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5. Kapitel

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Deauville, Frankreich, 12. Januar 1923

Michelle Didier wurde ihrer Mutter, Madame Legrand, immer ähnlicher. Hatte sie früher die strengen Ansichten ihrer Mutter verurteilt und war ein freidenkender und geradliniger Mensch gewesen, so hatten die letzten Jahre sie verbittern lassen und sie zu einer ewig nörgelnden und unzufriedenen Person gemacht.

Schuld daran war sicher das Bewusstsein, dass ihr Mann Pierre sie nicht liebte und sie nur aus Mitleid geheiratet hatte. Dass er in jeder Minute, die er mit ihr zusammen verbrachte, eigentlich an diese Deutsche, diese Sophie, dachte.

Michelle war ein sehr romantisches Mädchen gewesen, das an die große Liebe glaubte, und eine ganze Zeit lang hatte sie Pierre für diese große Liebe gehalten. Aber gab es eine große Liebe ohne Gegenliebe? So hatte Michelle es sich in ihren Träumen jedenfalls nicht vorgestellt! Als Pierre ihr kurz vor seinem Heiratsantrag gestanden hatte, dass er eigentlich eine andere Frau liebe und dass er sie nur heirate, weil ihre Mutter die Verlobung schon öffentlich verkündet hatte und er ihr die Schande ersparen wolle, war sie tief verletzt gewesen und hatte den Antrag stolz abgelehnt. Sie wollte, dass er sie aus Liebe und nicht aus Mitleid heiratete.

Schließlich aber hatte sie festgestellt, dass sie ohne ihn nicht leben konnte, und sich entschlossen, den Antrag anzunehmen. Sie würde ihm eine gute Frau sein und ihn, dessen war sie sich sicher, im Lauf der Zeit dazu bringen, diese Deutsche zu vergessen und sie, Michelle, von ganzem Herzen zu lieben.

Doch Pierre vergaß Sophie nicht. Zwar sprach er nie von ihr, denn er wusste, was sich gehörte, aber Michelle spürte, dass Sophie zwischen ihr und Pierre stand und dass das vermutlich auch immer so sein würde. Sie versuchte, seine Liebe zu gewinnen, opferte sich regelrecht für ihn auf. Doch je mehr sie sich selbst aufgab, desto mehr zog er sich von ihr zurück. Und Michelle dachte verzweifelt, wie leicht es diese Sophie doch hatte. Eine Liebe, die nie über den Zustand der ersten aufregenden Phase hinauskam, ließ sich leicht glorifizieren, schließlich hatten die beiden keinen Alltag miteinander geteilt, sich nie aneinander gewöhnt. Kein Wunder, dass ihm Sophie da nur in den leuchtendsten Farben in Erinnerung geblieben war. Sie, Michelle, hingegen teilte sein Leben. Sie bemühte sich zwar immer, schön und gepflegt zu sein, aber er hatte sie nun auch mal verschwitzt gesehen, nachdem sie ihm die Kinder geboren hatte. Er sah sie hustend und krank während einer Grippe, er wusste, wie sie morgens nach dem Aufwachen aussah. Sie kam nicht auf die Idee, dass solche Momente Liebe stärken konnten. Und dass es Momente waren, die die gegenseitige Zuneigung vertieften, selbst wenn es sich nicht um die große Liebe handelte. Michelle dachte, sie müsse immer schön und gut gelaunt sein, um mit Sophie konkurrieren zu können, und sie begann, sich eine Maske zuzulegen, die das Einzige verdeckte, was Pierre an ihr gemocht hatte: ihre Natürlichkeit. Sie achtete darauf, vor ihm aufzustehen, um ihm geschminkt entgegenzutreten, und ihr Umgang miteinander wurde beherrscht von ihrem oberflächlichen, scheinbar gut gelaunten Geplauder. Was Pierre, den menschliche Tiefe anzog wie nichts anderes, immer weiter von ihr forttrieb.

Michelle war verzweifelt und sehnte sich nach dem Rat und den tröstenden Armen ihrer Mutter. Doch die Mutter war für sie unerreichbar geworden, denn Pierre und Michelle hatten unmittelbar nach ihrer Hochzeit den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, da sie ihnen nicht verzeihen konnten, was sie ihnen angetan hatten. Sie verkündeten die Verlobung der beiden öffentlich, bevor sie selbst etwas davon wussten. Pierre, als Mann der guten Manieren, sah danach keinen anderen Weg mehr, als Michelle tatsächlich zu heiraten. Vor allem er war es gewesen, der darauf drängte, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, denn ihn hatte man zu etwas gezwungen, was er nicht wollte. Michelle hingegen war zwar zunächst ärgerlich auf ihre Mutter gewesen, hatte sich dann aber schnell damit abgefunden, denn es brachte ihr den Mann, den sie liebte.

Als Michelle Pierre zwei Kinder geschenkt hatte, einen Jungen und ein Mädchen, dachte sie, nun müsse alles gut sein und Pierre würde sich ihr endlich ganz zuwenden.

Aber Pierre änderte sich nicht. Er liebte seine Kinder zärtlich, doch er distanzierte sich unmerklich nur noch mehr von Michelle, weil er dem Band entgehen wollte, das die Kinder automatisch zwischen ihnen knüpften. Und weil er Michelles Oberflächlichkeit nicht ertragen konnte.

Eines Tages brach Michelle zusammen. Sie konnte nicht immer nur Liebe geben, ohne auch nur das kleinste bisschen zurückzubekommen. Sie fühlte sich gedemütigt und ungeliebt, wurde hysterisch und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.

Pierre hielt diese ständig weinende Frau, die er nicht liebte, noch weniger aus als die, die eine Maske und ein ständiges Lächeln zur Schau trug, und floh, so oft es ging, von zu Hause. Er machte lange Spaziergänge und dachte an Sophie, seine Sophie.

Vier Jahre, nachdem sie begonnen hatte, war die Ehe zwischen Michelle und Pierre völlig am Ende.

»Geh doch zu deiner Sophie!«, keifte Michelle.

»Michelle«, sagte Pierre gereizt, »ich würde dich nie verlassen, das weißt du doch.« Es klang gelangweilt, resigniert, ein unendlich oft wiederholter Satz.

»Du hast mich schon längst verlassen.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte Pierre und faltete ärgerlich seine Zeitung zusammen. »Ich lebe seit über vier Jahren mit und bei dir.«

Michelle ließ nicht locker. »Du weißt genau, wie ich es meine.«

Pierre schwieg, denn sie hatte recht. Aber so gesehen, hatte er sie nicht verlassen, weil er nie wirklich bei ihr gewesen war. Er hatte sich immer große Mühe gegeben, Sophie zu vergessen und sich ganz auf Michelle einzulassen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen.

»Siehst du«, triumphierte Michelle, »du weißt nicht, was du darauf sagen sollst, weil dir klar ist, dass ich recht habe.«

Pierre schwieg noch immer. »Ich habe dir nie etwas vorgemacht, Michelle«, sagte er schließlich leise. »Vom ersten Tag an habe ich dir gesagt, dass ich diese Frau liebe und dass ich dir nicht versprechen kann, sie je zu vergessen.«

»Oh doch, du hast mir etwas vorgemacht, Pierre.« Michelles Stimme wurde schrill. »Du hast mir erst gesagt, dass du diese andere liebst, als es schon zu spät war.«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt!« Pierre knallte die Zeitung auf die Glasplatte des Korbtisches im Wintergarten, der eine herrliche Sicht auf den Strand von Deauville eröffnete. Die Tasse aus dem teuren Service fiel auf den harten Steinboden und zerbrach in tausend Stücke.

»Die schöne Tasse!«, rief Michelle hysterisch. »Kannst du nicht aufpassen!«

Pierre ignorierte den Vorwurf. »Für diese öffentliche Verlobung kann ich nichts«, sagte er stattdessen. »Die haben wir ganz allein deiner Mutter zu verdanken.«

»Das meine ich nicht. Ich meine die Zeit davor, bevor du wieder an die Front musstest. Du bist mit mir ausgegangen und hast mir den Hof gemacht. Ich habe mich in dich verliebt und Mutter dachte natürlich auch …«

Pierre riss der Geduldsfaden. »Willst du mir jetzt etwa auch noch die Schuld für diese Verlobung geben?«, brüllte er. »Willst du sagen, ich hätte deiner Mutter Anlass gegeben zu denken, dass wir uns über eine Überraschungsverlobung freuen würden?«

Michelle zuckte die Schultern. »Schließlich sind wir oft genug zusammen ausgegangen. Aber das meinte ich nicht, als ich sagte, es sei zu spät gewesen.«

»Was meintest du dann?«, fragte Pierre scharf.

»Ich habe es dir bereits gesagt. Du hattest mir Hoffnungen gemacht und ich hatte mich in dich verliebt.«

»Ich habe nie Anlass gegeben …«

»Oh doch.«

»Aber ich dachte damals, dass das alles ganz ungezwungen gewesen wäre. Schließlich hattest du ja selbst gesagt, dass du diese ständige Hofmacherei satthast.« Pierres Stimme klang nun leise, verzweifelt.

Michelle traten die Tränen in die Augen. Er wollte sie einfach nicht verstehen. Sie fühlte eine ungeheure Wut in sich aufsteigen. Wut auf Pierre, der sie nicht liebte, Wut auf Sophie, die an allem schuld zu sein schien, und vor allem Wut auf sich selbst, weil sie so schwach war und ihr schon wieder Tränen in den Augen standen. Sie musste sich zusammenreißen, sie würde nicht wieder vor ihm weinen. Diesmal nicht.

»Geh doch nach Deutschland«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Geh zu den Verrätern.«

»Wieso Verräter?«

»Nun, sie halten sich nicht im Mindesten an die Bedingungen des Versailler Vertrags. Mit ihren Kohlelieferungen sind sie ganz schön hinterher.«

»Sie können nicht anders, Michelle. Sie haben wahrscheinlich nichts mehr, was sie uns geben können.« Kalt fügte er hinzu: »Und seit wann interessierst du dich überhaupt für Politik? Es geht dir doch nur darum, Sophie eins auszuwischen.«

»Mein Gott, bist du gutgläubig!«, zischte Michelle. »Wahrscheinlich verherrlichst du das Land, weil deine Sophie eine Deutsche ist. Denk daran, was die Deutschen uns alles angetan haben im Krieg. Sie sind Banausen! Wilde!«

Pierre schwieg. An seiner Schläfe pochte eine Ader. Sie redet wie meine Mutter, dachte er angewidert. Ich hätte sie für klüger gehalten.

Michelle sah ihm seine Wut an und provozierte ihn bewusst. »Es ist schon ganz gut, dass unsere Truppen jetzt im Ruhrgebiet einmarschieren. Denen muss mal wieder gezeigt werden, wer hier das Sagen hat.«

Pierres Augen verengten sich. Sie weiß genau, dass mir die Besetzung des Ruhrgebietes nicht gefällt, dachte er. »Du wirst immer mehr wie deine Mutter«, sagte er kalt. »Du tust mir leid.« Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sank Michelle auf einen der Korbsessel und ließ den lange zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Sie spürte, dass sie ihn nun ganz verloren hatte. Bisher hatte er sie zwar nicht geliebt, aber zumindest doch respektiert. Nun war auch das letzte bisschen Achtung verschwunden, und Michelle hatte niemanden mehr. Sie war ganz alleine auf der Welt.

Kornblumenjahre

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