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12. Kapitel

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Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923

Raphael riss verzweifelt die Haustür auf und sah sich gehetzt in der Dunkelheit um. Er konnte nichts erkennen. »Hilfe!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Hilfe, meine Mutter ist getötet worden!«

Nichts regte sich in der finsteren Nacht, und die Gestalten, die sich hinter Büschen verbargen, gaben sich Mühe, nicht gehört zu werden. Sie hielten erschrocken den Atem an. Was schrie der Junge da? Sophie tot? Das hatten sie nicht gewollt, sie hatten sie doch nur warnen wollen!

Raphael raste durch den Garten und die Straße hinunter. Sein Ziel war das Haus von Doktor Schilling. Wenn jemand seine Mutter noch retten konnte, dann er.

Der Junge war jetzt erstaunlich klar im Kopf und wusste, was er zu tun hatte. Getrieben wurde er von der Angst, dass es zu lange gedauert haben könnte, bis er sich von seinem Schreck erholt hatte, und dass er nun schuld wäre, wenn seine Mutter es nicht schaffte.

Nachdem der Stein sie getroffen hatte, hatte er zunächst geschrien wie am Spieß und sich dann verzweifelt weinend über sie geworfen. »Mutter!«, hatte er immer wieder gerufen. »Mutter!«

Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er auf die Idee gekommen war, Hilfe zu holen. Denn er hatte Angst gehabt, sie alleine zu lassen. Andererseits erleichterte ihn der Gedanke, die drohende Stille des Hauses zu verlassen. Die lastende Verantwortung einem anderen zu übergeben.

Als Raphael verschwunden war, kamen die zusammengekauerten Gestalten vor dem Haus zusammen und tuschelten aufgeregt. »Dass der Stein sie getroffen hat«, jammerte Elsa Kleinschmitt, »war ja nun wirklich nicht abzusehen. Was muss sie denn genau da stehen, wo er hinfliegt!«

»Ob der Junge recht hat, und seine Mutter wirklich tot ist?«, fragte Dorothea Haberstett ängstlich.

»Unsinn, wahrscheinlich ist sie nur ohnmächtig«, mischte sich Trudchen, die Frau des Bäckers, ein.

»Aber was sollen wir denn nun tun?«, fragte Dorothea verzweifelt. »Wenn sie wirklich stirbt, dann haben Sie sie umgebracht.« Sie blickte Elsa Kleinschmitt vorwurfsvoll an.

»Ich?«, fragte die empört. »Nun erlauben Sie mal, wir waren alle daran beteiligt.«

»Aber Sie haben den Stein geschmissen«, beharrte Dorothea.

»Ja«, stimmte Trudchen zu. »Außerdem sind Sie ja erst auf die Idee gekommen, wir sollten Sophie einen Denkzettel verpassen. Ohne Sie hätten wir das Ganze doch nicht einmal angefangen.«

»So«, schnaubte Elsa, »feige seid ihr auch noch. Jetzt mir die ganze Schuld in die Schuhe schieben! Aber als ich euch erzählt habe, dass Raphaels Vater Franzose ist, da kannte eure Empörung keine Grenzen. Ihr wart es, die …«

»Woher wissen Sie das denn überhaupt so genau?«, fragte Dorothea Haberstett. »Ich glaube kaum, dass Sophie ausgerechnet Sie ins Vertrauen gezogen hat.«

»Ich weiß es aus absolut sicherer Quelle. Sozusagen aus erster Hand. Ich …«

»Was ist denn hier los?«, rief eine tiefe Stimme von der Gartentür her. »Wer ist da?«

Die drei Frauen zuckten zusammen.

»Der Schuldirektor«, flüsterte Dorothea Haberstett entsetzt, »er ist zurück.«

»Schnell weg!«, zischte Elsa Kleinschmitt. »Er darf uns nicht erkennen. Durch das hintere Gartentor!«

Sie rafften ihre Röcke und rannten, so schnell sie konnten, davon.

»Dort hinten!«, rief Sebastian. Johanna und er waren zeitgleich mit dem alten Schuldirektor in Überlingen angekommen. Sie hatten sich an der Einfahrt getroffen. Sebastian deutete in die Dunkelheit. »Dort hinten bewegt sich etwas!« Er rannte los. Friedrich Seiler folgte ihm.

»Ich sehe nach, ob drinnen alles in Ordnung ist«, rief Johanna ihnen nach. Im Haus brannten alle Lichter und die Eingangstür stand sperrangelweit offen.

Johanna wurde immer mulmiger zumute und eine kalte Angst packte sie. War jemand eingebrochen? Was, wenn noch einer der Einbrecher im Haus war? Und was – ihr stockte der Atem – was war mit Sophie und Raphael?

Sie stürzte hinein und trug erst Robert und dann Susanne hastig ins Kinderzimmer. Sie wollte verhindern, dass sie aufwachten. Dann eilte sie, aufs Äußerste beunruhigt, wieder nach unten, wobei sie versuchte, sich so leise wie möglich zu verhalten. Sie stand eine Weile regungslos im Flur und lauschte. Es war totenstill.

»Sophie?«, rief sie ängstlich. »Raphael?«

Keine Antwort.

Johanna atmete erleichtert auf, als sie kurze Zeit später Sebastian und Friedrich auf die Haustür zukommen sah.

»Habt ihr sie noch erwischt?«, fragte sie.

»Nein.« Sebastian ließ sich außer Atem auf einem Stuhl nieder. »Sie waren schon weg. Ist hier alles in Ordnung?«

»Nein«, erwiderte Johanna. »Die Tür stand offen und ich kann Sophie und Raphael nirgends finden.«

»Hast du schon im Wohnzimmer nachgesehen?«, wollte Friedrich wissen.

Johanna schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sich nicht getraut hatte. »Nein«, sagte sie, »das wollte ich gerade tun.«

Sie ging auf die Tür zu, und ihr Herz hämmerte heftig, als sie bemerkte, dass sie nur angelehnt war. Das Wohnzimmer war beheizt und die Tür zum Flur aufgrund des Kohlemangels immer geschlossen. Das war eine eiserne Regel, an die sich selbst die Kinder hielten. Ausnahmslos.

Johanna atmete tief ein, schob die Tür ganz auf – und stieß einen gellenden Schrei aus.

Sophie lag bewusstlos vor dem Sofa auf dem Boden, um sie herum war alles voller Blut.

»Sophie!«, Johanna vergaß ihre Angst und sank neben ihr nieder. »Meine Güte, Sophie, was ist denn geschehen?«

Auch Friedrich kniete sich neben seine Tochter und suchte nach ihrem Puls.

»Was ist mit ihr?«, fragte Sebastian von der Tür her.

»Sie ist bewusstlos, glaube ich«, erwiderte Johanna.

In diesem Moment entdeckte Sebastian den Stein, der, mit Papier umwickelt, einige Meter von Sophie entfernt auf dem Fußboden lag. Er hob ihn auf, löste das Papier und las.

»Das ist ja unglaublich!«, schnaubte er dann.

»Was steht denn da drauf?«, fragte Johanna, ohne den Blick von Sophie zu wenden.

»Lies selbst, ich gehe den Arzt holen.« Sebastian gab Johanna den Zettel und verschwand.

In der Tür begegnete er Raphael und Doktor Schilling.

»Ein Glück, dass Sie kommen, Herr Dr. Schilling!«, rief Sebastian erleichtert. »Gerade wollte ich Sie holen.«

»Was ist denn geschehen?«, fragte der Arzt ratlos. »Der Junge sagt immer nur, dass seine Mutter tot sei! Aber das kann doch nicht sein!«

Sebastian schüttelte den Kopf und zog Raphael an sich. Schutzsuchend schmiegte der Junge sich an ihn. »Tot ist Sophie Gott sei Dank nicht. Aber was geschehen ist, weiß ich auch nicht. Wir sind eben erst nach Hause gekommen. Sehen Sie selbst.«

Er ließ den Arzt an sich vorbei ins Zimmer treten. Dann streichelte er Raphael das verzweifelte kleine Gesicht. »Keine Angst, mein Junge«, sagte er leise, »deine Mutter ist nicht tot. Sie ist nur ohnmächtig.«

»Doch, sie ist tot, ich weiß es«, schluchzte Raphael verstört.

»Nein, ich verspreche es dir.«

Raphael sah ihn zweifelnd an. »Sagst du das nicht nur, um mich zu beruhigen?«

»Du weißt, dass ich dich nie anlügen würde«, erwiderte er und sah ihm in die Augen.

»Darf ich sie sehen?«

Sebastian trat einen Schritt zur Seite, um Raphael an sich vorbeigehen zu lassen, und legte ihm die Hand auf die Schulter, während der Junge auf seine Mutter starrte.

Dr. Schilling untersuchte sie. »Sie ist bewusstlos«, stellte er fest. »Wohl durch einen Schlag. Hier ist ja auch die Wunde.« Er verarztete Sophies blutende Schläfe. »Das Blut ist nicht schlimm«, sagte er beruhigend zu Raphael. »Es ist nur eine Platzwunde. Mehr Sorgen macht mir der Schlag, den sie abbekommen haben muss.«

»Das hier lag ein paar Meter von ihr entfernt.« Sebastian hob den Stein auf und reichte ihn dem Arzt.

Dr. Schilling nickte schwer, sagte dann aber mit einem warnenden Blick auf Raphael: »Wir unterhalten uns später darüber. Aber das könnte durchaus die Wunde verursacht haben.«

Er wandte sich an Raphael, der noch immer verschreckt auf seine Mutter starrte. »Das hast du gut gemacht, mein Junge«, lobte er. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Deiner Mutter ist nichts Schlimmes passiert, sie wird bald aufwachen.«

»Darf ich solange bei ihr sein?«

»Ich fände es besser, wenn du dich etwas ausruhen würdest. Schließlich ist es schon sehr spät und du hast viel durchgemacht heute Abend.«

»Aber Mutter …«

»Ich werde bei ihr bleiben, und wenn sie aufwacht, werde ich dich rufen«, versprach der Großvater.

Raphael zögerte. »Versprochen?«, fragte er schließlich.

»Versprochen«, sagte der alte Schuldirektor.

»Soll ich mit dir nach oben gehen?«, bot Johanna an.

Raphael schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe doch alleine ins Bett, seit ich zur Schule gehe.«

Johanna lächelte. »Aber wenn du etwas brauchst, dann rufst du uns, ja?«

»Ja.«

»Armer Junge«, brummte Friedrich, als Raphael gegangen war. »Das war eine schreckliche Nacht für ihn.«

In diesem Augenblick schlug Sophie die Augen auf und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie.

»Was ist geschehen?«, flüsterte Sophie.

»Pst«, machte Johanna sanft. »Nicht reden, das strengt dich noch zu sehr an.«

»Ich habe Durst.«

Johanna sah Dr. Schilling fragend an. »Darf sie etwas trinken?«

»Sie können ihr mit einem Waschlappen die Lippen benetzen.«

Johanna nickte und stand auf, um den Waschlappen zu holen.

Dr. Schilling setzte sich neben Sophie. »Wie geht es Ihnen?«

»Mein Kopf …«

»Ist Ihnen übel?«

»Ich glaube schon.«

»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Sie müssen in der nächsten Zeit das Bett hüten.«

»Aber was ist denn passiert?«

»Erinnern Sie sich an gar nichts?«

Sophie schien angestrengt nachzudenken.

»Zwingen Sie die Erinnerung nicht herbei«, riet Dr. Schilling, »Sie brauchen Ruhe.«

»Doch, ich erinnere mich. Es war unheimlich. Ich hörte Geräusche. Dann klirrte das Fenster … Raphael …«, sie fuhr auf und sank gleich darauf mit einem Stöhnen wieder zurück auf den Boden. »Was ist mit meinem Sohn?«

»Raphael schläft. Es geht ihm gut«, versicherte Sebastian.

»Gott sei Dank!« Sophie atmete auf. »Was geschah, nachdem das Fenster zerbrochen ist?«, fragte sie. »Ich erinnere mich nicht.«

»Das wissen wir auch nicht«, sagte Dr. Schilling und warf den anderen einen warnenden Blick zu.

»Hat Raphael denn nichts gesagt?«

In diesem Moment kam Johanna mit dem Waschlappen zurück und benetzte Sophie die Lippen.

Sophie leckte das Wasser gierig ab.

»Hat Raphael nichts erzählt?«, wiederholte Sophie.

»Nein.«

»Nun ja, er schlief auch, als … Waren es Einbrecher?«

»Wir wissen es wirklich nicht, Kind«, sagte Friedrich fest.

»Wir werden Sie jetzt hinauf in Ihr Zimmer tragen, Sophie«, mischte sich der Arzt ins Gespräch. »Sie brauchen dringend Ruhe.«

»Aber …«, protestierte Sophie.

»Keine Widerrede. Morgen ist noch genug Zeit, um über alles zu reden.«

Sophie lächelte schwach. »Also gut.«

»Wenn ich darf, schicke ich Raphael vorher noch mal zu dir«, mischte Sebastian sich ein. »Wir haben ihm versprochen, ihm gleich Bescheid zu sagen, wenn du aufwachst.«

»Natürlich«, erwiderte Sophie lächelnd.

Erst als die Männer mit Sophie das Zimmer verlassen hatten, um sie nach oben zu tragen, kam Johanna dazu, den Zettel zu lesen, mit dem der Stein umwickelt gewesen war.

Sie setzte sich aufs Sofa und strich ihn glatt.

Er war in Blockschrift beschrieben, und der Schreiber hatte sich offensichtlich große Mühe gegeben, seine Handschrift zu verstellen.

Sophie, wir wissen, daß Sie sich vor dem Krieg mit einem dieser Franzosen eingelassen haben und daß Raphael ein französischer Bastard ist.

Wir wollen Sie warnen, Sophie. Wir betrachten das als Landesverrat. Sollten wir Sie erwischen, daß Sie wieder mit einem dieser Männer anbandeln, wird es Ihnen und Ihrem Sohn schlecht ergehen.

Johanna holte tief Luft, um das kalte Grauen zu vertreiben, das sich ihrer beim Lesen bemächtigt hatte. Ein anonymer Brief, wie feige! Sophie durfte nichts davon erfahren und Raphael auch nicht. Nicht jetzt. Sebastian kam ins Zimmer und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast ihn also gelesen.«

»Ja«, sagte Johanna, ohne aufzusehen. »Wie scheußlich. Was sollen wir nur tun?«

Sebastian setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Eine selten vertraute Geste, denn sie waren sich fremd geworden in den letzten Jahren. »Ach, Johanna«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß es nicht.«

Johanna genoss es, endlich einmal wieder in Sebastians Armen zu liegen. Es war so lange her! Gleichzeitig spürte sie eine seltsame Befangenheit ihrem Mann gegenüber. Als sei er ein Fremder. »Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?«, fragte sie und löste sich leicht von ihm.

»Auf gar keinen Fall. Das würde die beiden nur noch mehr in Gefahr bringen. Niemand weiter darf erfahren, dass Raphael Halbfranzose ist.«

»Was sollen wir Sophie denn sagen? Sie hat doch mitbekommen, dass das ein Überfall war.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wir könnten ihr die halbe Wahrheit sagen. Dass ein Stein durchs Fenster flog und sie am Kopf traf. Von dem Brief braucht sie vorerst nichts zu wissen.«

»Ja, das wäre eine Möglichkeit«, erwiderte Sebastian nachdenklich. »Aber sie ist nicht dumm, und wenn sie wieder ganz gesund ist, wird sie anfangen, sich zu wundern. Außerdem …«

»Ja?«

»Nun, ich mache mir Sorgen, dass das hier vielleicht nur der Anfang war. Der Franzosenhass wächst immer mehr, und wenn irgendjemand weiß, dass Raphaels Vater Franzose ist, dann werden es bald noch mehr wissen.«

»Du meinst, dass Sophie und Raphael ernsthaft in Gefahr sind?«, fragte Johanna erschrocken.

»Ich fürchte, schon.«

»Mein Gott, Sebastian, was können wir tun?«

»Ich hielte es für das Beste, wenn sie für eine Weile untertauchen.«

»Sie sollen von hier fortgehen?« Johanna sah ihrem Mann erschrocken in die Augen. Der Gedanke, Sophie, ihre inzwischen einzige Vertraute, nicht mehr täglich um sich zu haben, bereitete ihr regelrecht körperliche Schmerzen.

»Das wäre am sichersten.«

»Aber … wohin?«

»Ich weiß es nicht, Johanna.« Sebastian strich ihr nachdenklich über das dunkle Haar. Wieder eine seltsam vertraute Geste aus der Vergangenheit. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat sie selbst eine Idee. Du musst mit ihr reden, sobald sie sich erholt hat.«

»Ja«, versprach Johanna leise. »Ja, das werde ich tun.«

Kornblumenjahre

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