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9. Kapitel

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Petrograd, Russland, 21. Januar 1923

Irina hatte den Bürgerkrieg überlebt. Äußerlich zumindest. Innerlich war sie beinah daran zerbrochen und heimatloser und haltloser als je zuvor. Sie hatte die Kriegsjahre auf dem Land verbracht, bei ihren Eltern, die Bauern waren. Und ihr Glaube an den von ihr einst so bewunderten Lenin war zutiefst erschüttert worden. Der Grund für den Umzug zu ihren Eltern waren die Hyperinflation und der damit einhergehende Hunger in der Großstadt gewesen – den Lenin zu verantworten hatte. Sein Plan war es gewesen, Geld als Zahlungsmittel quasi abzuschaffen – was jedoch nicht einfach per Dekret durchgesetzt werden konnte. Also ließ die Regierung Geld drucken, was bis zum Jahr 1922 zu einer Hyperinflation führte. Unternehmer wurden enteignet, ihr Vermögen verstaatlicht.

Es hatte lang gedauert, bis Irina begann, Lenins Methoden anzuzweifeln. Als glühende Bewunderin hinterfragte sie erst spät, ließ die Seiten, die ihr nicht gefielen, außer Acht, erhob das Positive zur Heldentat. Die Bildungspolitik zum Beispiel: Verpflichtete Lenin nicht Analphabeten, den Unterricht zu besuchen? Richtete er nicht Bibliotheken ein, um dem breiten Volk den Zugang zu Büchern zu ermöglichen? War es durch ihn nicht auch der ärmeren Bevölkerung möglich, Hochschulbildung zu erfahren? All das hob Irina hervor und wollte nicht sehen, dass Lenin den Roten Terror im Bürgerkrieg förderte und Konzentrationslager einrichten ließ. Sie wiederholte seine Worte, der Rote Terror sei nur eine Antwort auf den Weißen Terror der Gegner und der Terror sei ihnen durch die Interventionen der kapitalistischen Staaten aufgezwungen worden.

Doch irgendwann hatte Irina so sehr hungern müssen, dass sie zu ihren Eltern aufs Land floh. Und da lernte sie Lenin von einer ganz anderen Seite kennen. Plötzlich schämte sie sich vor ihren Eltern, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatten, dafür, eine Bolschewikin zu sein. Denn die Bolschewiki verlangten von den Bauern, ihre Ernte billig an den Staat abzugeben. Irina wurde Zeugin der Wut ihrer Eltern, wurde Zeugin, als Lenins Truppen gegen den Widerstand der Bauern mit Waffengewalt vorgingen und zahlreiche Menschen starben. Sie wurde Zeugin der unendlichen Trauer in dem Dorf, in dem ihre Eltern lebten. Und sie dachte verwundert, dass das ja genau die gleiche Wut war wie die, die sich damals gegen den Zaren gerichtet hatte. Sie hatte gedacht, die Bolschewiki kämpften für Gerechtigkeit. Für Frieden, Land und Brot. Wie hatte sie sich doch getäuscht! Abend für Abend hörte sie sich die Wut ihres Vaters an, erlebte, wie er seine Anbauflächen verkleinerte, damit sie ihm weniger wegnehmen konnten. Doch die Regierung richtete Parteikomitees ein, die die Bauern zur Aussaat zwangen. Die Bauern tobten, revoltierten – und töteten ihre Peiniger. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1920 brach die Regierung den Widerstand: Sie erschoss die Konterrevolutionäre, rund 50.000 Bauern landeten in den Konzentrationslagern von Tambow, und die Rote Armee setzte Gasbomben ein, um die Aufständischen, die sich in den Sümpfen versteckt hielten, auszuräuchern. Irina hatte mit ihrer Mutter in diesen Sümpfen gesessen, ihren Vater hatte man schon vor langer Zeit ins Konzentrationslager verschleppt. Als die Mutter über Umwege die Nachricht erreichte, der Vater sei zu Tode gefoltert worden, starb sie wenige Monate später vor Kummer. Irina hielt ihre Hand, als sie den letzten Atemzug tat – und sie fühlte sich vollkommen leer, als sie ihrer Mutter sanft über das Gesicht strich und ihr für immer die Augen schloss. Ihre Eltern gehörten zu den unzähligen Opfern des Bürgerkrieges, die nicht erfasst wurden. Erfasst waren nur die rund 770.000 gefallenen Soldaten.

Es dauerte ein Jahr, bis Irina weinen konnte. Wie erstarrt ging sie nach Petrograd zurück, erzählte der Oberschwester in dem Krankenhaus, in dem sie vor ihrer Flucht aufs Land gearbeitet hatte, emotionslos, was geschehen war, ließ sich in ihre mitfühlende Umarmung ziehen und verharrte dort für Minuten. Danach nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

Über zwei Jahre war das nun her, und langsam, ganz langsam regte sich in Irina wieder so etwas wie Leben. Immer öfter dachte sie an ihre deutschen Freunde. Johanna und Luise, denen sie damals im Krieg bei der Flucht aus Russland geholfen hatte. Und Karl, ebenfalls ein deutscher Flüchtling. Karl hatte sie wirklich geliebt. Sie hatte ihn verlassen, weil sie glaubte, in Russland gebraucht zu werden, ihrem Land, Lenin, etwas schuldig zu sein. Wie dumm war sie doch gewesen!

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