Читать книгу Der gute Ton und die feine Sitte - Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem - Страница 23

19. Welchen Einfluss hat die Gegenwart auf die Regeln des Anstandes?

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Wer fein beobachtet, dem wird es nicht entgangen sein, dass der gesellige Verkehr sich nach und nach gegen früher viel zwangloser, d. h. viel natürlicher gestaltet hat, und das entschieden zu seinem Vorteil. Dies ist zweifellos der allgemeinen Zeiiströmung zuzuschreiben, die in Kunst, Wissenschaft und Leben nach der Natur strebt und in allem danach trachtet, Vorurteile zu besiegen. Man hört heute oft ältere Leute sagen: „Das hätte man zu meiner Zeit nicht sagen und tun dürfen.“ Aber als diese Leute jung waren, sagten ihre Eltern sicherlich dasselbe. Die Zeit ändert eben die Ansichten über vieles im Leben; noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hätte kein regierender Fürst seinen Erben auf dieselbe Schulbank mit dem Sohne seines ersten besten Untertans gesetzt, und während heute der unbeschränkte Gebrauch eines Taschentuches jedem Gebildeten zur Pflicht gemacht wird und kein Mensch sich wundert, dieses notwendige Wäschestück in einer Hand zu sehen, so gab es eine Zeit, wo das blosse Wort »Taschentuch« schon für unanständig galt und der Gebrauch desselben nur nach dem Verlassen des Zimmers gestattet war. Selbst heute noch trifft man Leute, die förmlich unter dem Tisch verschwinden, wenn sie sich die Nase putzen wollen, damit nur um Gotteswillen kein Mensch das Taschentuch sieht. Man muss daher bemüht sein, nicht hinter der Zeit zurückzubleiben, und sorgsam darauf zu achten, was sie von uns fordert; nur wenn man mit der Zeit geht, schreitet sie nicht über uns weg, und das allein kann uns, wenn wir älter werden, vor Ärger und Enttäuschung bewahren und vor dem so oft gehörten: „Das verstehe ich nicht mehr, das war zu meiner Zeit anders.“ Der Allgemeinbegriff über den guten Ton ist wohl zu allen Zeiten derselbe geblieben, aber der gute Ton selbst ist gottlob natürlicher geworden. Wenn trotzdem ein vor einigen Jahren erschienenes Lehrbuch über den Anstand verbietet, von »Beinen« zu sprechen, weil das unanständig sei, und das schlichte »Ja« für rüde erklärt und durch das gezierte »Allerdings« ersetzt haben will, so können wir mit dem besten Gewissen nur den guten Rat geben, sich durch solch übertriebene und unnatürliche Anstandsregeln nicht irreführen zu lassen. Denn wenn es schon unanständig wäre, von Beinen zu sprechen, so wäre es dies von Beinkleidern erst recht, und ein Mensch, der gar vom Hosenbandorden spricht, wäre ein abschreckendes Beispiel für alle Jünger des guten Tons. Dennoch ist es noch niemand eingefallen, diese höchste englische Dekoration den »Unaussprechlichen Bandorden« zu nennen.

Der gute Ton und die feine Sitte

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