Читать книгу Der Teufel vom Brocken - Eva-Maria Silber - Страница 6
Prolog
ОглавлениеAnnabella schreckt mit Herzrasen und Engegefühl in der Brust aus dem Schlaf hoch. Sie schnappt nach Luft, hat das Gefühl, sie nicht bis in ihre Lunge ziehen zu können, zu ersticken. Nur langsam beruhigt sie sich.
Richtiger Schlaf ist das ohnehin nicht gewesen. Mehr ein Dämmern, Dösen, Duseln. Trotz der Angst. Trotz der Kälte, die sie mit ihrer eisernen Umklammerung in diesem Halbschlaf gehalten hat. Was sie aus diesem Dämmerzustand gerissen hat, weiß sie nicht. Vielleicht das Geräusch der knarzenden Äste über ihr oder das tiefe Brummen, fast nur als Vibration wahrnehmbar, dessen Herkunft sie nicht ausmachen kann. Es kommt von über ihr, neben ihr, hinter ihr. Es ist fast so, als komme es aus ihr selbst. Es lässt sie erbeben, bis ihr nicht mehr kalt ist. Fast.
Sie stellt sich vor, in ihrem kuschelig warmen Bett zu liegen. Versucht sich hineinzuträumen, wegzuträumen von diesem grauenhaften Ort. Doch es gelingt ihr nicht. Ihr Herz schlägt heftig. Heftiger als zuvor. Sie hat keine Ahnung, warum. Sie starrt in die Dunkelheit, lauscht, hört nur den Wind in der Tannenkrone und das Atmen ihrer Kameraden.
»Annabella?«
»Was ist?«, murmelt sie.
»Ich hab was gehört.« Alexanders Stimme ist kaum hörbar.
Annabella katapultiert sich in die Senkrechte. »Was ist los? Meinst du dieses komische Brummen? Das muss der Wind sein. Ich hör ihn schon die ganze Zeit. Das hat nichts zu bedeuten.« Darf nichts bedeuten, schickt sie stumm hinterher.
»Doch, da war noch was anderes.«
»Quatsch. Schlaf weiter, bevor du die anderen auch noch weckst. Wir brauchen die Ruhe. Wer weiß, was uns morgen bevorsteht.«
Just als sie sich zurücklehnt, hört sie es auch. Ruckartig setzt sie sich wieder auf. »Hast du das gehört?«, raunt sie in Alexanders Richtung.
»Ich hab’s dir doch gesagt.« Ebenso leise. »Was sollen wir machen?«
»Ganz still sein. Hier findet uns keiner.«
»Und wenn doch?«
»Okay, schauen wir nach. Aber sei um Gottes willen leise.«
Vorsichtig erhebt sich Annabella in die Hocke und schiebt sich näher an die äußeren Tannenzweige. Neben sich erahnt sie Alexanders Silhouette. Mit einem Finger bohrt sie durch den schützenden Tannennadelvorhang ein kleines Loch. Kaum ist der Blick freigegeben, sieht sie einen Lichtschein durchschimmern. Auch das Brummen wird lauter. Hastig zieht sie sich zurück.
»Was ist?«
»Pssst. Da ist was.«
»Sag ich doch.« Die Worte nur gehaucht.
»Was machen wir jetzt? Die anderen wecken?«
Das Brummen wechselt in einen Summton. Fast klingt es wie Rauschen im Ohr. Der Lichtschein ist so hell geworden, dass er durch den dichten Nadelvorhang dringt. Von oben, nicht von der Seite, wie Annabella erwartet hätte.
»Was ist das für ein Licht? Und das Brummen?«
»Keine Ahnung. So was hab ich noch nie gehört. Oder gesehen. Eine Maschine?«, wispert Alexander in ihr Ohr.
»Was soll das denn sein? Quatsch.«
»Hast du eine bessere Idee?«
Annabella schüttelt den Kopf.
Leise robbt sie zurück an den Vorhang aus Zweigen und schiebt sie erneut millimeterweise zur Seite.
Etwas packt ihren Finger und zerrt sie nach draußen. Sie windet sich wie eine Katze. Doch was immer sie festhält, lässt nicht los. Für eine Hand scheint es zu groß. Und zu weich. Kaum aus dem Schutz der Tanne gezerrt, schließt sie hastig die Augen vor dem blendenden Licht, das von überall kommt. Nach einem kurzen Moment, der ihr wie eine Ewigkeit erscheint, öffnet sie sie wieder zwinkernd zu schmalen Schlitzen. Über sich erkennt sie zwei gleißende Scheiben am Firmament. Heller als alle Sterne, die sie je gesehen hat. Sie versucht, sich aufzurappeln. Die Bandage aus dem Pulloverärmel um ihren rechten Fuß hat sich aufgewickelt, hängt nur noch als Fetzen am Bein. Sie schafft es, sich umzudrehen und die Füße auf den Boden zu stemmen. Der gefrorene Schnee schneidet in ihre nackte Sohle. Den Schmerz spürt sie nicht. Ihr heißer Atem geht stoßweise. Sie weiß nicht, wie sie sich losmachen soll aus diesem Klammergriff um ihren Finger.
Nur eines weiß sie genau: Sie darf nicht zulassen, dass das Wesen sie weiter wegzieht von ihren Freunden. Mit dem freien Arm schlägt sie auf den Rücken dieses Etwas, das zu groß für einen Menschen scheint und Grunztöne von sich gibt. Es dreht sich um. Sie erkennt nur die Augen, alles andere ist verdeckt. Von Haaren? Ist das ein Bart? So sieht es eigentlich nicht aus. Aber was ist es dann?
Ein Schatten eilt von der Seite heran. Alexander. Er hebt einen dicken Knüppel über den Kopf und versucht, auf das Wesen einzuschlagen. »Lauf weg, lauf!«, brüllt er ihr zu.
Nur undeutlich versteht sie die Worte. Das Brummen ist zu laut geworden.
Die Gestalt lässt sie los. Aber nur einen kurzen Moment. So lange, bis sie Alexander mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt hat. Annabella versucht, auf die Beine zu kommen, wegzurobben. Irgendwas. Sie ist zu langsam. Das Ding verpasst ihr einen Schlag in den Rücken. Sie verliert den Boden unter den Füßen, landet auf dem Bauch und schlägt mit dem Gesicht auf einen Eisbrocken. Ihre Nase schmerzt höllisch. Sie spürt, wie die Kälte durch ihren Pullover dringt. Stöhnend versucht sie aufzustehen. Versucht nach Hilfe zu schreien. Nach wem oder was auch immer.
Da fällt ihr das seltsam orangefarbene Leuchten der Baumkronen auf. Verwundert dreht sie den Kopf – und erstarrt bei dem Anblick, der sich ihr plötzlich bietet.