Читать книгу Paracelsus - Erwin Guido Kolbenheyer - Страница 5
Erste Schritte
ОглавлениеDie Tage deckten ihre weiße und blaue Glocke über das Menschenreich, die Unendlichkeit der Nächte lüftete den wehenden Schleier oder verbarg ihr wunderliches Gesicht dahinter. Und die Leute redeten von den fünf Pflugarbeiten, jedesmal wenn die Zeit kam. Im Frühjahr vom Saatpflügen auf dem Haferfeld, im Mai vom Brachen, im Juli vom Rühren, im Herbstmond vom Werfen der Stoppeln und im Weinmond vom Felgen des Korngrundes. Das waren Leute von den freundlichen Seeufern, denen die Sihl nachstrebt, ohne sie jemals zu erreichen, denn sie vermengt sich mit der brausenden Limat im Rücken von Zürich. Die Seeleute wußten noch andere Jahreszeiten und brauchten nicht gerade nach dem Pflügen zu zählen. Sie redeten vom Schneiden, Sticken, von Gärten, vom Hacken, Heften, Rauchfelgen, Zwicken und Lesen. Dann meinten sie den Wein, dessen säuerliche Glut sie aus grüngelben Beeren herbsteten. Aber auch über Aalrute, Äsche, Barbe, Barsch, Schlei und Gründling, über Reusen, Angeln, Stecheisen ging die Unterhaltung in den Wirts- und Wohnstuben. Das Vieh kam nur nebenher zur Sprache. Weit öfter das Fährwesen, und damit lenkten die Worte ab gegen Richterswil und bergan der lieben Fraue von Einsiedeln zu.
Dort, im Hochtal der Sihl, wechselten wohl auch Hafer, Brache und Roggen auf dem lockeren Rottland an den Bergsäumen, aber die breite Talsohle füllte ein moorsatter Grund, und der brachte hartes, saures Futter. Nur auf den Hängen der Sihl und den kurzen Bodenwellen, die aus dem Hochmoor tauchten, wuchs fettere Weide, die auch Heu genug für den Winter gab, obwohl sie einschürig blieb. Über die Wiesenhänge schritt das Jahr in drei Gezeiten: bis Walpurgis im Mai währte der Weidetrieb, dann wuchsen Gräser und Kräuter der Sichel entgegen, und Sankt Bartholomäustag brachte wieder Rinder und Schafe auf das kurze Grün. Demgemäß sprachen die Leute des Hochtals vom Gras, Rind und Schaf. Vom Walde aber redeten sie schon, wenn die Sonne kaum den letzten Schnee weggeschmolzen hatte. Sie dachten zu dieser Zeit nur an den Wald am Fuße der Höhen, wo Buchen wuchsen, während die Kämme vom dunklen, unfruchtbaren Nadelholz bestanden waren. Dorthin, in den Ecker am Fuße der Höhen, trieben sie die zarten Märzschweine zur Aufzucht, doch mußte ein neuer Eintrieb am Sankt Johannistag beschlossen sein. Gegen den Herbst zu, wenn die Buchen ihre zottigen Fruchtbecher öffneten und den Ecker streuten, kamen die alten Schweine zur Mast, nach Sankt Michael jedoch nur mehr die Sauen. Ehe der Schnee fiel, das geschah meist vor Sankt Elisabeth, ritt ein Klosterschöff die Runde, und man erwartete ihn. Er raffte einen Fäustling Walderde auf, dort wo das Schwein nicht zu oft und nicht zu selten gewühlt hatte, und schätzte den Ecker. Danach fiel dann der Einlaßzins auf den Kopf des Schweins.
Über diesen kleinen Tierkreis, der das Firmament der Gottshausleute umschloß, schwang eine bedeutsamere Zeitenfolge, die nach dem Haushalte der Gottesmutter zu Einsiedeln geregelt wurde. Alle sieben Jahre gipfelte der Gnaden Stern des großen Engelweihfestes und schüttete seine Ablaßgarben über die Pilger nieder, deren viel hundert die Gnadenkapelle umschwärmten. Aber auch in den sechs andern Jahren lief die Mühle nicht leer. Wenn nun ein Anwesen, wie das der Ochsner, an einem ihrer Hauptgänge lag und die Freiheit besaß, zu Zeiten der Pilgerflut das Rädlein auszustecken, um den Schmachtenden ein freundliches Ziel für ihres Leibes Durst und Hunger zu weisen, dann gab es dort noch andere Zeiten und Sorgen als die der sechs Kühe, der vierzehn Schafe und zweiundzwanzig Schweine.
Während das Ochsnerhaus unter dem Zeichen des Rädleins stand, war Wilhelm von Hohenheim zum erstenmal eingekehrt und hatte den günstigen Stern wahrgenommen; und während das Ochsnerhaus das Rädlein noch trug, sollte der jüngste Bombast entwöhnt werden, nachdem er sein menschliches Antlitz aus einem Zustand entwickelt hatte, der eher dem Hutzelobst der Großmutter glich als dem Ebenbild Gottes. Doch die Mutter wußte für sich und den Kleinen noch etliche Wochen der zärtlichen Hingabe abzuschmeicheln, obwohl ihre Kräfte dem Liebesopfer kaum gewachsen waren.
Er trug einen Namen, über den alle Ochsner, Weßner und Schärer nicht wenig erstaunten, als sie ihn zum ersten Male hörten.
Am schnellsten fanden sich noch die Eis und der Rudi Ochsner drein. Die Eis, weil sie dem Manne vertraute, und der Alte, weil er seit jener Nacht manchem mißtraute, worüber die andern behäbig wurden. Die Großmutter blieb besorgt. Sie fühlte, daß der sonderbare Name den adeligen Stamm des Kindes betone. Er klang wie eine Minderung des mütterlichen Blutes. Sie fürchtete für den jüngsten Bombast, weil ein guter Eidgenoß allem feindselig begegnet, was nach Ritterharnisch klirrt. Also auch Hans Ochsner, der auf das zarte Knäblein wies und meinte:
„Sehet zuo, es möcht ihn sunst einer us den Windlen blasen, so er ihn bi dem Namen ruoft.“
Darauf sagte der Vater:
„Es wird nit eins jeden Manns Gewicht uf der Metzig gewogen.“
Und der Hans:
„Sollichs ist zur Stund ein Glück vor den Metzger.“
Aber der Hans redete rauher als er tat. Er stand zuweilen an dem Körblein und schaute eratmend auf den tiefen Kinderschlaf nieder, wie man in die Ewigkeit der Berge blickt, denn auf dem Schlaf der Kleinen ruht gleichermaßen ein Schimmer der Ewigkeit.
Die Weßner schüttelten ihre fetten Köpfe und die Schärer nicht minder, sie zuckten die Achseln und zwinkerten einander heimlich zu. Nur der Klaus Weßner, dem die Angelegenheit naheging, weil er das Büblein aus der Taufe heben sollte, ließ satteln und ritt spornstreichs hinüber nach Einsiedeln. Er konnte sich nicht von dem schwäbischen Arzte, der unter die Ochsner hineingeschneit war, zum Fatzmann machen lassen und wollte wenigstens der Würdigkeit des Heiligen versichert sein, nach dem das Patenkind heißen sollte. Daß ihn der Propst und Pfleger, Herr Diebold, und, wenn er darauf bestand, auch der Fürstabt, Herr Konrad, wohlgeneigt empfangen würden, dessen war er sicher. Mit dem Kloster stand es trotz aller himmlischer Gnaden nicht glänzend, und Klaus mußte zu Zeiten der Engelweihe das Marmelschloß seiner Geldkiste aufspringen lassen, sonst wäre das einträgliche Fest übel eingeleitet gewesen.
Herr Diebold empfing ihn mit freundlicher Hast, er bedurfte gerade kein Geld. Aber der erhitzte Klaus Weßner wurde dringlich und zeigte durchaus die unbefangene Art des klügeren Wirtes. Er war nicht damit abgetan, als der Propst versicherte, einen heiligen Theophrast gäbe es in keiner Litanei. Klaus wünschte, daß irgend etwas Schriftliches eingesehen werde. Schwarz auf weiß, das war guter Grund. Herr Diebold gab nach und fuhr mit dem Finger über etliche Pergamentblätter. Klaus sah scharf darauf, daß der Finger keine Zeile übersprang, er wollte seiner Sache vor Hohenheim gewiß werden, und selber lesen konnte er nicht.
Die Allerheiligenlitanei behielt recht; in der alleinseligmachenden Kirche lebte kein Theophrast, weder unter den Heiligen noch unter den Ketzern.
Klaus blieb also ungestillt. Er fragte, was der verdächtige Name eigentlich bedeute, denn auf Schwyzer Boden war er unerhört. Herr Diebold fand sich aufs peinlichste bedrängt.
„Wer viel fraget, geht als ouch viel irr, Weßner.“
„Allein darab hanget des ohnschuldgen Kindli Seelenheil, daß ihme ein getrüer Fürbitter sije. Dann soll ihm zum jungisten Tag nit jedlicher Fürbitter von der Hand weisen und fragen: nach welichem heißest du, daß er dich für Gott kunnt us dem Drecke ziehn, darin din arme Seel steckt.“
„Item, lieber Weßner, wir hänt do bewiesen, daß es kein heiligen Theophrastum nit gibt. – Der selig Markgraf zu Brandenburg ward als ouch Achill geheißen, und sin Sohn wird Cicero genennt. Hat glichermaßen nindert ein heiliger Achilles noch Cicero gelebt. Gebet Üch zefrieden. Es ist des Vaters Recht, daß er sin Kind benamset. – Dieweil aber ein heiliger Theodorus, Theodosius, Theodot, Theodulus, Theonas, Theokar und Theonestus für Gott bestehet, wird der Theophrastus ouch kein ghürnter Drach oder Leviathan gewest sin … von dem der heilig Benno sagt: Ecce draco magnus et rufus, propter sanguinem Martyrum!“
Das Latein des heiligen Benno tat endlich sein Gutes. Es erstickte die Zweifel und führte den Klaus in die Schranken der Ehrfurcht zurück, die dem Laien nun einmal gebühren, und wäre er gleich der trefflichste Hauswirt.
„Hochwürden Herr Prior vermeinet als demnach mit nichten …“
„Ziehe in Frieden, min Lieber, so das Knäbli vom Herzen ist wohlgeschickt und erfreulich, möcht ihm des Luzifer Namen nüt sorglich werdin.“
Herr Diebold atmete auf, als er des Fragers ledig war. Doch an das Seufzerlein der Erleichterung schloß sich ein gewichtigeres des Unfriedens.
Durch sein Guckfenster sah er jenseits des kräftig jungen Grüns der Au aus dem Walddunkel der Höhen die steilen Mythen ragen, noch hell beschneit, aber das lenzbewegte Gewölk flog darüber hin.
Von der Oberpfalz, vom Reichenbacher Kloster, war im Herbst der Ordensbruder Nikolaus de Donis eingekehrt und weiter nach Basel zu dem gelehrten Drucker Amerbach und zu Sebastian Brand gereist. Er kam über Ingolstadt, wo er geistbewegte helle Stunden mit Hieronymus von Croaria, Sixtus Tücher und dem jüngstberufenen Celtes genossen hatte. In göttlicher Trunkenheit glühten die Augen des Bruders, als er von jenen Stunden sprach. Und nach ihm fiel die Mooröde der Abtei über Herrn Diebold, und er lag lange in harten Zweifeln.
Was er in seiner Jugend schwer erstickt hatte, war wieder aufgerührt und stand in Flammen. Diese Flammen aber zernagten das leidige Wetterdach seiner verzichtenden Heiterkeit. Mußte der feiste Bauer da an dem ersten gebenedeiten Frühlingstag in seine Zelle dringen, um ihm zu zeigen, daß er sein Pfund verlottert habe! Vor einer Woche erst war ein Brief des Bruders Nikolaus zu ihm gelangt. Dessen letzte Weisheit stand wohl nicht auf dem engbeschriebenen Zettel, und eine Nachricht, die alle Gelehrten dieser Tage mächtig bewegte, die Nachricht, daß Max I. Reuchlin in den Adel, ja zum Pfalzgrafen ehestens erheben werde, hatte Herrn Diebold kalt gelassen – aber der Brief war in einem Latein geschrieben, das den Pfleger von Einsiedeln befing wie Wein, der prickelnd und duftend über die Zunge fließt. Wer solch ein Latein schrieb, besaß Weihe, für die er keine äußeren Zeichen brauchte. Herr Diebold wußte: in Basel, selbst im nahen Zürich lasen sie die Alten in ihrer Sprache, Griechen und Lateiner, und mehr noch, sie lasen die Heilige Schrift im Urtext. Sie hatten Schlüssel und brauchten der Pförtner nicht. Allenthalben in den deutschen Ländern brachen hellsprudelnd die Quellen eines neuen Wissens aus. Und warum schrieb ihm Nikolaus de Donis, ihm, dem Prior und Pfleger von Einsiedeln, der vor der Zeit vermooste? Weshalb hatte der weitgereiste, hochgelehrte Mann ihm damals das Herz erschlossen? Er warb um ihn! Sie wollten, daß er in ihrem lichten Kreise lebe.
Herr Diebold preßte die Stirn an den Ausguckrahmen. Er schämte sich, daß er dem fragenden Bauern etliche Lateinworte über den Kopf geworfen hatte wie einen Sack, damit er Unwissenheit nicht bemerke. Doch es war Scham, die eine Morgenröte des Herzens bedeutet.
Auch Klaus ließ seinen und des Maultiers Kopf hängen. Der Propst war einverstanden, und damit konnte sich einer zur Not abfinden. Klaus Weßner glaubte aber nicht, daß alle Heiligen, die Theo- und sonstwie hießen, für den Theophrast einstehen würden. Man wußte, wie teuer eines einzigen der hohen Himmelsherren Fürbitte kam. Der gemeine Geistliche Zehent blieb noch das wenigste. Klaus zweifelte, daß sein Patkind diesen ganzen Kreis von Heiligen werde warmhalten können.
Dennoch wurde der jüngste Hohenheim nach seines Vaters Willen getauft, und Bombast sagte beim Taufschmause, der Kleine heiße Theophrast nach einem gewaltigen Beherrscher des Pflanzenreichs, der ein Schüler des Erzphilosophen Aristoteles gewesen und von Salicetus, dem vortrefflichen Heilmeister und Lehrer zu Tübingen, hoch verehrt werde.
Darüber wunderten sich die Ochsner, Schärer und Weßner neuerdings, denn sie hatten ihresgleichen und das liebe Weidevieh bisher für die gewaltigen Beherrscher dessen, was aus der Erde grünte, gehalten.
Als Theophrast entwöhnt wurde, war der Ecker längst geprüft, der Zins bezahlt, und man sah die Schweine nicht mehr mit heuchlerischer Fürsorge um ihr Wohlbefinden an, sondern schätzte sie lebenden Leibes auf die Hinterlassenschaft ein.
Theophrast zürnte seiner Mutter viele Tage. Er schlug ihr den Löffel mit dem sorgsam vorgekauten Brei aus der Hand und schrie über die Treulosigkeit. Andere mußten sich seiner erbarmen, denn er aß nichts von der Hand der Mutter. Kam sie, so sah er weg, kroch beiseite und ließ ihr Tränen in die Augen steigen. Nur wenn Müdigkeit und Schlaf das kaum erwachte Herz bezwangen, rief er sie und fand erst unter dem Gesang der Mutter Ruhe.
Das Gefühl unbegrenzter Sicherheit hatte ihn durchwärmt, war er an der treuen Brust gelegen. Er wußte, daß nur die Mutter den ungekränkten Frieden geben könne, und seine Mutter versagte den Frieden. Zum erstenmal ahnte er die ruhelose Einsamkeit des Menschenherzens und fühlte den Trieb nach Freiheit zum erstenmal, denn die Freiheit ist das Glück der Friedlosen. Es rang nicht dunkler in ihm und nicht weniger zwingend, als in jedem Lebensvollen der Freiheitskampf ringt. Und wenn das Herz des kleinen Mannes auch nicht von klingenden Begriffen übertönt wurde, die sonst eines Menschen Selbstbefreiung begleiten, es wuchs gleichwohl auch in Theophrast zur befriedenden Tat.
Seine Mutter kam eines Tags in den Gadem, als er gerade längs der Ofenbank weitertastete, da ließ er los und floh einige rasche Schritte, aufgerichtet und frei, von ihr fort.
„Büebli“, jubelte die Mutter und sie breitete die Arme, „min Büebli kann loufen!“
Theophrast war wieder auf die Hände gesunken, aber er jauchzte der Mutter zu, und seine Augen leuchteten. Breitbeinig hockte er auf, während die Mutter winkte und rief. Vorsichtig hob er sich, streckte die Arme nach ihr und lief ihr entgegen. Er ließ sich herzen und liebkosen und nahm von dieser Stunde an den Brei von der Mutter Hand.
Theophrast war unversehens um eine halbe Elle erhöht und merkte, daß er dabei eine neue Welt gewonnen hatte. Sie sah wesentlich anders aus als die des Gängelbandes, obgleich sie ungefähr denselben Gesichtskreis bot. Jene zwängte in ungewollte Richtungen und brachte selten dem Dinge nahe, das gerade alles Verlangen hätte stillen können. Sie war ebenso hoch wie die Welt, in der man sich weitertastete, aber sie hatte keine Umwege mehr, keine allzudicken Kanten, die man kaum fassen konnte, keine heißen Kacheln, kein plötzliches Versagen aller greifbaren Hilfen. Sie war rascher, fast so rasch wie die Welt auf den Armen der Großen, nur frei, herrlich frei.
Finster sehen die Dinge aus, wenn man sie ankriechen muß, und sie werden boshaft und heimtückisch. Theophrast hatte einmal den Besen erblickt, geliebt und war zu ihm gekrochen, da hatte der Besen mit einem harten, dürren Finger sein Gesicht gekratzt, daß er weinen mußte. Ein andres Mal hat die Schaufel blank in der Ecke gelehnt. Sie hat ihm zugeblinkt, ihn gerufen. Er ist hingekrochen, damals schon so groß, daß er sich aufrichten konnte. Die Schaufel hat leicht über ihrer Schneide geschaukelt, als er sie berührte, und ganz gemütlich getan. Wie er aber den Schaft erklammert hatte und fest und sicher neben Ihr stand, hat sie sich der Länge nach auf die Erde geworfen und ihn mitgerissen.
Die Dinge der Kriechwelt sind tückisch, weil sie alle viel größer sind. Bänke und Stühle sehen schmutzig aus. Die Hühner picken einem auf die Hand, auch auf den Kopf, wenn man sich noch so zärtlich dem Mastkäfig unterm Ofen nähert. Eine halbe Elle nur, und die Bänke zeigen ihre blankgescheuerte Seite, sie tragen alles willig, womit man sie belädt, und selbst der unerreichbar hohe Tisch läßt seine Platte erlangen und schiebt hie und da den Rand irgendeines Dinges über seine Kante hinaus. Theophrast kann ergreifen und herabziehen, worum die Großen zuweilen geheimnisvoll versammelt sitzen. Die dürren Finger des Besens liegen tief unten, der Besen läßt sich gutwillig durchs Zimmer zerren. Alle Dinge der Kriechwelt sind freundlich geworden. Das macht allein die halbe Elle, um die Theophrast über sie hinaus gewachsen ist.
Auch brauchte er ein Ding nur anzusehen, zu wünschen, es kam stracks näher gelaufen mit allem, was es umstand. Daß seine Beine dabei die Mittler spielten, merkte er bald nicht mehr. Manchmal erinnerte wohl eine harte Ecke an die alte Rüpelhaftigkeit überwundener Zeiten, und es kam zu Tränen. Auch legten die niedersten Dinge heimliche Fußangeln und Fallgruben. Aber man kam rasch auf Sohlen und Hände, und man besaß zum Glück am Ende des Rückens ein Gegengewicht, das den schweren Kopf aufwog und sich zugleich als der wichtigste Angelpunkt erwies, an dem man aus der Kriechwelt in die neue Welt emportauchte.
Doch bald verstand Theophrast sein Reich anders. Er hatte zunächst an freundlichere Launen der Dinge geglaubt und seine Erhebung wie ein Göttergeschenk genommen, dem manchmal mit alter Vorsicht auf Füßen und Händen begegnet werden mußte. Mit der Zeit merkte er, daß die Kriechwelt nicht nur freundlich, sondern botmäßig geworden war. Er hatte sie geschlagen. Er sah ein, daß keiner Herr seiner Krücken sei, er breche sie denn und werfe sie fort.
Da stand beim Ofen ein Stapel von Scheitern und Rutenbürdlein schulterhoch geschlichtet. Der kam ins Rollen, wenn man sich daran aufrichtete. Der Stapel lag sonst ruhig, er wartete nur auf die Gelegenheit, ins Rollen zu kommen, denn er wußte, daß er nicht umgangen werden konnte, wenn einer von der Hühnersteige, wo man gehackt wurde, zur Tür hin tasten wollte. An diesem heimtückischen Holzstoße lernte Theophrast sein Herrentum zuerst.
Er hatte ihn lange gemieden, aber eines Morgens ging er den Stapel keck an und legte seine Hände auf zwei Scheite. Und der Stapel wagte nichts. Er zitterte nur ganz feige, hielt aber. Theophrast rüttelte ein wenig, um dem Kerl zu zeigen, daß er ihn habe. Da gab der Stapel die beiden Scheite frei. Theophrast hielt sie, betrachtete sie, warf sie fest auf den Boden. Ist es kein übles Ding, einen Feind unter den Händen zittern zu fühlen, so wird es reinste Freude, ihn ganz zu vernichten. Theophrast tat, was ihm Freude machte. Bald war die tapfere Arbeit getan, und der Herr der Welt saß inmitten des kläglich zerworfenen Holzes nieder und zog einem Scheit das braune Leder ab, wie der Großvater die Wurst häutet. Mit einem vernichteten Feind kann man sich liebevoll beschäftigen.
Die reine Freude währte nicht lange, denn die Großen haben keinen Sinn für das Reich, das eine halbe Elle über der Kriechwelt liegt und sein eigenes Heldentum besitzt. Es setzte Schläge. Theophrast begriff, daß man die Tücke eines überwundenen Standpunktes bestehen lassen solle, wenn sie nur zitterte. Aber aus den Augen ließ er den Feind nicht. Er sah, die Großen schonten den Stapel auch nicht. Sie nahmen von ihm und warfen es in den Mund des Ofens, wo viele leuchtende Zungen schlugen, oder sie schoben die Scheite vorsichtig über die Herdglut. Dann prasselte es, flackerte auf, hauchte Wolken in den fürchterlichen schwarzen Trichter hinein, der neben dem warmen Turm des Ofens von der Decke hing. Ofen und Herd waren Geheimnis. Die Mutter stand oft davor, sie tauchte einen langen Löffel in den Kessel, der weiße Nebel ausstieß. Und der größte und stärkste von ihnen kletterte manchmal auf den warmen Turm, legte das Ohr an den schwarzen Trichter und sang bald ein rasselndes, fauchendes Lied herab, das ganz anders klang als das Lied der Mutter und Theophrast in den Schoß der Mutter trieb, obwohl die anderen dazu nur lachten. Aber die Großen haben leicht lachen, sie sind so stark, daß sie einen Eimer aufheben und forttragen können.
Der Ofen gehörte ihnen mit allen seinen Wundern. Das Feuer biß zu und tat sehr weh, wenn Theophrast zu nahe kam. Die anderen griffen ruhig hinein, sie wurden nicht gebissen. Kaum hatte der Herr der Welt, die eine halbe Elle über dem Kriechen liegt, sein Reich betreten, erkannte er, daß noch ein anderes darüber lag und unermeßlich blieb, selbst wenn ihn der Vater oder der starke Hans auf ihre Schultern setzten. Wohl lag dann alles tief unter ihm, und er sah die rätselvollen Dinge auf Bord und Tisch winken und blinken, seit er aber selber laufen, ergreifen, forttragen, zusammenschleppen konnte, wußte er, daß man sehenden Auges allein noch kein Herrentum gewinnt. Man mußte erfassen und eigenmächtig fügen können, was man sah. Das konnten die Großen in ihrem Reich, worauf er von ihren Schultern neugierig herunterblickte. – Und so war seine Sehnsucht flügge geworden; sie umflatterte das Wunderbare, das über der Welt liegt, darin man laufen lernt.
Theophrast hatte schon manchem blanken Zähnlein mit der zähen Haferbrotrinde durchgeholfen, als die Tage kamen, die den Ofen auskühlen und auch in der Kaminwand neben dem großen Himmelbette der Eltern keine Wärme mehr nisten lassen. Er durfte endlich auf den Laubengang, der breit vor der Brust des Ochsnerhauses hing, von dem vorspringenden Dache geschützt und selber das Erdgeschoß beschattend.
Im dichten Brettergefüge des Geländers entdeckte der unermüdliche Sucher bald ein Astloch, durch das er hinunter auf die Straße, ein anderes, durch das er über den Wiesenhang aufwärts zu den Waldhöhen und dem Etzel blicken konnte. Eine Ritze zwischen den Brettern ließ ihn auf Teufelsbrücke und Sihl lugen.
Er kauerte meist vor dem Astloch, das hinunter zur Straße wies, und sah in das Reich der Großen. Sie saßen im Sattel und trieben ihr Rößlein mit den Beinen an, hatten bunte Hüte auf dem Kopf und farbige Mäntel um. Meist aber schritten sie, in dunkles Zeug gehüllt, einzeln und in Scharen. Je höher das Jahr wuchs, desto weniger lang brauchte er zu warten, bis etliche den steilen Paß weg hernieder kamen. Er wußte, daß es die Großen waren, weil sie mit tiefen Stimmen sangen:
Meerstern, ich dich grüße,
O Maria hilf!
Muttergottes, süße,
O Maria hilf!
Er hörte Stimmen aus der Pilgerweise, die seiner Mutter Stimme ähnlich klangen, dann sang er vertrauensvoll mit, was er verstehen konnte.
Auch deshalb wußte er, daß es die Großen seien, weil sie die Arme kaum bewegten und die Köpfe so ruhig hielten.
Das würde er alles ohne Verwunderung hingenommen haben, wenn er nicht entdeckt hätte, daß die Großen durch das Astloch klein und niedlich aussahen, aber lang und übermächtig ankamen, wenn er sie im Hause oder auf der Straße traf. Während er durch das Astloch spähte, trieb ein heißes Verlangen zu den vertraulich gewordenen Großen, kletterte er die Treppe hinunter und sah die mächtigen Glieder, die drohenden Augen, die struppigen Bärte, dann suchte er hinter den Rockfalten der Mutter Schutz. Mancher Mann und öfter noch eine Frau langten nach ihm und wollten ihn aufnehmen, sie lockten ihn mit fremden Namen, die zärtlich klangen. Er schrie um Hilfe und schlug alles aus, was sie freundlich boten.
Einmal erkannte er von seinem Posten im Laubengange die Mutter.
Er rief sie an:
„Mammeli … Esunla … dlein, so dlein!“
Die Mutter sah lachend hinauf und winkte.
„Frästeli, min Büebli!“
Theophrast beschloß, die Mutter bei aller Zierlichkeit zu ertappen. Kopfunter rollte er ihr über die Treppe in die Arme. Allein trotz aller Geschicklichkeit hatte er sein Ziel nicht ereilen können, die Mutter war wieder groß geworden.
Sie schalt ihn, tastete ihn ab. Er aber strebte zu Boden, streckte sich so hoch er konnte und sah vorwurfsvoll zu ihr hinauf, die ihn genarrt hatte. Die Mutter kauerte nieder und hielt nicht ein, vor der Treppe zu warnen. Theophrast schüttelte nur traurig den Kopf und sagte enttäuscht:
„Esunla g’oß.“
Eis ahnte nicht, was sein Herz bedrängte, und das Kind vergaß über einem Neiglein Buttermilch die sonderbare Kunst der Großen, bald klein, bald aber übermächtig, liebeerweckend und wieder abstoßend zu sein, je nachdem man sie durch das Astloch vom Laubengang aus betrachtete oder ihnen allzu nahe kam. Nur eines fühlte er, daß seine Mutter und alle Hausgenossen, die er nach und nach bei ihrer wunderlichen Verstellungskunst erwischte, nicht furchtbar wurden, wenn sie aus den anmutigen Verhältnissen noch so gewaltig in Höhe und Breite wuchsen. Dies war der erste Umweg, auf welchem Theophrast zu den Seinen gelangte.
Durch das andere Astloch sah er nur selten die Menschen. Über die Schweigwies zogen stetige Rinder und die nur wenig lebhafteren Schafe. Zunächst glaubte er, daß sie deshalb so langsam vorwärts kämen, weil sie mit dem Maule weiterkrochen. Doch auch die Waldhöhen, die Kuppe des Etzelforstes lagen gleichmütig und still hinter dem Wiesenrand. Die Bäume mit dem zackigen, gefiederten, runden Laub standen geduldig zu beiden Seiten der Straße und längs der Sihlschlucht, sie rückten niemals von ihrem Platze, wiegten zuweilen ihre Kronen und schickten einander hurtigflatternde Vögel zu, wenn einer dem anderen etwas zu sagen hatte. Die Vögel waren die Stimmen der Bäume, das wußte Theophrast. Es gab auch lautlose Vögel, die nicht von Baum zu Baum schwangen. Die zogen an manchen Tagen, weiß und vielgestalt, über den blauen Mantel hin, der weit über allen Höhen hing. Ihre Schwärme konnten so dicht werden, daß der blaue Mantel ganz verdeckt wurde. Dann mochten sie einander hart bedrängen und weinten viele Tränen. Die Großen traten naß von den Tränen ins Haus, stampften ungeduldig auf den Flursteinen, zeichneten mit den Füßen dunkle Flecke auf den Boden und hingen die Mäntel zum Trocknen über das Ofenreck.
Theophrast sah durch das Astloch in die Welt der Bäume, Höhen, Wolken, wenn er sich am Reiche der Großen sattgesehen hatte, aber auch wenn ihn die Großen nie und nimmer verstehen wollten, mochte er gleich sein ganzes Herz hingebungsvoll ausschütten. Er spähte und hoffte geduldig, daß einmal irgendein Baum den flatternd-bunten Boten zu ihm schicken und zu ihm sprechen werde, denn er meinte, die leise bewegten Kronen müßten ihn verstehen, weil sie nicht mit hastigen Stimmen auf ihn eindrangen, wenn sein Herz voll war und nach Befreiung schlug.
Er saß auf der Schwelle des Laubenganges und spielte mit einem bunten Tüchlein, dem er aus der Betttruhe geholfen hatte, weil es herauskriechen wollte: es hatte die rote Spitze durch den Deckelspalt gestreckt, wie man die Zunge aus dem Mund streckt, war aber stecken geblieben. Man konnte das Knie in das Tüchlein wickeln, wie neulich der Vater einer schreienden Frau das Knie verbunden hatte. Theophrast versuchte des Vaters Kunststück unermüdlich von neuem, es glückte ihm nicht ganz, das Tuch tat nicht weh, er brauchte nicht zu schreien. Schon wollte er es wegwerfen, da flatterte ein Stieglitz über die Brüstung der Laube und schwang sich auf den Eschenast, der unter das Dach hereinhing. Dem Theophrast verging der Atem beinahe; er preßte das Tüchlein in den Schoß und lauschte. Der Stieglitz kletterte den Ast entlang, er pickte da und dort. Dann setzte er sich zurecht und schmetterte seinen Finkensang, daß einem vor Freude das Herz zittern konnte. Theophrast lauschte und wartete auf die Botschaft. Aber er hatte noch nicht am heißen Drachenblute der Mißgunst und des Neides geleckt, er verstand die Sprache der Natur noch nicht. Vielleicht sollte er näher schleichen. Er stand auf, und im Nu war der Stieglitz davon, schneller als es sein ungeschultes Aug erfassen konnte.
„Vogeli, Pip-Vogeli“, lockte er zärtlich, um dem kleinen Boten Mut zu machen, und neigte sich höflich gegen den leeren Ast, der noch leise wippte. Er suchte lange, er horchte geduldig, rief und begriff nicht, wie der Stieglitz fort sein könne, ohne seine Botschaft bestellt zu haben. Dann blitzte ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er auch ein Vöglein senden müsse. Er hatte schon einmal ein Stück Holz auf die Laubenbrüstung gelegt und in die Luft hinausgestoßen; so tat er jetzt mit dem bunten Tüchlein. Lief schnell ans Astloch, zu sehen, wie sein Bote über die Wiese hin auf den Nußbaum flattern werde. Doch er sah ihn nicht, er hörte auch nichts mehr. Indem er lauschte und spähte, wurde ihm grenzenlos bang nach dem verschwundenen Vöglein.
Und wieder sprachen die Großen das letzte plumpe Wort. Die vielbeschäftigte Mutter mußte des Seidentüchleins wegen über die steile Stiege zur Truhe. Ein Glück noch, daß sie es überhaupt gefunden hatte, eh eines Pilgers Blick darauf gefallen war. Theophrast jubelte, als er das Tüchlein in der Hand der Mutter sah. Sein Vöglein kam zurück! Aber die Mutter sprach ernst auf ihn ein, deutete in das Reich der Großen hinunter und hob drohend den Finger.
Theophrast beschwichtigte sie:
„Vogeli fortflogn … Vogeli han!“
Er hielt sich an den Rock der Mutter, erhaschte auf den Fußspitzen das Tüchlein und zog mit aller Kraft daran. Die Mutter gab es nicht frei, sie wehrte die bittenden Hände ab, schloß das gerettete Tüchlein in die Truhe, als gerade der Vater kam.
Der fand den Kleinen in hellem Zorn und Tränen. Das Kind wußte, daß sein Vöglein nicht in der Truhe bleiben wolle, es war in der Hand der Mutter zu ihm zurückgeflogen. Mit seinen Fäusten schlug Theophrast auf den geschnitzten Deckel und schrie aus Leibeskräften:
„Vogeli fortflogn … Vogeli han …!“
„Was tuet ihm so schwer, Elsula?“
„Min siden Fazenetli wollet er uf die Straß schmeißn!“
Sie huschte eilends hinaus, denn die Mittagszeit rief sie zur Mutter.
Theophrast schlug den neidischen Deckel der Truhe und schrie:
„Vogeli, min Vogeli han!“
Wilhelm Bombast zog ihn fort. Er trug ihn auf den Laubengang und versuchte das blonde Haar zu streicheln. Theophrast warf sich zurück und schrie unbändig.
„Büebli, still! Wir wollend ein ander Vögeli ruofen. Lueg, dort kummts gflogen!“
Theophrast hielt einen Augenblick an, er wollte dem Finger des Vaters folgen. Ein Bauer trieb sein blökendes Kalb über die Schweigwies nieder. Theophrast sah und wußte nichts mehr von dem Vögelein. Aber in seiner Brust steckte noch ein heißes Schluchzen, das brach sich Bahn; der ganze Körper bebte.
Und solch erschütternde Bitternis darf den Großen nicht geschenkt bleiben. Er weinte von neuem, doch nur mehr, weil er so tief hatte schluchzen müssen. Herr Wilhelm ahnte, daß seinem Söhnlein die Brücke in ein lichtes Sehnsuchtsland abgebrannt sei. Er versuchte aufs neue den heulenden Kleinen zu streicheln. Da Theophrast nur mehr seines Schmerzes wegen greinte, litt er die sanfte Hand und kam darüber zum Frieden.
„Hast weiter greifen wölln, dann din Ärmlein reicht“, flüsterte der Vater und drückte das nasse Kindergesicht an seine Wange. „Oh, der bösen, stachelichten Zäun, daran eim das Herz muß wundreißen! Sei still, kleiner Mann, ein glattes Herz taugt nit. Hinter den Narben liegt all unser Menschheit.“
Dem Theophrast tat die Stimme seines Vaters wohl. Er war rasch erquickt und packte eine Seidenquaste, die von dem Hemdsaum seines Vaters hing. Er schwenkte sie fröhlich und rief:
„Bimme, bamme, Muh-Kuh, bimme, bamme!“
Auch den Kühen baumelte es vom Halse, nur brauchte man weiter nichts zu sagen, weil es von selber läutete.
An den Bretterspalt des Seitengeländers wagte sich Theophrast nur in besonders mutigen und neugierigen Stunden. Denn dort hing von Ufer zu Ufer der tiefen Schlucht das Ungeheuer gestreckt. Er sah den Rückenkamm und die grauen Schindelschuppen. Das Vieh lag tief geduckt, sperrte seinen Rachen weit auf. Es schluckte die Straße und alles, was talab von der Klause kam. Wenn eines Reiters Rößlein in das große viereckige Maul eingelaufen war, dann donnerte es in dem Leibe des Untiers. Nicht alles wurde gefressen. Manch einen spie es heiler Haut wieder aus. Die Mutter litt nicht, daß Theophrast dem dunklen Schlund zu nahe kam, obwohl er es manchmal gewagt hätte, denn all die Seinen gingen dort ungekränkt ein und aus. Unter dem Drachen brauste es ohn Unterlaß. Aber die Mutter hatte ihn vor den flackernden Zungen im Ofen gewarnt, und er war dann wirklich scharf gebissen worden. Die Großen durften es auch hier wieder wagen. Viele wurden dennoch gefressen; sie kehrten nickt mehr zurück.
Zuweilen wars aber schauerlich schön, hinter den Brettern versteckt, auf das Greuel hinunter zu blinzeln oder es anzubellen. Der Wurm rührte sich nicht, sperrte nur das Maul recht weit auf. Man wußte sich im übrigen gut gedeckt und konnte im Notfall tüchtig schreien.
So waren dem Theophrast von Hohenheim keineswegs Mutter und Vater die ersten Lehrer geworden, sondern eine Bretterwand, darin er zwei Astlöcher und einen dünnen Spalt entdeckt hatte. Theophrast verzweifelte nicht, weil die Welt endlich und immer mit Brettern vernagelt ist. Der kleine Mann hatte seine Astlöcher gefunden und vermochte durch sie die drei Reiche der Sehnsucht zu scheiden. Das bunte und laute, das über die Straße drängt, hoch zu Roß und demütig auf nackten Sohlen. Das stille und weite, aus dem es lockt mit der Stimme heimlicher Quellen. Das rätselvoll verschlossene, von ewig gleicher, dumpfbrausender Mahnung erfüllt, das den leblosen, starren Rachen weit öffnet.
Vermag irgendein Lehrmeister Besseres als die Laube des Ochsnerhauses an der Teufelsbruck, die dem Kinde seine erste Bretterwand und seine ersten Sehnsuchtsblicke wies, ehe es noch den Trost des schallenden Wortes erlauscht hatte?
Zwar spielte auch Theophrast mit dem Worte und lernte dabei den vieibefahrenen Weg von der Rachenhöhle bis zum Lippenrand kennen, aber im allgemeinen brauchte er die Worte doch nur, wie man tüchtige Hände braucht, um etwas zu ergreifen oder abzuwehren. Doch auch er merkte bald, daß seine Worte weiter reichten als seine Arme und Beine. Sie griffen in die Welt der Großen, konnten deren kräftige Hände bewegen, und sie vermochten auch den Zorn der Großen zu besänftigen, ihren Unverstand zu überführen. Mit dem Schreien allein wurde wohl das Äußerste geleistet, das Äußerste begriffen die Großen aber selten recht. Wahrscheinlich, weil sie selten schrien.
Theophrast war kein Mann, der sich allzusehr auf Hilfen verließ, daher war seine Rede kurz. Er sagte: „Blei han! Blot han!“ – wies dabei auf Brei und Brot, griff mit dem Wörtlein han zu. E>as tat er so lang, bis die Hände der Großen vollführten, was er tat. Wuchs ein Mißverständnis zu drohenden Reden oder gar zu peinlichen Gebärden aus, so versuchte ers vorerst mit Beruhigungen. Auch damals, als er daraufgekommen war, daß der Besen in den Eimer gesteckt werden konnte.
Zog man den Besen wieder heraus, so weinte er helle Tropfen und brachte auf dem Estrich eine lange, nasse Regenstraße zustande.
Ging einer die Straße, konnte er wie die Großen bei Regenwetter herumstampfen, und wo die Füße gestampft hatten, blieben dieselben dunklen Flecke.
Derlei Entdeckungen wollten unter allen ihren Umständen erprobt sein. Es gelang eine richtige, nasse Regenstraße auch auf der Ofenbank. Dort freilich konnte niemand gehen, aber Theophrast erinnerte sich seiner Kriechzeit, er tatschte über die Regenstraße hin und brachte mit seinen Händen gleichschöne, dunkle Regenflecke auf Bank und Wand hervor, wie es die Großen nur mit ihren Füßen und nur auf dem Boden vermochten. Der nächste Schritt war leicht. Theophrast fragte sich: wozu erst die nasse Straße, wozu die weinenden Ruten? Er schleppte den Besen weit fort, um von ihm nicht mehr aufgehalten zu werden, tauchte die Arme bis über die Ellbogen ins Wasser und konnte jetzt überall Regennässe anklatschen, wenn nur die Arme immer fleißig ins Wasser fuhren. Doch einen Übelstand hatte diese Methode. Sie blieb auf die Hände beschränkt, und die Füße gingen leer aus. Theophrast stand eine Weile unschlüssig vor dem Eimer, er dachte scharf nach. Es fiel ihm ein, daß er unlängst beinahe auf die Betttruhe gekommen wäre. Er hatte das eine Bein gehoben und sich bäuchlings über die Truhe gelegt, da war das andere Bein leicht geworden, nur ein letzter Schwung noch hatte gefehlt. Der Eimer war nicht höher als die Betttruhe. Wenn er ins Wasser greifen konnte, so konnte er vielleicht ebensogut ins Wasser steigen. Er machte es genau wie unlängst, legte sich über den Eimerrand, tastete mit dem Knie hinauf und versuchte den leichten Schwung, der damals gefehlt hatte. Da geschah etwas durchaus Unerwartetes: der schwere Eimer fiel um und ergoß sich über Theophrast. Der saß kühl und deshalb merklich beunruhigt in der Nässe und mußte überlegen, ob er nicht lieber schreien solle, daß die Mutter käme. Aber der Eimer gähnte ihn mit seinem großen Maul so wunderlich an wie das Ungeheuer über der Sihlschlucht, nur nicht so fürchterlich. Theophrast beschloß, lieber nicht zu schreien, obwohl es ihm schon hoch in der Kehle gesteckt war, und in das Eimermaul hineinzukriechen, um nachzusehen.
Es war ganz finster und roch auch nach Keller. Im Keller, das wußte Theophrast, wuchs die Stimme so gewaltig, daß man für einen Großen angehört werden konnte, wenn man sang. Und das war gut, denn in der Dunkelheit tut ein männlicher Gesang wohl. Deshalb sang Theophrast, wenn er der Mutter in den Keller nachkletterte. Er versuchte seine Stimme auch im Eimer, und sie umbrauste ihn gewaltig. So lag er fröhlich in der Pfütze, schrie aus Leibeskräften und strampelte den Takt mit den Füßen, daß es spritzte.
Das Lied lockte die Mutter, und es kam zu einem jener Mißverständnisse. Die Mutter redete überlaut, vermochte die außerordentlich einfache Sachlage offenbar nicht zu überblicken und ließ sich zu drohenden Gebärden hinreißen. Theophrast hörte mit gerunzelter Stirn so lang zu, bis sie nach Atem rang, dann sagte er:
„Esunla, Fried ge’m.“
Er schlug auf den Eimer und erklärte:
„Bums, umfalln, nassi naß.“
Damit war die Angelegenheit eigentlich erschöpft, die Mutter hätte beruhigt und überzeugt sein können, daß den Wankelmut des Eimers allein alle Schuld an dem Unheil traf, wenn überhaupt ein Unheil geschehen war.
Aber die Mutter führte ihn so hastig hinauf, daß seine zappelnden Beinchen kaum folgen konnten und er vermuten mußte, es sei etwas Bedeutungsvolles im Werke. Sie schälte ihn aus dem nassen Zeug, immerfort scheltend, und als er endlich vom Kopf bis zum Fuß trocken gekleidet war, bekam er etliche auf jenen wichtigen Angelpunkt seines Daseins.
Er weinte mehr über die Verständnislosigkeit der Großen als über die Strafe. Es überwog das Gefühl, ihm sei ein Unrecht widerfahren, aber ganz leise dämmerte auch in seinem jungen Herzen das Bewußtsein irgendeiner Schuld: die Mutter ist bös gewesen, und die Mutter ist immer gut, auch wenn sie bös ist.
Er folgte der Mutter, beobachtete, wie sie die Pfütze geduldig auftrocknete und den Eimer entleerte. Als der Eimer wieder an seiner Stelle stand, hob die Mutter noch einmal drohend den Finger gegen ihn. Er sah, daß sie nicht mehr zürne, und lief zu ihr. „Mammeli, dut … Eia, eia, Esunla.“
Er streichelte ihr zärtlich die erhitzte Wange, und die Mutter lächelte wieder.
Dem Theophrast wurde darüber eigentümlich frei zumut. Das erstemal begriff er, ganz schüchtern freilich und wurzelhaft, daß zu den Großen noch ein anderer Weg führte als beruhigende Worte und sachliche Aufklärungen.
Er gab der Mutter ein wenig Zärtlichkeit und Liebe wieder, und dabei ahnte er, wie sehr er selbst all seinen Frieden aus der Liebe und Zärtlichkeit der Mutter sog. Es blieb nur leisestes Ahnen, er wußte kaum mehr davon als die sanfte Berührung der mütterlichen Wange, den weicheren Klang seiner Stimme und das Lächeln der Mutter, aber er hatte dabei unversehens doch einen tüchtigen Schritt ins Menschentum hinein getan. Denn keiner wird der Liebe des andern froh, der Liebe, darauf eines jeden letzter und innerster Verlaß ruht, er gebe sie denn selber.
Theophrast wich diesen Tag nicht mehr von der Seite der Mutter. Er begleitete still ihre Tätigkeit, ohne sie zu hemmen, und die Mutter meinte, daß zuweilen ein paar kräftige mit der flachen Hand segensreich sein können. Sie freute sich ihrer Erziehungskünste.
Am Abend willigte er ohne Geschrei ins Schlafengehen ein. Andere Tage mußte er gewaltsam von den zahllosen Geschäften fortgerissen werden, die unerledigt blieben, wenn er ins Bett ging. Die junge arbeitsmüde Frau hoffte an diesem Abend ohne lange Formeln und Gesänge, die sonst ihre letzten Tageskräfte forderten, frei zu kommen. Darin hatte sie fehlgerechnet. Theophrast war nur so still und willig gewesen, weil er besonders sehnsüchtig dem Abendlied entgegenlauschte. Als die Mutter entschlüpfen wollte, begann er bitterlich zu weinen.
„Slafen gähn, Mammeli … slafen gähn!“
Es blieb ihr nicht geschenkt. Sie setzte sich auf die Bettkante, nahm seine kleine Hand und sang:
„Ich will heint schlafen gähn,
Zwölf Engli bi mir stahn,
Zwen zur Houpten,
Zwen zur Siten,
Zwen zun Füeßen,
Zwen die mich decken,
Zwen die mich wecken,
Zwen die mich wisen
Zu den himmlischen Paradisen.“
Theophrast blinzelte zufrieden. Die Mutter hoffte schon, da nahm das Lied sein Ende, und Theophrast schlug die Augen weit und sehnsüchtig auf.
„Esunla, noch … slafen gähn.“
Sie mußte wieder beginnen und so lange singen, bis alle zwölf Engel um Theophrast versammelt waren und seine Finger sich von dem Daumen der Mutterhand lösten.
Dann legte die junge Frau ihre verschränkten Arme auf die Bettkante und nistete ihren Kopf darein, die kleine Weile der ersten tiefen Ruhe zu genießen. Ihre Schultern schmerzten ein wenig von der Last des Tages, und sie lachte leise, so wohl tat dieser erste Frieden.
Theophrast forderte ihr ganzes Wesen für jenen Teil ihres Lebens, das in ihm neu ergrünte. Er war unersättlich und voll Vertrauen in die Unerschöpflichkeit der Mutter. Die junge Frau gab ihm zuweilen ihre letzte Kraft aus zitternden Händen.
Wilhelm Bombast fand Weib und Söhnlein in tiefem Schlaf. Er wagte kaum aufzutreten, doch sah er, daß der Körper seines Weibes nur schwer die unsichere Haltung ertrug. Todmüde mußte sie sein und würde mit wehen Gliedern erwachen, wenn sie so halb verhangen am Bettrande weiterschliefe. Eine unsägliche Zärtlichkeit erfüllte ihn. Wie sollte er helfen, ohne sie zu wecken! Er überlegte lange. Sein Herz schlug ihm vor Liebe und Dankbarkeit, er hätte viel auf sich genommen, wenn er der Erschöpften damit den unverkürzten Schlafgenuß gewonnen hätte.
Leise umfing er sie. Er hielt den Atem an. Schob leise ihren Kopf auf seine Schulter, richtete behutsam, als müsse er einen Verlöschenden betten, ihren zarten Körper auf und legte ihn sanft in die Kissen. Er blieb, am Rande des Bettes kniend, denn er wagte nicht mehr, seinen Arm unter der Schlafenden vorzuziehen, und drückte seinen Mund in das Kissen, um den gepreßten Atem zu zähmen. Er wollte sein Teil an dem großen Liebeswerk gewinnen, dem die Mutter ihre Jugend aufopfert, und wenn es auch nur der karge Teil war, der dem Vater von der Natur gewährt wird.
Als sich aber Frau Eis zu strecken begann, und Bombast mit gutem Recht glauben konnte, sie sei einstweilen gesättigt, zog er, ehe sie vollends erwachte, den Arm hervor und trug die Heilmeistertasche beiseite.
„Bist lang hie, Bombast?“
„Nit lang, Elsula.“
„Bin ohnversehends entschlafen.“
„Die alt Krütlin möcht uns ihr jungist Maidli geben, so du willt eine Helferin han.“
„In acht Wochen wird er zween Jahr, und das Gröbist ist bschechn, Bombast.“
So wuchs der kleine Theophrast von Hohenheim in die Menschenwelt hinein genau in dem Maße, als die lebendigen Keime der Menschenwelt, die er in sich trug, aufzubrechen und zu treiben begannen. Später fand er einen Namen für dieses wunderliche Geschehen, das von Anbeginn fest in der Art eines Menschen beschlossen ist. Er nannte es auch Firmament, das mit dem Kinde wird geboren, das zwischen Geburt und Todesstunde abläuft, zwischen Creatz und Prädestinatz, wie er es nachmals hieß.
Damals freilich hätte er diese Anschauung, selbst wenn ihm die vortrefflichen Namen eingefallen wären, vergeblich seiner guten Mutter gepredigt. Er handelte aber insgeheim danach, wie jedes rechtschaffene Kind. Seine Mutter mochte sich nicht auf all den inneren Reichtum ihres Theophrast verlassen, und auch sie tat gut daran. Sie wies ihn unbedenklich an die erprobten Erfahrungen und behandelte ihn durchaus wie einen leeren Schlauch, der seinen Wert erst hat, wenn er voll des guten Weines ist.
Es war ein Kampf, darüber braucht kein Honig geschmiert zu werden. Beide, er und die Mutter, setzten alle Kraft daran. Aber der Kampf brannte über dem treuen Boden der Liebe. Und waren beide aneinander herzlich müde geworden, bettete sie der treue Boden, und sie konnten ihres Lebens froh bleiben.