Pilgeri mueß das hochgelobet Fest erneuet sin, wir aber in eim merklichen Mangel stehend, nit allso unseres Glaubens und gueten Willens, denen haufendweis Wallfahrenden zu ihrem Heil zue helfen, jedannocht mangelnd an Zahl und menschlich beschlossen Kräften (wir sein alleinig zween, als dir ist wohl bekennt) sijest du günstig gebeten und durch diese mine Botschaft und Bitt liebreich ermahnet: unser lieben Frauen Stift zu Hilf, Lob und Ehr bi etlichen zwenzig, als du von wegen des Heils derer zue St. Gallen vermügest ihrer zu entbehrn, von denen Brüdern schicken uf diese Engelweih. Die sollend Bicht hörn.
Sunderlich aber so du ein hast, wohlberedt und von indringlicher Zung, als nit mit Pochen, Pultdreschen, Schwörn, Höll- und Tüfelmaln als viel mehr, der ouch ein ziemlichen jocus und herzhaftiges Wörtlin verstünd, so solltu ihn zum Predigen schicken. Dann also wöllends die Pilgeri gern, und ist billig nach ihres Weges Schweiß und Ohnrast, ihnen ein fründlichs Wort zu gunnen und ihre bußzerknirschete Seel verschnaufen lan.
Desglichen gehet min dringlich Bitt: sie sollten, so es sich schicket, nit allzu jung an Jahren sin und an Kräften ehender gestillt und des Bluetes Ohnband entladen, indem wir sie einer wohlgeschmälzeten Atzung versichern, und wird desglichen des guten Tropfens kaum ermanglen, also sie nit denen Wallerinen, so Frauen als Maidlein, allzueheftig bi ihrem sündhaftigen Teil der menschlichen Natur vermahnend, item gar selbsten überführeten. Dann sollichs ist uf der letzten Engelweih beschechn und ist vermerkt worden, daß etlich nach Kompletezit in weltlicher Gewandung seind umbbirscht und habend ihr caratheria clericalis schlecht verhehlt, indem mit abfallendem oder verrucketem Barettli etlich habend die Platten gsehn, was ein Ärgernis gibt, sunderlich vor die Mannslüt. Und ist ufkummen, daß etlich gemurmelt hättind, als seiend Nunnen gnug am Ort. Das war nit wohl zue vernehmen vor unser lieben Schwestern. Die habend all tan was in ihren Kräften gestund.
Demnach solltu vor deine Wahl und Usles’ besonnen sin, was dem Doctori Angelico ist über die menschliche Natur wohlweislich entschlüpfet, obglich er ein Dominikaner und mit nichten von unserm hochgepriesenen Orden ist gewest.
Also stehet in quaestione LXXXIV wie folgt:
,Ipsa naturalis inclinatio ad virtutem verum valde diminutum.“
Wahrlich ein Wort! Dann wir seind als von Nature in der Tugend gewaltiglich geminderet. Das gut Essen und Trinken allhie mehret aber naturam und minderet virtutem dest mehr. Hinwiederumb ist ohngerecht, denen Brüderen, so in harter Arbeit stehend, die Schüßlen und Krüg uf die Kredenz der strengen Regul zu stellen, dann es stehet: ,Du sollt dem Ochsen, der drischt, das Maul nit verbinden.“ Wenn schon nit dem dumben Vieh, als dest minder denen Brüderen. In Summa: Du sollt, wohl weiser Fründ und Helfer unserer Mutter Kirche in Sunderheit aber unseres hochgepriesenen Ordens, ein solich Dilemma oder Zweifel durch din berühmet Einsicht und angeboren Scharfsinn ex fundamento tilgen, glichwohl mir aber nit ein Haufen zahnlucketer Podagram und schlotternd Gebein, so in den Bänken, do sie bichten wollend, ehender schlaft als höret, zuschicken, dann ich besorg Ehr, Lob und Preis der hl. Jungfrau und sunderlich unseres erlauchten Ordens, item der Bichtpfennig ist kein kleins in Betrachtung der großen Zahl derer, die da wallen.
Wir wollend nit nachstohn und also denen heiligen Aposteln auf dem Fuß folgen, uswerfend die Fischnetz. Ist ouch allhie kein ohnfruchtbar Gewässer, indem sie willig Zuströmen und sich begeben. Sollichs tut ouch uns armen Fischeren not, indem wir wohl nachfolgen aber in nichts nit zu glichen vermögen, was Fischkunst belanget, denen heiligen apostolischen Fischeren.
Nun solltu sin empfahend diese Botschaft us eim getrüen Gemüt ohn ciceronische Blümlein und attische Tänz, dann ich bin ein schlichter Mann Gottes und der hl. Jungfrau zutan, so glichermaßen ihrem und Gottes eingeborenen Sohn vor sin göttlichen Wort nit hat ein eleganten stilum einbleuet, do sie ihme das Reden bibracht.
Die hl. Jungfrau wolle diner pflegen und des hochberühmeten Stifts!
Ze Einsiedlen geben die pro festo Marci Evangelistae
ANNO MCCCC …
Kuonrad von Rackeiberg
Fürstabt allhie.“
Inzwischen war ein Regentag mit seinem grauen Lichte durchgebrochen. Der Abt hatte die Primglocke überhört, es mochte auf Terzenzeit zugehen. Abt Konrad überlas seinen Brief und fühlte sich erleichtert. Er stand noch vor der kitzligsten Arbeit: Umgießen in lateinische Eleganz. Aber der Anfang war gemacht, und der Fürstabt blieb entschlossen, dort, wo der Wortschatz des Cicero nicht ausreichte, den Mutterlaut bestehen zu lassen, denn es galt den lateinischen Gugelleuten zu zeigen, daß es ihrer Eleganz an Saft gebreche. Er konnte es keck wagen. Sie kamen, auch wenn sie lächelten. Man wußte, daß man ausgefüttert und mit vollem Säckel heimkehrte.
Zu gleicher Zeit hingen die Eidgenossen einen Brief in Zürich öffentlich aus, mit ihrer Länder und Städte Secret und Insiegel bewehrt. Sie sprachen den Pilgern der untreuen Läufe halber Sicherheit zu und Geleit, zwischen Bodensee und Rhein durch all ihre Städte, Dörfer, Länder, Gebiete, Gerichte, Zwinge und Bänne frei ihres Leibes und Gutes zu wandeln und zu fahren.
Die Kaufleute, Bettelmönche, Loliharden und alles fahrende Volk redeten den Brief überallhin aus. Sie lockten den feisten Bürger gern vom warmen Neste weg auf die Landstraße und hatten ihre Freude an Zuzug und Masse. Im weiten Umkreise des Gnadenortes spannten sie ihre Netze und schuppten die Fische – oberflächlich wohl im Vergleiche zur Häutung am Gnadenorte, denn was da auf der Landstraße von der offenen Hand lebte, hatte kein Recht, jemand den alten Adam auszuziehen und den neuen, der vom Ablaßsegen funkelte, über Ohren, Augen und Herzen zu werfen – aber immerhin ergötzlich genug.
Der Frühling und Sommer wurde den Einsiedlern heiß und manch eines Häuslers Säckel verblutete in die Taschen der Maurer und Zimmerleute. Klaus Weßner stieg mehrmals in seine Mausefalle hinunter und liebkoste die angeschimmelten Lederbeutel, ehe er sie rinnen ließ. Das Dorf schallte vom Hiebe der Beile und vom Pochen der Hämmer. Der schwarze Adler, der rote Ochs ließen die verräucherten und bespienen Wände ihrer Herrenzimmer abkratzen und auf tünchen; der Pfau, der andere Ochs und besonders der weiße Wind schlugen ihr Inneres mit guten Stoffen aus. Pfau, Ochs und Windhund erwarteten die vornehmen Herren.
Im Haus an der Teufelsbruck türmten sie das Gerät in zwei Kammern und zimmerten einen Notstall amSihlhang zurecht; Mensch und Vieh mußten für die beiden Wochen der Engelweihe weichen. Bänke und Tische standen rings um das Haus auf blankgeschälten Pfählen. Herr Wilhelm sollte mit Frau und dem Kleinen für die Zeit hinüber ins Pilgerspital, das hochgiebelig am Eingang von Einsiedeln stand, um Priester, Studiosi und Kranke aufzunehmen, bis die Kammern überfüllt waren.
Dem Fürstabt summte der Kopf von Verordnungen: Beichtväter, Feuer, Wachen, Prediger, Krämer, Bäcker, Metzger, Wirte … je höher der Sommer stand, desto mehr Sessionen mit aller Welt Obrigkeit. Und Propst Diebold seufzte nach der Beschaulichkeit des letzten Winters, wie der Fisch im Boote nach der Welle.
Hans Ochsner erhielt eine neue Rüstung. Er war mit andern hundertfünfzig auserwählt. Die sollten an der Schindellegi,auf der Klause, an der Alpbruck und der Teufelsbruck, unter den Klostertoren und in der Kirche Wache stehen, der Vagabondie, dem Aussatz und anderer Pestilenz zu wehren. Schirmer hießen sie und waren alle Erlesene des schwyzer Schlags, die ihren Mann zu fassen wußten. Ihnen allen drohte das Schelmenbuch der Reisläufer. Sie lauschten begierig, wenn einer vom Bodensee herüberkam und etliches über den Kaiser Max und den schwäbischen Bund zu reden wußte.
Die Schiffe der beiden Schiffergenossenschaften zu Zürich lagen frisch geteert im Uferwasser. Die Meinradsbrunnen weithin auf den Straßen waren gereinigt.
Auf dem Brühl vor dem Kloster standen zwei Kanzeln, und am Galgenberg waren Pranger und Trülle neu gezimmert worden.
Im Stalle der Abtei schnoben die beiden Engelweihochsen unter der Feiste, ein jeder seine fünfundzwanzig Zentner schwer, ihrem Ehrentage entgegen, da sie, schwarz-gelb geputzt, in feierlicher Prozession zur Schau geführt werden sollten, ehe sie ihr Fleisch und Fett dem Bratspieß überlieferten.
Der große Wechselschuppen war angefüllt, und an den Bretterbuden der Kramgasse, die vom Frauenbrunnen aus das Dorf abwärts lief, verhallten Axtschlag und Sägesingen der Vorarbeit.
Die letzte Zufuhr kam von Wattwil herauf. Zwölf Karren mit Druckwerk: Chroniken, Gebete, Heiligenbilder, Ausgaben der Engelweihbulle aus den Offizinen von Nürnberg, Ulm, Straßburg, München und Freiburg.