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11. Kapitel

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München, Bayern, 23. Januar 1923

Marlene fühlte sich herrlich erwachsen. Es war das erste Mal, dass sie alleine, ohne die Eltern, verreiste. Aufgeregt spähte sie aus dem Zugfenster, draußen flog die Landschaft vorbei, wenig später fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein, wo Lisbeth, ihre vier Jahre ältere Freundin aus Kindertagen, sie schon erwartete. Lisbeth war vergangenes Jahr mit ihren Eltern nach München gezogen und wollte nun heiraten. Marlene reiste an, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, am Brautkleid mitzuarbeiten, und sie war furchtbar aufgeregt.

Am Münchner Bahnsteig flog sie in Lisbeths Arme.

»Wie schön, dass du da bist, Lenchen«, sagte Lisbeth zärtlich. »Ich habe dich so vermisst. Lass dich anschauen.« Sie löste sich aus der Umarmung und schob Marlene ein Stückchen von sich weg. Musterte das seidige blonde Haar der Freundin, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel, die rosigen Wangen. »Wie hübsch und erwachsen du geworden bist«, sagte sie.

»Du aber auch.« Marlene strahlte. Wegen des Kompliments, vor Freude, die Freundin wiederzusehen, und vor lauter Aufregung. »Wie schick du bist. Eine richtige Städterin. Und nun wirst du also heiraten. Ich kann es kaum glauben.«

»Ich auch nicht!«, lachte Lisbeth und hakte sie unter. »Aber nun komm. Wir haben es nicht weit bis nach Hause. Ist das alles, was du an Gepäck dabei hast?« Sie deutete auf den kleinen Koffer, der neben Marlene auf dem Bahnsteig stand.

Die nickte verlegen. »Du weißt, wie das heutzutage ist, man hat ja nichts mehr. Und jetzt, wo die Franzosen das Ruhrgebiet besetzen …«

»Ja«, sagte Lisbeth zustimmend, »es sind harte Zeiten.« Sie kicherte: »Mein Hochzeitskleid nähen wir aus alten Gardinen.«

»Aber trägst du denn nicht das Hochzeitskleid deiner Mutter?«

Lisbeth schüttelte den Kopf. »Es ist irgendwie im Krieg verloren gegangen. Ich hätte es gern getragen.«

Sie nickte dem jungen Mann zu, der ein paar Meter abseits stand und der, obwohl er diskret zur Seite blickte, doch sehr genau wahrnahm, was die beiden jungen Damen taten und ob man ihn benötigte. Mit zwei Schritten war er bei ihnen.

»Wir können los, Franzl«, sagte Lisbeth hoheitsvoll und zog Marlene mit sich fort.

Der Bursche folgte mit den Koffern in einigen Metern Abstand.

Marlene war beeindruckt. »Ihr habt noch einen Burschen?«, staunte sie. »Wir mussten unseren schon lang entlassen. Wir haben nur noch zwei Dienstmädchen in Konstanz.«

Lisbeth zuckte die Achseln. »Vater meint immer, der Junge würde auf der Straße landen, wenn er nicht bei uns bliebe. Er ist uns so dankbar.«

Aber Marlene hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Die Großstadt mit ihrem Charme hatte sie vollständig in ihren Bann gezogen. Staunend betrachtete sie die hohen Häuserfassaden, die breiten Straßen und die Automobile, die lärmend vorbeirasten. München kam Marlene vor wie ein riesiger Schlund – was einerseits furchtbar aufregend, andererseits aber auch ziemlich erschreckend war. Mit einem Mal fand sie es gar nicht mehr so erstrebenswert, erwachsen zu werden und alleine durch die Welt zu reisen. Marlene sehnte sich nach nichts mehr als nach der Sicherheit des heimischen Haushalts.

Lisbeth, die trotz ihrer Tendenz zur Oberflächlichkeit bemerkte, wie unwohl sich die Freundin fühlte, umfasste ihren Arm fester. »Es ist etwas beängstigend am Anfang, nicht?«, fragte sie. »Was glaubst du, wie es mir ging? Du weißt ja immerhin, dass du bald zurückkehren kannst. Als ich hier ankam, wusste ich, dass ich bleiben muss.«

»Ja«, sagte Marlene schuldbewusst. »Das ist natürlich ein viel härterer Einstieg.«

»Aber soll ich dir mal was sagen?«, lachte Lisbeth. »Man gewöhnt sich daran. Ich habe die Stadt richtig liebgewonnen. Und das nicht nur, weil ich den Mann meines Lebens hier gefunden habe.«

Ein Automobil fuhr dicht neben Marlene durch eine Pfütze und spritzte ihren Rocksaum nass. Sie schrie erschrocken auf und sprang zur Seite – aber es war zu spät. Der Rocksaum war voll braunem Wasser.

»Oh nein«, jammerte Marlene.

»Nicht schlimm«, versicherte Lisbeth. »Das kriegen wir wieder raus. Und ich verspreche dir: Auch du wirst München lieben.«

Marlene konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin recht behalten sollte. Aber in diesen ersten Minuten nach ihrer Ankunft konnte sie auch noch nicht ahnen, wem sie in München begegnen würde, in welch dunkle Welten sie Einblick bekäme – und dass sie die unglaublichen Ereignisse vom 8. und 9. November hautnah miterleben sollte. An diesem Januartag wusste Marlene Gerstett aus Konstanz ja nicht einmal, dass es einen Mann gab, der Adolf Hitler hieß.

Kornblumenjahre

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