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VIER

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Dienstag, 19. Dezember 1989

Frau Schulze hatte nicht getobt. Nachdem er erklärt hatte, weshalb er so spät kam, hatte sie ihm sogar angeboten, seine Töchter ein paar Tage ganz bei ihr zu lassen, damit er in Ruhe seiner Arbeit nachgehen könnte. Das hatte Düvel dankbar angenommen. Bei solchen Fällen musste man vor Ort sein, sonst riskierte man, dass alles aus dem Ruder lief.

Schnell hatte er für sich und die Kinder einige Sachen in Reisetaschen geworfen, eine Tasche bei Frau Schulze abgegeben und war mit der zweiten zurück in den Harz gerast. Duschen würde er dort. Die Heizung seines Wartburg, die sonst immer Zicken machte, hatte sich seiner erbarmt und auf dem Weg nach Halberstadt seine Füße aufgetaut.

Der Suchtrupp und die Mitglieder der MUK waren im Hotel Villa Fichtenhof in Schierke, einem Freizeitheim der SED Magdeburg, untergebracht. Für ihn wurde auch ein Zimmer bereitgehalten. Mit Dusche. Aber er kam zu spät. Das heiße Wasser war von den Kollegen, die sich darunter aufgewärmt hatten, aufgebraucht und tröpfelte nur noch lauwarm. Er fröstelte. Hoffentlich hatte er sich keine Grippe eingefangen.

Gleich am frühen Morgen zogen die Suchmannschaft, die MUK und Düvel wieder los zu dem Zelt, das sie über Nacht mit einer Plastikplane geschützt hatten. Düvel wollte es sich als Erstes vornehmen.

Der Suchtrupp der Volkspolizei hatte beschlossen, die komplette Strecke zwischen Zeder und Zelt abzusuchen. Vielleicht hatten sie auf dem Stück, das sie gestern abgesucht hatten, etwas übersehen. Kein Wunder bei dem Schnee. Nun standen sie in einer Reihe direkt oberhalb des Fundortes der vierten Leiche und begannen auf Befehl parallel mit Stöcken vor sich im Schnee stochernd, bergauf zu gehen.

Düvel beobachtete sie eine Weile, dann wandte er sich dem Zelt zu. Die Spurensicherung hatte es so weit aufgerichtet, dass er hineinkriechen und alles fotografieren konnte. Wer mochte es wohl so zerfetzt haben, um hineinzukommen? Statt den Vordereingang zu benutzen. Für ihn sprach das für einen massiven, brutalen Überfall. Und Einschüchterungsversuch der darin befindlichen Leute. Er zückte sein Diktiergerät.

»Der Zeltplatz befindet sich am nordöstlichen Hang des Brocken. Das Gelände ist mit zwanzig bis dreißig Zentimeter dickem Schnee bedeckt. Das Zelt ist auf Stangen gespannt und mit Seilen befestigt. In der Mitte befindet sich eine Schlaufe, durch die ein Seil gezogen war, um das Durchhängen der Leinwand zu vermeiden. Das Seil ist gerissen und das Zelt in der Mitte durchgesackt. Das vordere und hintere Ende ist an Stöcken aufgespannt. Das Gruppenzelt wurde offenbar aus zwei Einzelzelten mit einer Doppelnaht zusammengenäht. Im Zelt befindet sich ein Ofen, der wohl aufgehängt war, nun aber auf dem Boden liegt. Auf dem Boden des Zeltes liegen ausgebreitet«, er zählte, »neun aufgerollte Schlafsäcke, von denen sieben offenbar benutzt worden sind. Auf ihnen liegen zerwühlte Wolldecken. Auf den anderen beiden liegen die Decken noch ordentlich gefaltet am Fußende. Des Weiteren befinden sich neun Rucksäcke neben den Schlafsäcken und Jacken und Regenmäntel.«

Er wühlte in einem Kleiderberg, der sich zentral in der Mitte des Zeltes befand. »Hier liegen diverse Männerhosen, warme Parkas, Socken, Hüte, Notizbücher, ein Reiseplan und Dokumente sowie drei Kameras und Zubehör dafür.«

Düvel machte eine Pause, um zu zählen.

»Links vom Eingang ist fast alles Schuhwerk der Wanderer aufgetürmt: acht Paar Wanderschuhe und viereinhalb Paar Filzstiefel. Rechts vom Eingang liegt Haushaltsinventar: zwei Eimer, eine Flasche mit Alkohol«, diktierte er, nachdem er an der aufgeschraubten Flasche geschnuppert hatte, »zwei große Äxte, eine kleine Axt und Kochtöpfe. In der Mitte des Zeltes rechts vom Eingang aus gesehen liegen zwei Paar Filzstiefel.«

Düvel drehte sich um. »Im hinteren Teil des Zeltes wurde offenbar das Essen gelagert: zwei Beutel Kekse, ein Stück Fleischlende von gut anderthalb Kilo Gewicht, zwei Brote, Kondensmilch, Getreide, Dosen, Zucker und Holz für den Ofen.«

Düvel ließ das Innere des Zeltes auf sich wirken.

»Der Inhalt zeigt den Gemütszustand der Gruppe in den letzten Minuten vor dem Verlassen des Zeltes. Offenbar war die Stimmung ruhig und entspannt. Alles scheint ordentlich aufgeräumt und normal zu sein, mit Ausnahme des Schuhhaufens. Dieser ist für die Szene absolut untypisch.«

Düvel nahm sich ein handschriftliches Dokument vor, das auf einem der Rucksäcke gelegen hatte.

»Die Gruppe hat offenbar noch kurz vor dem Vorfall, der sie aus dem Zelt trieb, ein von ihr mit dem Titel ›Satirisches Propagandaflugblatt‹ bezeichnetes Schreiben erstellt, in dem es um die Brockenbefreiung geht. Ich nehme es zu den Akten.«

Er steckte es ein, nachdem er es überflogen hatte. Die jungen Leute hatten sich über die russischen Soldaten, die behaart wären wie Bären, lustig gemacht und sie mit dem Yeti verglichen, den sie in der Umgebung rumoren gehört hatten. Eine Strichzeichnung unter dem Text sollte ihn wohl darstellen.

Nichts ließ darauf schließen, dass sie Angst gehabt hatten. Düvel schüttelte ratlos den Kopf. Was nur mochte die Studenten in solch einer eisigen Nacht in so dürftiger Kleidung aus dem Zelt getrieben haben? Er hatte keine Ahnung, ja noch nicht einmal den Hauch einer Idee. Geschweige denn einen echten Lösungsansatz.

Er kroch aus dem Zelt und richtete sich auf. »Der Eingang des Zeltes ist nach Süden ausgerichtet und aufgerichtet. Der Reißverschluss ist geschlossen«, er zog ihn auf, »und intakt. Die hangabwärts gerichtete Seite ist durch lange Schnitte oder Risse, die teilweise vom First bis zum Boden reichen, zerfetzt.«

Er ging auf die andere Seite. »Das nördliche Ende ist teilweise abgesackt und stellenweise mit gut zwanzig Zentimeter hohem Schnee bedeckt. Aus dem allgemeinen Aussehen würde ich vermuten, dass das Zusammensacken des hinteren Endes nicht von einer Lawine, sondern durch Wind verursacht wurde.«

Düvel ging zurück zum Zeiteingang. »Am Zelteingang steckt im Schnee ein Eispickel. Etwa einen halben Meter entfernt liegt ein roter Anorak.« Düvel durchsuchte ihn. »Dieser gehörte wohl Ingo Dannemann. Die Zuordnung erfolgt durch seinen Pass in der linken Jackentasche. In der rechten Tasche befinden sich ein Taschenmesser und eine Brieftasche mit seinem Ausweis und Zara Kaufmanns Foto darin. Ihr Name steht auf der Rückseite.«

Düvel ging einmal komplett um das Zelt herum. »Auf der hangaufwärts gerichteten Seite des Zeltes liegt auf etwa«, Düvel zückte seinen kleinen Zollstock und stieß ihn durch den Schnee bis auf harten Untergrund, »auf zehn Zentimeter dickem Schnee eine Taschenlampe mit einem Aufkleber, auf dem ›Ingo Dannemann‹ steht.«

Er knipste sie an. »Die Taschenlampe funktioniert noch. Auffallend ist, dass auf ihr kein Schnee lag.«

Düvel trat ein paar Meter zurück und ließ das Gesamtbild auf sich wirken.

»Persönliche Schlussfolgerungen: Die Studenten haben ohne warme Kleidung wie Anoraks, Hüte, Handschuhe und Schuhe das Zelt verlassen, offenbar durch die langen Schlitze an der hangabwärts gelegenen Seite. Sonst ergibt der verschlossene Zelteingang keinen Sinn. Das ist nicht nachzuvollziehen, denn der Reißverschluss ist voll funktionstüchtig«, fuhr er fort, nachdem er mehrfach den Reißverschluss des Eingangs auf- und zugezogen hatte.

»Nur eine äußerst ernsthafte Bedrohung kann dazu geführt haben, dass eine Gruppe von zehn jungen und körperlich gesunden Menschen, die offenbar kurz zuvor noch bestens gelaunt war, in einer Winternacht mit deutlichen Minusgraden in einer einsamen Gegend geradezu hektisch, um nicht panisch zu sagen, ihr Zelt viel zu dünn bekleidet verlassen hat. Es muss eine Frage um Leben und Tod gewesen sein, die sie dazu brachte.«

Wieder ließ er die Szene auf sich wirken.

»Offenbar standen sie vor der Alternative, den Rückzug den Berg hinunter anzutreten oder im Lager zu sterben. Auf mich wirkt es so, als ob jemand oder etwas versucht hat, ins Zelt zu gelangen, und dafür die Seite aufschnitt oder -riss.«

Hatten die jungen Leute den Reißverschluss von innen zugehalten? Musste das, wovor sie geflohen waren, das Zelt aufschneiden, um zu ihnen zu gelangen? Das machte alles keinen Sinn. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Inhalt des Zeltes zu.

»Auffallend ist zudem, dass die Gruppe nicht völlig unbewaffnet war. Die Wanderer ließen im Zelt mehrere Äxte und Messer zurück. Sie müssen aber noch mindestens ein Messer dabeigehabt haben, mit dem sie die Tannenspitzen und Äste in der Nähe des Fundortes der ersten beiden Leichen abschnitten. Ganz offensichtlich war die Gefahr, der sie im Lager ausgesetzt waren, nicht dergestalt, dass ihr mit Äxten und Messern begegnet werden konnte.«

Düvel setzte das Diktiergerät ab. Was mochte diesen jungen Leuten widerfahren sein, dass sie so überstürzt in die eiskalte Nacht flüchteten?

Er verließ das Zelt und ging zu den Fußspuren. Er wusste zwar, dass Weißer alles fotografiert hatte, doch für seine eignen Notizen und Unterlagen holte er seine Kamera hervor, um die seltsamen Fußabdrücke zu fotografieren. Die Spuren liefen in einem leichten Bogen den Berg hinab fast geradewegs auf die Zeder zu, die auch von seinem Standort aus leicht zu erkennen war. Kein Baum in der Nähe erreichte ihre stattliche Höhe.

Die Erhöhungen vor ihm wiesen teilweise nackte Zehen und Fersen auf. Nicht eingedrückt in den Schnee, sondern turmartig in die Höhe. So etwas hatte Düvel noch nie gesehen.

»Das ist normal bei lockerem Schnee. Wenn man darauftritt, verfestigt er sich. Wenn dann Wind aufkommt, bläst er den lockeren Schnee drum rum weg, und zurück bleiben solche erhöhten Säulen aus Fußspuren.«

Lautlos war Koletov an ihn herangetreten. Er wies mit dem Kopf hinter sie.

»Es gab keine Fußspuren rund um das Zelt, denn als die Dannemann-Gruppe die ebene Fläche für das Zelt grub, haben sie den Schnee überall aufgeschichtet. Später wurde dieser Schnee vom Wind verteilt und bedeckte alles. Ich vermute, dass deswegen erst dreißig bis vierzig Meter weiter unten die Spuren beginnen.« Koletov wies Düvel auf einige dicht beieinanderliegende Säulen hin. »Die Mitglieder der Gruppe gingen in einer Reihe mit einem großen Mann, der hinter ihnen ging. Seine Fußabdrücke bedecken teilweise die Fußabdrücke der vor ihm barfuß Gehenden.«

Düvel folgte zusammen mit Koletov der Spur. Es gab Fußabdrücke von bloßen Füßen, andere waren von Filzstiefeln, wie Koletov erklärte. Bei einem Abdruck blieb er stehen. »Das ist die Lauffläche eines Wanderschuhs.«

»Ist das der einzige Abdruck von einem Wanderschuh?«

Koletov nickte.

»Ist das ein Männerschuh?«

Wieder nickte Koletov.

»Fällt Ihnen daran irgendwas auf? Irgendetwas, was mir weiterhelfen könnte?«

Koletov ging in die Hocke. Begutachtete den Abdruck, erhob sich, rückte neunzig Grad um den Abdruck herum, ging wieder runter. Nach einer Weile erhob er sich. »Ich kann nur sagen, dass der Fuß zu einem schlanken Mann gehört. Er ist mit der Ferse zuerst aufgetreten. Das ist normal bei Schnee, wenn man nicht abrutschen will. Die Schuhgröße würde ich auf dreiundvierzig, vierundvierzig schätzen. Aber mehr? Nee, mehr kann ich daraus nicht lesen.«

Sie folgten den Abdrücken weiter in Richtung Zeder, die hangabwärts deutlich hervortrat. Plötzlich verschwanden die Spuren.

»Das war’s«, verkündete Koletov. »Aber seitlich sind noch ein paar Abdrücke.« Er führte Düvel ein Stück hangaufwärts in das Unterholz von Birken, nur wenige Meter rechts der alten Spur. »Hier sind noch andere Spuren der Gruppe. Die Abdrücke sind von Filzstiefeln und machen einen Bogen um die Spur, der wir eben gefolgt sind. Kehren dann aber zur Gruppe zurück.«

Es war kurz nach Mittag, als der Suchtrupp nach dem inzwischen trotz der warmen Kleidung völlig durchfrorenen Düvel rief. Weitere hundertfünfzig Meter oberhalb der letzten Leiche, nun nur noch gute sechshundert Meter unterhalb des Zeltes, hatten sie eine Frauenleiche entdeckt.

Sie lag unter einem viertel Meter Schnee mit dem Kopf wie die beiden anderen in Richtung Zelt. Düvel schaute zur Zeder. Die Studentin hatte über die Hälfte des Weges zurückgeschafft.

Sie war besser angezogen als die Toten unter der Zeder. Unter ihrem Hut sah er eine Mütze hervorlugen, und der Oberkörper steckte in mindestens zwei Pullovern. Bei dem oberen, blauen war am rechten Ärmel die Manschette abgerissen. Düvel konnte nicht erkennen, ob sie abgeschnitten oder abgerissen war. Auch nicht, ob die Studentin das selbst getan hatte oder jemand anders. Der obere Pullover war von innen nach außen gewendet. Fragend sah er zu Koletov, der ihm gefolgt war.

»Für Schneewanderer ist es nicht ungewöhnlich, dass sie ihre Kleidung trocknen, indem sie die Innenseite nach außen tragen«, erklärte er.

Von der Taille abwärts trug die Tote intakte Hosen und mehrere Paar Socken übereinander.

»Das kann nur Zara oder Annabella sein. Wir müssen jemanden zum Identifizieren aus Clausthal-Zellerfeld holen«, stellte Düvel fest.

Er betrachtete die junge Frau zu seinen Füßen. Sie lag halb auf der Seite mit angezogenen, seitlich abgewinkelten Beinen, das Gesicht fest in den Schnee gedrückt.

Düvel wies Goßmann und seine Leute an, alles zu fotografieren. Mehr konnten sie hier nicht mehr tun.

Vorsichtig hoben zwei Vopos sie aus ihrem Grab und legten sie auf eine ausgebreitete Plane. Ihre Gesichtszüge waren unter dem Eis kaum zu erkennen, und ihre steif gefrorenen Glieder verhinderten, dass sie auf den Rücken gelegt werden konnte.

»Was ist das für ein Brummen, Goßmann. Hören Sie das auch?« Das Geräusch, knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze, hatte sich in den letzten Minuten verstärkt und in Düvels Bewusstsein gedrängt.

»Keine Ahnung, muss irgendein Flugzeug sein.«

Beide blickten in den wolkenverhangenen Himmel, der sein Geheimnis nicht preisgab.

Düvel zuckte die Schultern und wandte sich der Suchgruppe zu, die am Nachmittag von einer Einheit der Volksarmee unterstützt werden sollte. Still stocherten sie oberhalb seiner Position im Schnee.

Auch sie schienen keine Hoffnung mehr zu haben, sondern fürchteten sich vor dem nächsten weichen Widerstand unter ihren Stöcken.

Der Teufel vom Brocken

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