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EINS

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Freitag, 15. Dezember 1989

»Verstehen Sie kein Deutsch? War die Mauer dichter, als ich dachte?« Professor Axel Kübler, Präsident der Technischen Universität Clausthal und gleichzeitig Dekan des Fachbereichs Rohstoff-Geowissenschaften, schüttelte fassungslos den Kopf. Nicht nur, dass dieser Polizist am anderen Ende der Leitung unverständlich sächselte, er schien auch inhaltlich nicht folgen zu können.

»Nochmals: Wir vermissen neun Studenten unserer Wander-AG und einen Lehrbeauftragten aus unserer Hochschule hier in Clausthal-Zellerfeld. Sie waren auf dem Weg zum Brocken, um sich mit anderen Studenten von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu treffen. Sie wollten an der Brockenbefreiung teilnehmen und anschließend zusammen mit den Oststudenten nach Halle wandern. Am zweiten Advent wollten sie zurück sein, sind aber nicht angekommen. Alle haben ihre Abschlussprüfungen versäumt, und das ohne Entschuldigung. Die Eltern regen sich maßlos auf und lassen hier die Telefone nicht still stehen. Und Sie erklären mir, dass das doch nicht schlimm sei. Was muss denn Ihrer Meinung nach passieren, damit Sie tätig werden und die Studenten suchen? Sie sind bereits eine Woche überfällig, falls Sie nicht rechnen können. Haben Sie das jetzt endlich verstanden?«

Er hörte das Klicken vom Auflegen des Hörers. Küblers Kopf schwoll rot an. Fast blind vor Aufregung und Bluthochdruck schnappte er nach Luft und hangelte nach einer Moxonidin. Die Packung steckte für solche Notfälle stets in seiner Brusttasche. Nach drei Minuten hatte er seinen Herzschlag so weit unter Kontrolle, dass er erneut nach dem Telefonhörer greifen und seine Sekretärin anklingeln konnte.

»Frau Petermann, suchen Sie mir sofort die Telefonnummer von … Ach, ich weiß auch nicht mehr. Verbinden Sie mich erst mal mit Kaup.«

Kübler wischte sich mit seinem schweißnassen Taschentuch über die Stirn. Er war ratlos. Tatsächlich und wahrhaftig ratlos. Das war ihm seit dreißig Jahren nicht mehr passiert.

Das Telefon klingelte.

»Was gibt’s?«, vernahm er die Stimme seines Stellvertreters.

»Stellen Sie sich das vor: Ich rufe die nach Auskunft des Auswärtigen Amtes zuständige Deutsche Volkspolizei in Wernigerode an, und dieser Mensch, ausgerechnet ein Sachse, legt den Hörer einfach auf. Unglaublich. Meint, dass westdeutsche Studenten doch erwachsen genug seien. Die hätten sich in eine Kommune abgeseilt oder so was. Was haben die denn überhaupt für eine Vorstellung von uns Westlern? Und unsere westdeutsche Polizei kann nichts machen, weil die DDR Ausland ist. Unglaublich.« Er schnaubte. »Was machen wir denn jetzt? Die Eltern von Frank Kempler haben heute Morgen schon dreimal angerufen, und es ist noch nicht mal zehn. Ich weiß nicht weiter. Wo sind wir denn nur mit dieser Grenzöffnung hineingeraten? Rechtsfreier Raum, sage ich nur. Haben Sie eine Idee, was wir machen können? Wir können doch nicht ewig warten. Wer weiß, was im Ossiland mit unseren Studenten geschehen ist. Vielleicht hat sie der KGB geschnappt. Die sollen doch auf dem Brocken stationiert sein. Haben Sie eine Idee?«

»Ich wollte mich auch gerade melden. Mich hat der Unisport angerufen und vorgeschlagen, dass wir eine Suchtruppe aufstellen. Die AG Abenteuersport und die Trekking-Gruppe könnten das übernehmen, immerhin zwanzig Studenten. Die wollen ihre Kommilitonen suchen. Sie haben sich mit der Gruppe aus Halle-Wittenberg in Verbindung gesetzt, mit der sich unsere Studenten auf dem Brocken treffen wollten. Die gehen gleichzeitig von Osten aus los. Alle sollen in Richtung Brocken marschieren und schauen, ob sie was finden. Mehr fällt mir auch nicht ein. Vielleicht könnte der Vater von Alexander Böhme, der ist doch im SPD-Präsidium in Bonn, was erreichen. Rufen Sie den doch mal an. Ein bisschen Druck aus der Politik könnte nützen.«

»Hab ich doch alles schon versucht. Aber der war ganz komisch. In dieser Situation, meinte er, könne man den DDR-Behörden keinen Druck machen. Die Entspannung zwischen den beiden deutschen Staaten sei zu frisch. Außerdem sei es noch viel zu früh, als dass man da irgendwelche Ansprechpartner nennen könnte. Die ganze alte Führungsriege ist abgetaucht, und die Neuen sitzen noch nicht fest im Sattel. Ich fürchte, damit kommen wir auch nicht weiter.«

Kübler angelte nach einer weiteren Moxonidin. Sein Blutdruck wollte partout nicht auf normal absinken.

»Haben wir wenigstens einen Kollegen, der mitgeht? Wie stehen wir denn da, wenn nur Studenten die Initiative ergreifen und die Hochschulleitung hilflos danebensteht – auch wenn wir es de facto sind.«

»Ich spreche gleich mit dem Kollegen Berger aus der Elektrotechnik. Soweit ich weiß, hat der alpine Erfahrung. Schaun wir mal. Auf jeden Fall sollten wir der freiwilligen Suchtruppe unseren Transporter zur Verfügung stellen. Dann müssen sie nicht die ganze Strecke laufen oder mit dem Bus fahren. Damit zeigen wir, dass wir alles tun, um zu helfen und sie zu unterstützen. Reinlassen in die DDR müssen sie die Gruppe ja.«

Der Teufel vom Brocken

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