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DIE GRUNDSCHULE

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Ich wurde 1960 in Frankfurt am Main geboren. Bei meinem Eintritt in die Schule fiel mir zum ersten Mal auf, dass bei mir etwas anders war als bei den anderen Kindern, und ich begann zu ahnen, dass das mit dem Reichtum meines Vaters zusammenhing. Meine Schule lag auf der Grenze zwischen einem Viertel, in dem Wohlhabende wohnten, und einem Arbeiterviertel, und so trafen sich hier, naturgemäß, Kinder aus beiden Schichten. Die Schule war ein riesiges, ziegelrotes Gebäude. Ich musste von unserem in einem großen, parkartigen Garten gelegenen Haus die Straße entlanglaufen, dann rechts abbiegen und erreichte in ungefähr zwanzig Minuten den Haupteingang der Schule. Über ein paar Stufen ging es dann ins Erdgeschoss des Gebäudes. Mein Klassenzimmer lag im zweiten Stock, und von den Fenstern aus hatte man einen weiten Blick über die Stadt.

Ich erinnere mich recht deutlich an meinen ersten Schultag, an dem ich in Begleitung meiner Mutter, die Schultüte im Arm, dieses Gebäude zum ersten Mal betrat. Wir wurden namentlich aufgerufen und in unser zukünftiges Klassenzimmer gewiesen. Dort bemerkte ich, dass sich sowohl Mütter als auch Kinder teilweise kannten. Meine Mutter und ich standen alleine und etwas verloren herum. Kurze Zeit später stellte sich uns eine Frau Stauder als unsere Klassenlehrerin vor. Sie verabschiedete die Mütter freundlich und forderte uns Kinder auf, uns einen Platz auszusuchen, die kleinen vorne und die großen hinten. Da ich zu den größeren gehörte, ging ich zu einer der hinteren Bänke. Ich weiß aber nicht mehr, ob ich wartete, bis sich jemand neben mich setzte, oder ob ich neben einem schon sitzenden, mir sympathisch erscheinenden Mädchen Platz nahm.

Die schon etwas ältere, freundlich blickende Frau Stauder mochte ich gerne, und nachdem ich Folgendes mit ihr erlebt hatte, konnte ich annehmen, dass auch sie mir zugetan war: Eine Schülerin aus einer höheren Klasse hatte mich offenbar in Reitstiefeln gesehen, was gut sein konnte, denn ich durfte damals schon Reitunterricht nehmen. So kam es, dass sie mir mit ein paar Freundinnen in der großen Pause hinterherlief und alle »Reitstieflere, Reitstieflere!« schrien. Da packte mich der Zorn, weil sie mich so verspotteten. Ich rannte auf das Mädchen zu und verprügelte es, bis es zu weinen anfing. Ich allerdings weinte auch, aber aus Wut und Verletzung, während meine Freundin Tina versuchte, mich zu beruhigen.

Als die Pause zu Ende war und wir zurück in unser Klassenzimmer gingen, bekam ich mit, dass die Schülerinnen mich bei Frau Stauder verpetzen wollten, weil ich auf ihre Kameradin losgegangen sei. Frau Stauder aber fand mein Verhalten in Ordnung und lächelte mir zu, als ich an ihr vorbeiging.

Dies sind zwar von der langen Zeit vernebelte Erinnerungen, aber ganz deutlich ist mir heute noch das starke Gefühl von Wut, Verletzung und auch Angst.

Dabei wurde mir klar, dass ich – aus einem mir damals sicher noch nicht verständlichen Grund – eine Außenseiterin war, weil ich aus einem reichen Hause kam. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, dass dem nicht so gewesen wäre! Aber so war es eben. Als Vater Phillip und mich dann in dem teuren Lyzeum Alpinum unterbrachte, war dieser Druck – unter all den andern Kindern reicher Eltern – erst einmal weg.

Der entscheidenden Schock aber kam, als ich – durch Vaters unerwarteten Tod – plötzlich mit dem tatsächlichen Umfang meines Erbes konfrontiert wurde. Dabei wurde mir eines schlagartig bewusst: Ich würde mein Außenseitertum niemals loswerden. Offenbar bin ich damit nicht fertig geworden und habe dann – aus meiner heutigen Sicht – seltsam reagiert. Vielleicht war ich einfach noch so kindlich, dass ich auf keinen Fall anders sein wollte als die anderen, und die Erkenntnis, dass dies niemals der Fall sein würde und dass ich dieses Schicksal annehmen müsse, hat mich tief getroffen.

Phillip und ich kamen also ins Lyzeum Alpinum in Zuoz, nachdem die Ehe unserer Eltern, wohl hauptsächlich wegen Mutters Alkoholkrankheit, gescheitert war. Phillip fiel es viel schwerer als mir, sich in diesem Internat einzuleben. Er hing sehr an unserer Mutter und fühlte sich abgeschoben. Aber schließlich fand er doch Freunde, und dank seiner guten Noten bekam er auch Anerkennung. Er lernte wenig, es flog ihm alles zu. Außerdem hatte er Humor. Wenn er die Lehrer nachmachte, lachten alle schallend. Allmählich begann mein Bruder wohl auch einzusehen, dass es wegen der Scheidung der Eltern und des zunehmend bedenklichen Zustands unserer Mutter auch für ihn besser war, in diesem Internat zu leben. Vor allem, nachdem er Freundschaft mit dem aus der französischen Schweiz stammenden Frederic geschlossen hatte. Der war kurz nach uns ins Internat gekommen und litt ebenfalls unter Heimweh. Er hatte ein gewinnendes Wesen genauso wie Phillip, doch im Unterschied zu ihm fiel ihm das Lernen nicht leicht, zumal er weder Deutsch noch Englisch perfekt beherrschte. Dafür war Frederic ein gewandter Sportler. Außerdem hatte er schon die ersten Abenteuer mit Mädchen hinter sich, wofür ihn mein in dieser Hinsicht schüchterner Bruder bewunderte.

Phillip spielte zu dieser Zeit bereits sehr gut E-Gitarre, und Frederic hatte angefangen, Schlagzeug zu lernen. Sie wurden Mitglieder der Schulband, die bei verschiedensten Gelegenheiten des Schullebens gefragt war, und beiden machte es großen Spaß mitzuspielen. Frederic, der beliebig Geld zur Verfügung hatte, kaufte sich alle Schallplatten mit den neuesten Hits, und die Freunde verbrachten viele Stunden damit, sie anzuhören.

Ich selbst freundete mich bald mit Urs und Gretel Lüthi an. Urs war in meiner Klasse, Gretel eine Klasse tiefer. Mit ihr war ich durch unsere gemeinsame Freude am Querflötenspiel verbunden, und wir saßen im Schulorchester am gleichen Pult. Wir waren so begeistert, dass wir uns häufig in der großen Pause trafen, um Duette zu spielen. Wenn das Wetter schön war, gingen wir in unserer Freizeit manchmal mit unseren Flöten in den nahen Wald. Das war nicht nur romantisch, sondern auch sehr spannend, weil wir befürchten mussten, von den Kameraden entdeckt und verspottet zu werden. Wir wurden unzertrennlich und vertrauten uns gegenseitig fast alles an. Dass Gretel eine Klasse unter mir war, spielte dabei keine Rolle.

Urs dagegen warb in so sympathischer Weise um mich, dass auch wir gute Freunde wurden. Zum Beispiel wusste er es, wenn wir mit der Klasse einen Skiausflug unternahmen, fast immer so einzurichten, dass wir nebeneinander im Lift saßen. Bis dahin war mein Vater – mit Ausnahme meines Bruders Philipp – für mich das einzige männliche Wesen, das ich näher kannte. Urs gefiel mir, und es schmeichelte mir wohl auch, dass er sich so offensichtlich für mich interessierte.

Urs war ein fantastischer Skifahrer, da er von klein auf jeden Winter auf den Brettern gestanden hatte. Von seiner Heimatstadt Solothurn ist es ja nicht weit in die Alpen, und seine Eltern liebten diesen Sport und nutzten jede Gelegenheit, um mit ihren Kindern Ski zu laufen. Ich dagegen kam aus einem Elternhaus, in dem sich niemand sportlich betätigte. Allerdings hatte mein Vater diese unselige Vorliebe für rassige Autos, die ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Aber immerhin hatte ich vor einigen Jahren, als ich noch in der Grundschule war, einen dreitägigen Skikurs mitgemacht, und so hatte ich wenigstens schon einmal auf Skiern gestanden.

Das Skifahren hier in dieser unglaublich schönen Landschaft war jedoch etwas vollkommen anderes! In unserer Freizeit ging ich daher häufig mit Urs zusammen auf die Piste. Er war ein geduldiger Lehrer, und am Ende der Saison konnte ich schon viel besser mit ihm mithalten.

Als der Winter vorbei war, schlug er vor, zusammen einen Kletterkurs zu machen, der über die Schule angeboten wurde. Aber ich lehnte ab, weil ich nicht schwindelfrei genug bin. Überhaupt fand ich die vielen Angebote, die wir vonseiten der Schule bekamen, ziemlich übertrieben; deshalb sagte ich zu Urs, dass mir das ein schlechtes Gewissen mache gegenüber Kindern ärmerer Eltern, die sich so eine Schule nicht leisten konnten. Aber er fand nichts dabei. Für ihn war es vollkommen natürlich, dass Eltern, die es zu etwas gebracht hatten, ihre Kinder auf Schulen schickten, in denen sie Freunde aus derselben Gesellschaftsschicht finden konnten, und das sogar international. Sie sollten ja schließlich einmal das Familienerbe übernehmen.

Seine Ansicht machte mich nachdenklich, und ich verstand, dass das in seiner alteingesessenen Unternehmerfamilie anders war als bei uns, wo es außer Geld nichts zu vererben gab. Sicher hätte mein Vater versucht, seine Expertise an uns weiterzugeben, wenn wir uns dafür interessiert hätten. Doch das war weder bei Phillip noch bei mir der Fall. Verständlicherweise, denn wir erlebten ja, unter welchem Stress er andauernd stand und wie wenig Zeit er für uns aufbringen konnte, obwohl er uns liebte, das spürten wir.

Oft dachte ich mir, was das für ein knochenharter Beruf sein müsse und wie wenig er eigentlich vom Leben hatte. Dazu kam noch seine verkorkste Ehe. Wie war er nur darauf verfallen, diese labile Frau, die meine Mutter nun einmal war, zu heiraten? Im Nachhinein hege ich den dunklen Verdacht: Der Grund war, dass sie die Tochter eines erfolgreichen Bankiers war, der Vaters Karriere ebnete. Außerdem konnte er durch diese Heirat mit einem entsprechenden Erbe rechnen. Ich wünsche mir, dass ich mich irre, aber angesichts meiner immer mehr der Trunksucht verfallenden Mutter kann ich das nicht recht glauben.

Dies sind zum Teil Gedanken, die ich mir damals noch nicht machte. Ich war jung, das Leben lag vor mit, und ich war froh, in dieser Schule gute Freunde gefunden zu haben.

Mit Urs einigte ich mich darauf, statt eines Kletterkurses lieber Bergwanderungen zu unternehmen. So schien mein Leben – und das meines Bruders – in die richtigen Bahnen gekommen zu sein, als das Unheil uns traf.

Erben

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