Читать книгу Tatort Bodensee - Eva-Maria Bast - Страница 33
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Оглавление»Ich sage dir, da ist es zugegangen wie im Taubenschlag! Und der Kiesbaron mittendrin und lächelt selig, während die Polizei ihm den ganzen Laden auf den Kopf stellt! Ich hab geglaubt, ich bin im falschen Film!« Immer noch musste Horst unwillkürlich den Kopf schütteln, wenn er an den heutigen Mittag im Büro der »Bodenseekies« in Gottmadingen dachte. »Und dann noch der Landrat und der Polizeichef: übrigens alles gute alte Rotary-Freunde! Da weiß anscheinend jeder von jedem alles – oder zumindest so viel, dass er mühelos die richtige Leiche aus dem Keller holen kann, wenn’s ungemütlich wird! Und deshalb wird da keiner dem anderen wehtun! In hundert Jahren nicht!« Horst stierte unglücklich vor sich auf den Tisch. »Und dann noch mittendrin unser Reporter, der ganz genau weiß, was da abgeht! Aber wenn er auch nur ansatzweise den Mund aufmacht oder wenn sein Bericht im Radio anders ausfällt, als es dem Hauptanteilseigner am »Mehrfunk«, also dem Kiesbaron, zusagt, dann kann er seinen Job vergessen! Das weiß der ganz genau, das habe ich dem auf zehn Kilometer Entfernung angesehen! Scheiß Privatfunk!« Zornig hieb Horst so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass sich die Gäste an den Nachbartischen verwundert umdrehten.
»Aber trotzdem!« Protnik schüttelte säuerlich den Kopf und bedachte die beiden Meyers mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich finde trotzdem, dass ihr mir hättet Bescheid sagen müssen, als ihr da hingefahren seid! Also, das hätte ich schon von euch erwartet!« Beleidigt zog er sich wieder in sein Schneckenhaus zurück.
Während Claudia sich geschickt aus der Affäre zog, indem sie sich wieder in die Lektüre des »Seekuriers« vertiefte – sie hatten das alles vor einer Viertelstunde schon einmal durchgekaut, als sie sich bei der längeren Suche nach einem freien Platz in einem der Eiscafés auf der Meersburger Seepromenade getroffen hatten –, versuchte Horst mit einem neuen Anlauf, den so sehr verschnupften Kollegen zu besänftigen.
»Also, Sputnik, jetzt glaub mir doch endlich: Ich wollte dich ja anrufen, aber dein Handy war ausgeschaltet!«
»Wozu gibt’s für solche Fälle eine Mailbox?«, brummelte Protnik in sich hinein.
So ganz allmählich wurde es Horst zu dumm. »Weil ich so eine Geschichte als Polizeibeamter nie und nimmer auf eine Mailbox sprechen würde! Und so viel Polizist bist du auch, dass du das verstehst!«
Überrascht schaute Protnik auf, versuchte aber noch ein letztes Mal, sein Schneckenhaus zu verteidigen: »Und was ist mit dem Telefon auf dem Wildenstein? Dann hättest du halt direkt da angerufen und mich holen lassen!«
»Ich habe aber in meinem Auto kein Telefonbuch!« Wieder ließ Horst seine Faust auf den Tisch niederfahren und wiederum handelte er sich damit erboste Blicke der anderen Gäste ein. »Und ich bin auch kein solches Genie wie offensichtlich du und kann mir alle Telefonnummern auswendig merken! Außerdem haben wir es eilig gehabt, zu Recht, wie ich dir ja bereits erzählt habe. Fast die ganze Gesellschaft war ja schon versammelt, als wir angekommen sind. Glaub das jetzt oder lass es bleiben!« Verstimmt wandte er sich ab und starrte auf den See hinaus.
Protnik merkte, dass es jetzt an der Zeit war, sich aus dem Schmollwinkel heraus zu begeben. »Also gut, ist schon recht so!« Er blickte sich suchend um. »Aber was machen die hier eigentlich mit dem Eis? Müssen die erst zum Bauern und eine Kuh melken, oder was? Also, so lange …«
Ein überraschter Ausruf Claudias unterbrach ihn. »Na, schau mal einer an! Der hat ja wirklich überall die Finger im Spiel!« Damit breitete sie die Zeitung auf dem Tisch vor ihnen aus und deutete auf ein Foto im Lokalteil. Darauf waren zwei Strahlemänner abgebildet, die sich offensichtlich kräftig die Hände zu schütteln schienen. Über den beiden prangte an der Wand ein stilisierter Lorbeerkranz, der die Zahl 25 umrahmte: Es handelte sich um das 25-jährige Jubiläum der Tauchschule »Devil Divers« aus Konstanz. Die Bildunterschrift klärte die Leser über die bedeutungsvolle Tatsache auf, dass der eine Strahlemann (der stolze Besitzer der Tauchschule) vom anderen Strahlemann neben den herzlichsten Glückwünschen zum 25-Jährigen auch noch einen Scheck über 5.000 Mark überreicht bekommen hatte, mit denen er die schon lange geplante Ausbildung seiner Schüler zu Rettungstauchern im Interesse der Allgemeinheit intensivieren konnte.
Auch Horst hatte sich interessiert über die Zeitung gebeugt. »Na, da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!« Wieder hieb er mit der Faust auf den Tisch, doch die Nachbarn schienen sich allmählich daran gewöhnt zu haben, dass da einer neben ihnen saß, der von einer seltenen Nervenkrankheit geplagt war, die ihn offenbar alle 60 Sekunden zu unkontrollierten Faustschlägen auf die Tischplatten von Eiscafés trieb. »Das ist er, Protnik, da, guck: Das ist der Hefter, der Kiesbaron!«
Protnik griff sich die Zeitung. »Aha – also so schaut der aus! Der Sonnyboy in Person!«
Horst nickte heftig. »Sag ich doch! Der würde wahrscheinlich auch noch lächeln, wenn er dir das Messer zwischen die Rippen stoßen würde, da wette ich! Und jetzt ist er also auch noch großartiger Mäzen im Tauchsport! Ich bin gespannt, wie lange noch …« Damit lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick gedankenverloren über die Promenade schweifen.
Claudia nahm den Gesprächsfaden auf. »Du hättest den sehen müssen, als der Polizist mit der Akte angekommen ist!«
Irritiert blickte Protnik von der Zeitung auf: »Welche Akte?«
»Na die, aus der klar hervorgeht, dass die Firma ›Bodenseekies‹ insgeheim wieder mal – wie schon öfter – ihre Kiesgrube ganz einfach zehn Meter tiefer ausgebaggert hat, als das vom Landratsamt erlaubt worden ist!«
Protnik zuckte die Achseln. »Na und? Das kostet den doch höchstens ein Butterbrot, und außerdem sind der Hefter und der Landrat ja anscheinend ganz dicke Freunde – Rotary-Freunde!«, fügte er zynisch lächelnd noch hinzu.
»Abwarten! Ich bin noch nicht fertig.« Claudia atmete noch einmal tief durch, bevor sie weitersprach. »Also: Das mit dem viel zu tiefen Baggersee ist gar nicht das entscheidende Problem …«
Doch wieder wurde sie von Protnik unterbrochen. »Wie, Baggersee? Ich denke, es handelt sich um eine Kiesgrube? Was jetzt: Baggersee oder Kiesgrube?«
»Beides! Aus jeder Kiesgrube, kannst du im Großen und Ganzen sagen, wird hier unten ein Baggersee. Der Grundwasserspiegel ist so hoch, da läuft dir fast jedes Loch, das du ausbaggerst, zum Baggersee voll. Also – verstanden?«
Protnik nickte stumm.
»Gut!« Noch einmal holte sie tief Luft. »Der Baggersee ist zehn Meter tiefer als erlaubt, die ›Bodenseekies‹ hat also einen viel höheren Gewinn gemacht – und das wahrscheinlich an der Steuer vorbei –, als das ursprünglich geplant war. Aber jetzt kommt’s! Das alles war ein Klacks gegen den Gewinn, den sie mit der illegalen Beseitigung von Sonderabfall gemacht haben!« Claudia machte eine bedeutungsschwere Pause. »Dem Hefter gehört nämlich nicht bloß die Kiesfirma, sondern auch noch eine Entsorgungsfirma. Mit der bedient er den halben Landkreis!«
»Kunststück, bei den Beziehungen!«, brummte Protnik.
»Eben. Aber dass die Akte, die sie beschlagnahmt haben, beweist, dass der Thomas Grundler auf der richtigen Spur war, das ist jetzt der eigentliche Hammer. Die Entsorgungsfirma ›Seerein‹ hat nämlich nicht bloß die Mülltonnen vor dem Haus geleert, sondern auch noch eine Tochterfirma gehabt, wie das heute halt so üblich ist. So viele Firmen gründen, bis kein Steuerprüfer und kein Staatsanwalt mehr durchblickt!« Claudia sah auf. »So ist das eben! Alles klar bis dahin?«
Protnik hob auffordernd das Kinn. »Klar! Mach weiter!«
»Also: Bei dieser Tochterfirma der ›Seerein‹ handelt es sich um das Unternehmen ›Seaclean‹ …«
»Wie originell …«
»Eben! Auf jeden Fall hatte die ›Seaclean‹ einzig und allein den Zweck, Sonderabfälle einzusammeln: hauptsächlich wieder – man höre und staune – in Einrichtungen, die der Landkreis betreibt, also zum Beispiel in Krankenhäusern!«
»Na, fantastisch!«
»Ist ja zunächst mal nichts dagegen zu sagen und mit Sicherheit so leicht auch nichts zu beweisen, was da in Richtung Mauschelei und so weiter deuten könnte. Die ›Seaclean‹ befreite also das Krankenhaus in Konstanz in diesem Fall von seinen radioaktiven Abfallprodukten, wie sie beim Röntgen und so weiter halt anfallen. Diese Produkte sollten von der ›Seaclean‹ entsorgt werden, so wie es das Gesetz eben vorschreibt!«
»Aha! Da also liegt der Hase im Pfeffer!« Protnik schüttelte den Kopf. »Und da haben sie halt ein bisschen was falsch verstanden und aus Versehen halt die Soße in den Baggersee gekippt – richtig?«
»Richtig!« Claudia rieb Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand aneinander. »Und damit zufälligerweise halt auch ein bisschen mehr verdient! Und das seit ein paar Monaten schon!«
Horst stützte sich mit beiden Hände auf die Tischplatte. »Und genau dieser Sauerei ist Thomas Grundler auf die Spur gekommen, deshalb hat er auch dort im Baggersee getaucht – ganz allein übrigens, weil er keinem mehr getraut hat. Weil zum Beispiel die Wasserproben, die er dort gezogen hat, sich im Labor in ganz normales unbelastetes Bodenseewasser verwandelt hatten. Er hat es zwar nie beweisen können, dass die Proben vertauscht worden sind, aber er hatte eindeutige Anhaltspunkte, dass es so war. Und jetzt war er kurz davor, die Bombe hochgehen zu lassen! Als er gemerkt hat, dass auch Alex Winter hinter einer Story um den Kiesbaron herum dran war, da haben sie vorsichtig und misstrauisch, wie die beiden waren, die ersten Informationen ausgetauscht. Die wollten sie erst mal überprüfen und auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen. Es war ja wie gesagt ein Riesending! Leider haben sie sich zu viel Zeit gelassen«, bitter verzog Horst das Gesicht. »Und das hat sie ihr Leben gekostet!«
Eine Zeit lang blieben sie regungslos am Tisch sitzen, bis schließlich Protnik die Stille unterbrach. Suchend blickte er sich um. »Was ist denn jetzt mit den Eisbechern? Hallo, Bedienung! Aha, sie hat genickt! Na, hoffentlich wird das noch was heute!« Damit wandte er sich wieder Claudia zu und deutete mit dem Zeigefinger auf das Foto in der Lokalzeitung. »Immerhin wird der dann so schnell keine solchen schönen Spendenfotos mehr von sich machen lassen können, unser Kiesbaron!«
»Von wegen!« Claudia schnaubte empört. »Der ist, wie es den Anschein hat, völlig aus dem Schneider! Denn erstens gehören ihm noch eine ganze Reihe anderer Firmen, zweitens hat er natürlich von all dem überhaupt nichts gewusst und drittens geht aus der beschlagnahmten Akte klipp und klar hervor, dass sämtliche Unterschriften und Anweisungen nur von seinem Geschäftsführer – ein Kerl namens Wälder – vorgenommen worden sind. Und der ist momentan nicht aufzufinden!«
»Das glaube ich nicht! So einfach kann das doch nicht ausgehen!« Protnik schnappte nach Luft.
»Wird es aber!«, beruhigend legte ihm Horst die Hand auf den Unterarm. »Da kannst du Gift drauf nehmen. Schließlich ist der arme Dr. Hefter jetzt völlig außer sich vor Empörung und hat als Erstes seinen Geschäftsführer gefeuert, in dessen Abwesenheit! Und natürlich wird er den Schaden – wenn es sein muss auch aus der eigenen Tasche – unverzüglich wiedergutmachen. Er ist ja schließlich ein Ehrenmann!« Auch in Horst stieg Bitterkeit auf, wenn er daran dachte, wie schnell sich der Kreis wieder geschlossen hatte und Landrat samt Polizeichef verständnisinnig ihren Rotary-Freund beschwichtigt hatten. »Und selbstverständlich darf nichts nach außen dringen – ist ja klar! Das wäre dann Geschäftsschädigung, wo der Arme doch nichts dafür kann und nur sein verbrecherischer Geschäftsführer, der wahrscheinlich längst auf der Flucht ist, Kenntnisse über die Umweltsauerei gehabt hat!« Missmutig ballte er die Fäuste.
»Ist ja nicht zu fassen«, murmelte Protnik erschüttert. »Das kann es doch wohl nicht gewesen sein!«
»Ich fürchte doch! Ich sehe nur noch einen einzigen Strohhalm, aber der ist mehr als mickrig!« Horst wagte es kaum, seine Beobachtung, vielleicht den allerletzten Trumpf, über den sie verfügten, auszusprechen.
»Und was ist das?« Neugierig starrte ihn sein Kollege an. »Na komm, sag schon, mach’s nicht so spannend!«
»Na ja, Michael. Du erinnerst dich ja noch an unsere Höllenfahrt da auf der Heiligenberger Steige!« Horst begann leise, als fürchte er, allein durch allzu große Lautstärke könne er die letzte Hoffnung, doch noch zu einer Lösung des Falls zu kommen, in den Wind blasen.
»Allerdings – und wie! Diese Fahrt werde ich mein Leben lang nicht vergessen!«
»Eben – ich auch nicht! Diese Bilder haben sich in meinem Kopf festgebrannt wie auf einer CD! Und du hast mich doch noch gefragt, ob ich den Fahrer habe erkennen können!«
»Richtig«, nickte Protnik. »Du hast da etwas von einem dunklen Schnauzbart erzählt, aber sonst …«
»Na ja, wenn du jemanden noch nie vorher gesehen hast! Aber jetzt habe ich ja das Bild im Kopf und deshalb …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, während die anderen ihn ungeduldig musterten. »Da war so ein Foto im Büro der »Bodenseekies«, so ein ganz großes, gerahmtes. Und da war die ganze Belegschaft abgebildet – vor ihren sämtlichen Fahrzeugen. Und der Typ, der da vor einem dieser LKW gestanden hat, also ich war mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube fast, das könnte unser Mann gewesen sein …«
»Na bitte!«, begeistert hieb nun Protnik mit der Faust auf den Tisch. »Also schauen wir uns die ganze Belegschaft durch und schnappen das Schwein!«
»Einverstanden! Nur dass das sicher nicht an einem einzigen Tag gehen wird und Mithilfe bei den Kollegen würde ich eigentlich eher nicht wollen, denn sonst ist ja sofort wieder unser Preisboxer bei der Direktion informiert und dann der Landrat und danach: Man kann sich’s ja leider denken …«
»Sei’s drum, dann schieben wir halt noch ein paar freie Tage nach«, Protnik war in seinem Tatendrang kaum noch zu bremsen. »Die werden zwar vor Begeisterung Purzelbäume schlagen, bei dir und bei mir in der Direktion! Aber wenn wir die Geschichte dann wasserdicht gemacht haben, dann lassen sie’s uns wohl durchgehen, wenn wir …« Sein Redeschwall wurde von der Bedienung unterbrochen, die mit drei Gläsern auf einem Serviertablett an den Tisch kam.
»Entschuldigung …, darf ich?« Damit stellte sie die hübsch dekorierten Gläser mit buntem Inhalt vor ihre überraschten Gäste.
»Ja schon, aber das haben wir gar nicht bestellt! Eigentlich wollten wir drei Eisbecher …«, stellte Claudia den offensichtlichen Irrtum richtig.
»Und auf die warten wir schon seit einer Ewigkeit«, setzte Protnik noch hinzu.
»Eben!«, die Bedienung, ein zierliches dunkelhaariges Mädchen von vielleicht 17 Jahren, lächelte schüchtern. »Eine Entschuldigung des Hauses, weil es so lange gedauert hat. Ein Glas Zitronensaft auf Eis mit unserem Hauslikör auf Rechnung des Chefs. Ich bitte nochmals um Entschuldigung! Die Eisbecher sind ebenfalls fertig, ich werde sie Ihnen jetzt sofort bringen. Entschuldigung!« Und damit huschte sie von dannen.
»Na, da schau an!« Horst nickte anerkennend. »Das erste Positive, das ich heute erlebe! Das nenne ich Service!« Er ergriff sein Glas und hielt es prüfend vor die Augen. »Schöne Farbe!«
»Also dann, auf unser Wohl! Prost!« Protnik konnte es wieder mal kaum erwarten.
Claudia hatte gerade das Glas genießerisch an die Nase gehalten. »Und der Duft! Also, das muss man den Italienern lassen, dieses Aroma da …«
Horst schwor noch Wochen später, dass er die nun folgende urplötzliche Veränderung in Claudias Miene und die darauf folgenden, sich überstürzenden Ereignisse sein Leben lang nicht mehr vergessen würde!
Wie ein Blitz huschte da mit einem Mal ein Schatten über das Gesicht von Claudia und mit von Panik ergriffenem Blick huschten ihre Augen von einem zum anderen. Ein Aufschrei: »Protnik!«, ein splitterndes Geräusch, als sie ihr Glas fallen ließ, eine kurze heftige Bewegung ihres linken Armes und schon flog Protniks Glas in hohem Bogen durch die Luft! Es zerschellte knappe zwei Meter von ihnen entfernt auf der Promenade in tausend Scherben, während sein Inhalt sich über den Boden verteilte und dort allmählich versickerte. Claudia hatte Protnik das Glas gerade in dem Moment aus der Hand geschlagen, als er es an seine Lippen gesetzt hatte.
Doch es blieb keine Zeit, sich über Claudias seltsames Benehmen zu wundern. Ein neuerlicher Aufschrei: »Horst!« Er bemerkte die Panik, die sie ergriffen hatte. »Horst! Stell das Glas hin!« Noch immer ratlos blickte er sie an. »Du sollst das Glas hinstellen!« Ihre Stimme schien sich zu überschlagen! Langsam stellte er das Glas auf dem Tisch vor sich ab, während die Gäste um sie herum ängstlich herüberschauten. War die Frau da am Nebentisch denn urplötzlich verrückt geworden? Was um alles in der Welt spielte sich da vor ihnen ab? War es etwa gefährlich?
Doch Horst blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Gerade als er den Blick von seinem Glas hob, um Claudia in die Augen zu schauen, bemerkte er hinter ihr eine Bewegung aus Richtung der Eisdiele. Nur Sekundenbruchteile lang trafen sich ihre Augen, aber beide hatten sofort verstanden! Ja, das war er! Horst traf die Erkenntnis wie ein Schlag direkt auf das Brustbein! Er war es, daran gab es keinen Zweifel! Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, sodass der Plastikstuhl, auf dem er gesessen hatte, wie von einer Windböe weggeblasen, nach hinten umkippte. Hysterisches Kreischen drang an sein Ohr, doch er nahm nur am Rande wahr, dass die ersten Gäste nun angesichts des Wirrwarrs aus zersplitternden Gläsern, lauten Rufen und umkippenden Stühlen anscheinend einen Anschlag, ein Attentat oder sonst etwas Schlimmes vermuteten, was ihre überreizten Gehirne jeden Tag in den Fernsehnachrichten aus allen Teilen der Welt vorgesetzt bekamen. Horst stieß bei seinem Spurt in Richtung Eisdiele mit dem Mädchen zusammen, das sie gerade eben noch bedient hatte. Sie fiel zu Boden, doch er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Er musste das Gesicht verfolgen, das er dort drinnen gerade kurz gesehen hatte!
Aber wo war der Kerl? Als sich Horsts Augen an die Dunkelheit der Eisdiele gewöhnt hatten, sah er sich blinzelnd und voller Hektik um. Da war niemand, bis auf den verschüchterten Barkeeper, der sich hinter dem Tresen in Sicherheit gebracht hatte. Dort! Dort war die einzige Tür in dem kleinen Raum, dort hinaus musste er geflohen sein. Horst riss die Tür auf, die in einen langen schmalen Gang führte. Am anderen Ende sah er gerade noch eine Gestalt durch den Hauseingang verschwinden. Das musste er sein! Ihm nach! In der Hektik rammte er sich den Türgriff in den Bauch, Schmerz durchzuckte ihn, doch er konnte ihm jetzt nicht nachgeben, wenn er noch eine Chance haben wollte, den anderen einzuholen. Er stieß einen derben Fluch aus und preschte durch den Flur.
In diesem Moment heulte ein Motor auf und ein deutlich angerosteter weißer Golf GTI schoss mit quietschenden Reifen an Horst vorbei. Das war er! Mist! Zu spät! Den würde er nicht mehr einholen! Das Auto der Meyers war weit weg auf dem Parkplatz in der Oberstadt abgestellt! Mist, verdammter! Fast hätte er den Mann erwischt, von dem er fünf Minuten vorher noch erzählt hatte, dass er dessen Gesicht nie mehr vergessen würde: das Gesicht des Amokfahrers von der Heiligenberger Steige!!!