Читать книгу Der Teufel vom Brocken - Eva-Maria Silber - Страница 12

SECHS

Оглавление

Montag, 29. Januar 1990

Drei Tage nachdem Sturm Daria mit Spitzenböen von zweihundertdreißig Stundenkilometern über den Brocken gerast war, versuchten Alfred Tettens und Willy Schäfer einige quer liegende Tannen zu fällen, als sie es entdeckten. Im Auftrag der noch im Amt befindlichen Forstbehörde – keiner wusste, wie es mit den Mitarbeitern weitergehen würde – hatten sie sich entlang der Kellbeek, einem kleinen nordöstlich vom Brocken entspringenden Bach, vorgearbeitet. Zunächst waren es nur ein paar abgeschnittene Tannenzweige gewesen, die eine Art Pfad bildeten, dem sie gefolgt waren. Sie befanden sich ganz in der Nähe der Zeder, unter der die Studenten im Dezember gefunden worden waren. Alle kannten die Geschichte der toten und verschwundenen Studenten. Und auch sie hatten die Augen offen gehalten bei ihrer Arbeit. Aber nie geglaubt, dass sie tatsächlich etwas entdecken würden. Und nun das.

Vielleicht siebzig Meter von der Zeder entfernt stießen sie auf eine schwarze Baumwolltrainingshose, das rechte Bein mit einem Messer abgeschnitten, die linke Hälfte eines hellbraunen Frauenwollpullovers und die rechte Hälfte und ein abgeschnittener Ärmel eines blauen Sweatshirts. Auf dem Boden daneben lagen blätterlose Birkenzweige, und einigen jungen Tannen in der Nähe fehlten die Spitzen. Die waren eindeutig nicht abgebrochen, sondern abgeschnitten. Wer machte denn so was?

Tettens und Schäfer folgten den auf dem Boden verteilten Zweigen, bis sie zu einer ausladenden Tanne gelangten, die den Sturm unbeschadet überstanden hatte. Vorsichtig bogen sie die untersten Zweige beiseite und krochen darunter. Vor dem Schnee geschützt war ein Lager aus abgeschnittenen Tannen- und Birkenzweigen, bedeckt mit weiteren Kleidungsstücken, bereitet worden. Diese waren an den vier Seiten des Rechteckes aus Zweigen wie Sitze geschichtet.

Beiden war klar, was sie da entdeckt hatten, und so machten sie sich sofort auf den Rückweg nach Schierke. Und riefen die 110 an.

***

Düvel war gleichzeitig mit dem Suchtrupp am Brocken eingetroffen. Diesmal waren sie mit Hubschraubern eingeflogen worden. Ein ganzer Trupp ehemaliger Grenzsoldaten, für die es ohnehin keine Verwendung mehr gab, stapfte ausgestattet mit langen Stöcken aus Richtung Zeder in Richtung Tanne. Die Mitglieder der Morduntersuchungskommission, Walter Goßmann, Rainer Bernhard und Peter Weißer, waren zusammen mit ihm als Erste eingeflogen worden und untersuchten bereits den Lagerplatz.

»In der Höhle haben wir exakt vierzehn Tannenzweige und -spitzen und eine kleine Birke, das Bein einer schwarzen Skihose, einen dicken braunen und einen weißen Wollpullover, beide hergestellt in China, eine braune Hose und diverse Fetzen nicht zuordenbarer Kleidungsstücke gefunden. Fünfzehn Meter entfernt lagen noch ein Löffel und eine Messerscheide. Die haben wir auf dem Weg hierher entdeckt«, berichtete Goßmann Düvel, der mit dem Leiter der Suchmannschaft die Richtung der weiteren Suche diskutiert hatte.

»Wisst ihr schon, ob der Lagerplatz tatsächlich von den verschwundenen Studenten stammt?«

»Nee, wie sollten wir das denn so schnell herausgefunden haben? Wir müssen erst jemanden finden, der die Kleidung wiedererkennt – oder die Toten, wenn sie endlich auftauchen.«

Düvel nickte. Er würde versuchen, den einzigen Überlebenden aus der Gruppe, Sven Freytag, über die Hochschule zu erreichen, um ihn zu bitten, herzukommen. Der könnte beim Identifizieren der gefundenen Sachen förderlich sein. Sein Blick folgte den Grenzern, die missmutig unter den Tannen durchkriechend im Schnee rumstocherten. Er konnte ihre Lustlosigkeit nachvollziehen. Niemand suchte gern nach Leichen. Doch es musste gemacht werden.

Kaum hatte er sich abgewandt, hörte er einen Ruf hinter sich. Alle Augen wandten sich in die Richtung. Ein Soldat winkte aufgeregt, keine zwanzig Meter von der Tanne entfernt. Beim Stochern im Schnee war er auf etwas Weiches gestoßen, wie er ihnen zurief. Sofort eilten drei weitere Grenzer hinzu und fingen mit kleinen Schaufeln an zu graben. Auch Düvel und Goßmann hasteten zu der Stelle.

Sie mussten nicht lange warten. Nachdem sie einen halben Meter Schnee weggeschaufelt hatten, legten die jungen Soldaten den Kopf einer Leiche frei, der auf der oberen Kante eines kleinen Wasserfalls lag. Der Körper war an den senkrechten Felsen im Wasser gelehnt, die Beine wie kniend im weiteren Bachlauf. Das Gesicht war in Düvels Richtung gedreht. Er sah einen wie zum Schrei geöffneten Mund und Augenhöhlen wie zerklüftete Löcher. Der junge Soldat, der sie entdeckt hatte, schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich so weit wegzudrehen, dass er sich ins Gebüsch neben der Leiche übergab und nicht auf sie. Auch Düvel spürte Magensäure aufsteigen, zwang sie aber zurück.

»Was machen wir? Im Wasser können wir den Toten nicht lassen. Wir sollten ihn so schnell wie möglich rausholen«, stellte Goßmann, der aschfahl geworden war, in den Raum.

Düvel nickte. »Wenn es hier irgendwelche Spuren gegeben haben sollte, sind die längstens weggeschwemmt worden. Lasst uns genügend Fotos von dem Fundort und der Leiche in dieser Position machen, und dann raus mit ihr aus dem Wasser.«

Goßmann rief Weißer herbei, der sofort mit dem Fotografieren der absurden Stellung der Leiche begann. Parallel rief Düvel die Grenzer, die die Leiche freigeschaufelt hatten, und weitere aus der Nähe zu sich. »Hier weitersuchen«, befahl er, in Richtung Bachlauf weisend.

Eiligst wurde eine Plastikplane ausgelegt und die Leiche mit einiger Mühe daraufgehievt, nachdem Weißer sein Okay gegeben hatte. Düvel konnte erkennen, dass der Kopf der Leiche mit einer kleinen Mütze bedeckt war und sie ein gelbes Hemd trug, dessen Rand unter einem Flanellhemd und zwei Pullovern hervorlugte. Sie trug eine braune Skihose, unter deren hochgerutschtem Bein eine Leggings undefinierbarer Farbe sichtbar war. Am linken Fuß waren zwei Wollsocken, um den rechten Teile eines beigefarbenen Pullovers gewickelt.

»Das ist ja eine Frau«, entfuhr es Düvel, als sie die Leiche auf den Rücken drehten.

»Was ist mit ihren Augen?«, stöhnte Weißer auf. Er starrte wie gebannt auf die leeren Augenhöhlen. Das war auch für den Schlimmes gewohnten Kriminaltechniker zu viel. Er eilte zum nächsten Baum, und Düvel hörte Würgelaute.

»Das muss Annabella Donnert sein. Sie ist die einzige Frau, die noch vermisst wird. Gottverdammich, wieso sieht ihr Mund so leer aus?«, fragte Goßmann niemanden Bestimmtes.

Düvel beugte sich vor und starrte in den offenen Mund. Tatsächlich sah er nur eine leere Höhle. »Fehlt die Zunge?«, brachte er würgend heraus. Weißer nickte nur.

Düvel war entsetzt. Entsetzt und wütend. Leere Augenhöhlen und keine Zunge mehr. Was hatte das bloß zu bedeuten? Für ihn, und er war wahrlich kein Sachverständiger, aber für ihn sah es so aus, als wären sie nicht durch Verwesung verschwunden. Nein, das sah nach gekonntem Entfernen aus. Wer tat einer jungen Frau so etwas an? Er war fassungslos. Und ihm wurde schlecht.

Noch bevor er sich fangen konnte, hörte er weitere Rufe der Grenzer, die bachaufwärts gesucht hatten. Keinen halben Meter von der Fundstelle der Frauenleiche entfernt hatten sie weitere Weichteile erstochert.

»Hierher«, ertönten laute Rufe.

Düvel und Goßmann eilten die wenigen Meter zu den Männern, die bereits mit ihren Schippen vorsichtig den Schnee von einer khakifarbenen Windjacke entfernten. Zum Vorschein kam ein Arm mit zwei Uhren am Handgelenk. Düvel konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Die Swatch war um acht Uhr achtunddreißig stehen geblieben, und die Seiko zeigte acht Uhr fünfzehn. Mehr war von der Leiche nicht zu erkennen.

Ein Grenzer, der Schnee neben dem Arm entfernt hatte, stöhnte auf. »Schauen Sie da.« Er wies auf einen zweiten Arm, der knapp oberhalb des ersten sichtbar wurde.

»Der gehört nicht zu dem anderen. Sehen Sie nur«, stöhnte er. Düvel erkannte, dass ein Arm in einen dicken Wollstoff, der andere in einen dünnen Leinenstoff gehüllt war.

Inzwischen waren so viele Grenzer herbeigeeilt, dass Goßmann sie mit einem scharfen »Zurück« fernhalten musste. Auch Untersucher Rainer Bernhard war herbeigeeilt und wischte vorsichtig mit den Händen den Schnee weg. Zum Vorschein kamen zwei weitere Körper, die in einer Art Umarmung lagen. Als wolle die größere der Leichen die kleinere schützen. Tragen. Wärmen.

Beide trugen nichts auf ihren Köpfen und hatten blutige Kopfhautstellen, an denen Haare ausgerissen waren. Eiligst zückte Weißer seine Kamera und schoss unzählige Fotos.

Goßmann hatte inzwischen eine weitere, die vierte Leiche, freigelegt. Ein skelettierter Kopf mit Mütze war zum Vorschein gekommen. Der Schädel war auf der rechten Seite merkwürdig schief, wie eingedrückt, erkannte Düvel.

Zwei ältere Grenzer unterstützten Bernhard beim Herausheben der Leichen, deren Körper sich deutlich im Stadium der Verwesung befanden. Der Gestank war unerträglich. Die umschlungenen Leichen konnten sie nur gemeinsam herausheben. Einige der jungen Grenzer ächzten, andere rannten zu den nächststehenden Bäumen und übergaben sich. Der Rest schien zu erstarren.

Als sie versuchten, die kleinere Leiche von der größeren zu trennen, entdeckten sie ein Notizbuch in ihrer bis dahin verdeckten linken Hand und einen Stift in der rechten. Um ihren Hals hingen zwei Kameras.

Weißer schnappte sich das Buch und schaute hinein. »Nichts. Er hat nichts reingeschrieben.« Enttäuscht legte er es zur Seite.

Als die Leiche auf dem Rücken zum Liegen kam, konnte selbst Düvel nur noch nach Luft schnappen. Der umarmten Leiche fehlten ebenfalls die Augen. Leere Höhlen starrten Düvel an. Er würgte. Schluckte. Schnappte nach Luft. Und zwang sich, die Leiche anzuschauen. Der Mund zum Schrei erstarrt, die Brust eingedrückt. Das konnte er sogar durch die dünne Jacke erkennen.

Er hatte einmal ein Unfallopfer nach dem Aufprall seiner Brust auf die Motorhaube eines Lastwagens gesehen. Genauso sah der Oberkörper dieser Leiche aus.

Professor Marx begrüßte Düvel erstaunlich förmlich mit »Genosse« statt »lieber Freund« wie bei seinem letzten Besuch.

»Was haben Sie zu den letzten Leichen herausgefunden, Herr Professor?«

»Wir haben sie mit Hilfe ihrer Angehörigen identifizieren können. Ansonsten wenig. Und das wenige zeigt, dass alle erfroren sind. Also letztendlich. Allerdings wiesen diese Leichen einige Besonderheiten auf, die ich Herrn Dr. Richter ausführlich erklärt habe. Wenden Sie sich bitte direkt an ihn.«

Düvel starrte ihn verblüfft an.

»Sie würden mir wirklich sehr helfen, wenn Sie mir die Todesumstände genauer erklären würden. Ich versuche unter Hochdruck herauszufinden, was auf unserem Brocken mit neun jungen Menschen passiert ist. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Genosse Dr. Richter hat ausdrücklich Anweisung gegeben, nur ihm zu berichten.«

»Aber die Obduktionsberichte bekomme ich doch.«

»Genosse Dr. Richter wird sie Ihnen weiterleiten. Hat er gesagt.«

»Aber ich brauche sie jetzt, nicht irgendwann.«

Professor Marx schwieg.

»Was ist, kann ich sie von Ihnen direkt haben?«, hakte Düvel nach.

Noch immer schwieg der Obduzent.

»Hören Sie, ich behandele das absolut vertraulich. Aber ich brauche Informationen. Jetzt, nicht irgendwann. Wie soll ich sonst weiterkommen? Das waren junge, kerngesunde Menschen, die da oben den Tod fanden. Und ich muss dringend wissen, woran genau sie gestorben sind. Denken Sie an die Eltern. Und daran, dass da womöglich irgendjemand oder irgendwas sein Unwesen treibt, das wir stoppen müssen, bevor noch mehr passiert. Was, wenn das noch anderen geschieht?«

Marx nickte langsam. »Aber es bleibt unter uns, das müssen Sie mir garantieren. Einverstanden?«

»Das verspreche ich Ihnen.«

»Nun gut. Also sowohl Zöllner, das war die umarmte Leiche, als auch Annabella Donnert haben ein interessantes Verletzungsmuster. Diese sind in Position und Schwere sehr ähnlich trotz der unterschiedlichen Form, Größe und körperlichen Konstitution der Toten. Das würde nahelegen, dass das, was diese Verletzungen verursachte, kein einziges einheitliches Ereignis war.«

»Was waren das für Verletzungen? Und was war die Ursache dafür? Wie kann man die Verletzungen bei Annabella und Zöllner erklären?«

»Langsam, langsam. Nicht alles auf einmal. Also, beide hatten mehrfach zersplitterte Frakturen der Rippen – bei Annabella waren sie bilateral und symmetrisch, bei Zöllner einseitig. Beide hatten Blutungen in den Herzmuskel mit Blutungen in die Pleurahöhle, was ein Beweis dafür ist, dass sie, als sie verletzt wurden, noch am Leben waren. Solche Verletzungen sind das Ergebnis der Einwirkung einer großen Kraft, die übrigens auch auf Nikolaus Thibeaux einwirkte.«

»Was für Verletzungen hatte denn Thibeaux?«, fragte Düvel nach.

»Mehrere Frakturen des Schläfenbeins mit Verlängerungen und Erweiterungen bis zu den Frontal- und Keilbeinknochen. Kurzum, sein Schädel war auf der rechten Seite eingeschlagen, und das mit großer Gewalt.«

»Durch welche Art von Gewalt könnten die drei solche Verletzungen erlitten haben?«

»Der Schaden an Thibeaux’ Kopf könnte durch das Werfen, Fallen oder Abwerfen des Körpers entstanden sein. Ich glaube allerdings nicht, dass diese Wunden die Folge eines einfachen Sturzes aus der Höhe seiner eigenen Körpergröße sind. Soll heißen, dass er hinfiel und dabei mit seinem Kopf aufschlug. Die ausgedehnte, zusammengedrückte, mehrfach zersplitterte und gebrochene Fornix und Basis des Schädels könnte das Ergebnis eines Aufpralls eines sich mit hoher Geschwindigkeit nähernden Automobils sein. Da war aber sicherlich keines, oder?«

Düvel verneinte. Ähnliches war ihm bei der Leiche mit dem eingedrückten Brustkorb durch den Kopf gegangen, wie er sich erinnerte. »Ist es möglich, dass Thibeaux von einem Stein getroffen wurde, der von jemandem geworfen wurde? Oder auf seinen Kopf geschlagen wurde?«

»In diesem Fall wäre das Weichgewebe beschädigt worden. Aber das war nicht der Fall.«

»Er hatte keine äußeren Verletzungen an der Stelle?«

Marx schüttelte den Kopf.

»Wie lange könnte Thibeaux nach dem Trauma noch gelebt haben? Hätte er sich selbst bewegen können? Noch reden können?«

Wieder schüttelte Marx den Kopf. »Nach dieser Verletzung hätte er eine schwere Gehirnerschütterung gehabt. Das bedeutet, er wäre zwar vielleicht noch bei Bewusstsein gewesen, aber nicht in der Lage, sich zu bewegen, selbst wenn ihm geholfen worden wäre. Reden hätte er auf keinen Fall mehr können. Tja, ich schätze, dass er noch zwei, drei Stunden lang Lebenszeichen hätte zeigen können.«

»Und Annabella und Zöllner?«

»Annabella starb schätzungsweise zehn bis zwanzig Minuten nach dem Trauma. Annabella hatte einen komplizierten traumatischen Schock, der aus der bilateralen Rippenfraktur mit anschließender interner Blutung in die Pleurahöhle resultierte. Sie hätte bei Bewusstsein sein können. Manchmal passiert es, dass eine Person mit einer Wunde am Herzen, zum Beispiel einer schweren Messerwunde, noch sprechen, rennen oder um Hilfe bitten kann. Aber Annabella? Das wage ich zu bezweifeln bei der Schwere der Verletzungen. Zöllner hätte länger leben können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass alle Opfer gut trainierte, körperlich fitte und starke Menschen waren.«

»Und worin bestand nun die Ähnlichkeit bei diesen drei Toten?«

»Die Verletzungen, bei denen das Weichgewebe der Brust oder des Schädels unbeschädigt blieb trotz so schlimmer Verwüstungen im Inneren. Die sind der Art von Traumata sehr ähnlich, die aus der Schockwelle einer Bombe resultieren.«

Düvel hatte Marx nochmals garantieren müssen, dass er niemandem von diesem Gespräch erzählen und sich über Staatsanwalt Dr. Richter die Obduktionsberichte besorgen würde.

Das hatte er auch versucht. Und war gegen Wände gerannt. Wie er es gewohnt war. Und so rannte er weiter, bis er einen Gesprächstermin mit dem Staatsanwalt bekam. Aber erst, als dieser bereits auf gepackten Kisten saß. Wie man munkelte, hatte Dr. Richter bereits Büroräume in Ostberlin angemietet, um dort eine Rechtsanwaltskanzlei zu eröffnen. Er wollte wohl einer der Ersten sein, wenn es zur allseits erhofften Wiedervereinigung käme, die sicherlich jede Menge Rechtsprobleme mit sich bringen würde. In der ganzen DDR gab es überhaupt nur fünfhundertdreißig Rechtsanwälte. Das versprach den großen Profit.

»Die Obduktionsberichte können Sie natürlich gerne haben. Warum haben Sie sich nicht früher gemeldet, Genosse Düvel?«

Düvel ersparte sich die Antwort, die ihn nur weiter weg von den Antworten, die er sich erhoffte, katapultieren würde.

»Ich habe bereits den Abschlussbericht verfasst«, verkündete der Staatsanwalt selbstzufrieden. »Schließlich ist heute mein letzter Arbeitstag. Den bekommen Sie natürlich auch. Wenn das alles ist … Ich habe noch viel zu tun. Sie entschuldigen, Genosse.«

Ratlos stand Düvel vor der hinter ihm nachdrücklich geschlossenen Tür und schaute auf die letzte Seite des Abschlussberichtes. In schwarzen Lettern prangte das »Eingestellt« unter dem nur einseitigen Text zu diesem umfangreichen Todesermittlungsverfahren. Er musste sich auf eine Bank setzen. Fassungslos begann er zu lesen:

Zusammenfassung: Der Tod der Wandergruppe ist auf eine Reihe von Fehlern von ihrem Leiter Ingo Dannemann zurückzuführen. Am 3. Dezember 1989 baute die Wandergruppe um Dannemann ihr Zelt zwei Kilometer entfernt vom Brockenplateau auf, obwohl er von der Schwierigkeit des Geländes wusste. Außerdem – und das war Dannemanns nächster Fehler – wählte er eine Stelle, die nicht windgeschützt war. So befand sich die Studentengruppe mit ihrem Lehrbeauftragten am Osthang des Brocken bei starkem Wind und Nebel, der typisch für diese Gegend ist, und niedrigen Temperaturen von mindestens minus zwanzig Grad.

Bla, bla, bla. Woher wollte der Staatsanwalt das alles wissen? Schwierigkeit des Geländes? Was sollte das denn heißen? Er war nicht einmal an der Fundstelle gewesen. Hatte weder die Lage des Zeltes besichtigt noch seine, Düvels, Informationen zu den Temperaturen in der Nacht eingeholt.

Er las weiter, ersparte sich aber die unsinnigen Ausführungen zur Position des Zeltes und dem Zustand der Gruppe, von der der Staatsanwalt keine Ahnung haben konnte. Jedenfalls waren sie sicherlich nicht, wie er als Möglichkeit ausführte, volltrunken und von Sinnen aufeinander losgegangen. So ein Unsinn. Dazu hätte er nur das Pamphlet zu den Grenzern lesen müssen.

In Anbetracht des Fehlens von äußeren Verletzungen an den Körpern oder Anzeichen für einen Kampf sowie das Zurücklassen aller wertvollen Ressourcen wie Schuhe, Kleidung und Werkzeug und aufgrund der Schlussfolgerungen der medizinischen Untersuchungen über die Todesfälle ist der Schluss zu ziehen, dass die Ursache der Todesfälle in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1989 eine Elementargewalt oder überwältigende Krafteinwirkung natürlichen Ursprungs war. Eine schuldige Person konnte nicht ermittelt werden. Dementsprechend war das Verfahren nach Paragraf 147 Nr. 1, 148 Abs. 1 StPO DDR einzustellen.

Der Teufel vom Brocken

Подняться наверх