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FÜNF
ОглавлениеMittwoch, 20. Dezember 1989, bis Sonntag, 31. Dezember 1989
Nachdem in den folgenden Tagen keine Spur von den restlichen vermissten vier Studenten und ihrem Lehrbeauftragten entdeckt worden war, beschloss Düvel, sich um die Obduktionsergebnisse zu kümmern.
Mit dem Hubschrauber, der vorübergehend auf dem Brockenplateau stationiert war, flog er nach Magdeburg. In der Medizinischen Akademie der Otto-von-Guericke-Universität waren die Obduktionen bereits in Gegenwart von zwei Pathologen und dem zuständigen Staatsanwalt Dr. Herrmann Richter durchgeführt worden.
Schnell fand Düvel Professor Karl Marx, der die Leichen als Erster Obduzent seziert hatte. Mit einem Wurstbrot in der einen und einer Vita Cola in der anderen Hand, betrachtete er eine von hinten beleuchtete Röntgenaufnahme vor sich.
»Kommen Sie rein, kommen Sie nur rein«, forderte der Professor Düvel auf, nachdem er ihn vor der Tür entdeckt hatte.
»Hm, wegen der jungen Leute vom Brocken kommen Sie also«, sagte er, nachdem sich Düvel vorgestellt hatte. »Traurige Geschichte das, ganz traurig. Ich hab ja schon unzählige Obduktionen durchgeführt, aber so viele kerngesunde junge Menschen auf einen Schlag hatte ich noch nie. Tja, so ist das Leben. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Woran sind die Studenten gestorben?«
»Erfroren, guter Mann, alle erfroren. Das habe ich auch Dr. Richter gesagt, der hat an den Obduktionen teilgenommen. Daran besteht kein Zweifel. Hellrote Totenflecken, Blutungen in den Lendenmuskel, hellrotes Gewebe an den Kniegelenken und Wischnewski-Flecken, also Einblutungen in die Magenschleimhaut. Überlauf der Blase und Erfrierungen der Finger dritten und vierten Grades. Wie im Lehrbuch. Besser als im Lehrbuch. Geradezu perfektes Abbild eines Erfrierungstodes, möchte ich meinen.« Andächtig nickte er.
»Allerdings gab es auch ein paar Auffälligkeiten. Zum Beispiel bei der jungen Frau. Übrigens wurde sie vorgestern von ihren Eltern als Zara Kaufmann identifiziert. Bei ihr fanden wir im Lendenbereich des rechten Abdomens, also hier an der Seite«, er zeigte auf seine Taille, »eine Prellung in Form eines Streifens von dreißig mal sechs Zentimetern. Erinnerte mich an einen Schlag mit einem Stock in die Seite. Auch der junge Mann, Frank Kempler, hatte diverse Verletzungen dieser Art im Gesicht, am Schienbein und an den Händen.«
»Was wollen Sie damit sagen? Wurden die jungen Leute angegriffen, haben sie sich vielleicht gegenseitig verletzt?«
»Langsam, langsam. Ich hab das auch Herrmann Richter erläutert, der nach meinen Erklärungen deutlich beruhigt war. In meinem Autopsiebericht wird stehen, dass das alles Verletzungen sind, die sich die jungen Leute wahrscheinlich im Todeskampf zugezogen haben.«
»Ist das sicher?«
»Was ist denn schon sicher im Leben, mein Freund? Nichts, absolut nichts. Aber wir reden hier von Wahrscheinlichkeiten. Es ist absolut typisch für Erfrierende in der Agonie, dass sie sich unruhig rumwälzen. Wenn das in der freien Natur geschieht, dann stoßen sie gegen alles Mögliche, was sie verletzen kann. So weit die Wahrscheinlichkeit.«
»Können Sie ausschließen, dass es sich um gezielte Schläge gehandelt hat?«
»Ausschließen? Ausschließen, mein Freund, kann ich gar nichts. Und Sicherheit gibt es nur beim Tod. Der kommt immer. Aber wie er kommt. Tja, da kann ich nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Nehmen wir zum Beispiel den jungen Kempler. Der hatte eine Fraktur des linken Stirnbeins. Die kann auftreten, wenn ein Erfrierender mit dem Kopf beim Fallen auf einen harten Gegenstand wie einen Stein, Eis oder so was aufschlägt. Das führte zweifellos zu einer kurzzeitigen Betäubung von Kempler, und die beschleunigte das Erfrieren. Das Fehlen einer ausgeprägten Hirnblutung gibt Anlass zu der Annahme, dass sein Tod gerade durch das Erfrieren erfolgt ist. Es blieb dem Körper nicht genügend Zeit, ins Hirn einzubluten. Seine weiteren Verletzungen am Körper in Form von Abschürfungen, Kratzern und Prellungen können wieder als Folge eines Sturzes und Sichwälzens entstanden sein. Verursacht wurden sie jedenfalls im agonalen Zustand und posthum.«
»Und bei den anderen? Ich erinnere mich, dass der Anführer der Gruppe, Ingo Dannemann, seine Jacke geöffnet hatte. Dabei ist er doch erfroren, wie Sie sagen.«
»Bei ihm ist der Befund absolut eindeutig. Dass der junge Mann eher untypisch seine Jacke geöffnet hatte, wird an der sogenannten Kälteidiotie gelegen haben.«
»Und was ist das bitte?«
»Das ist der rechtsmedizinische Ausdruck für ein paradoxes Verhalten, das Erfrierende manchmal an den Tag legen. Der Betroffene beginnt sich auszuziehen, obwohl sein Körper bereits stark unterkühlt ist. Das liegt daran, dass sich bei großer Kälte die Gefäße in den Extremitäten stark zusammenziehen, um den Organismus zu schützen und das Blut zu den lebenswichtigen Organen zu transportieren. Deswegen treten Erfrierungen auch zunächst an den Händen, Füßen oder der Nase auf. Kurz vor dem Tod weiten sich die Gefäße wieder, das Blut schießt zurück in die unterkühlten Extremitäten. Dem Betroffenen wird warm, und er beginnt zu schwitzen. Die Kälteidiotie tritt auf, wenn die Körperkerntemperatur unter zweiunddreißig Grad Celsius sinkt. Ein Erfrierender ist in diesem Stadium nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen.«
»Was es nicht alles gibt«, konnte sich Düvel kopfschüttelnd nicht verkneifen zu sagen.
Der Professor nickte nur.
»Und was ist mit den beiden Toten, die wir zuerst gefunden haben, Oliver Seelmann und Lars Andersen?«
»Tja, auch die beiden sind eindeutig erfroren. Allerdings wiesen sie Verletzungen auf, die aus meiner Sicht von einem Sturz stammen könnten. Abschürfungen an Armen, Händen und Schultern, dazu alle Zehen und Finger erfroren. Wenn die beiden überlebt hätten, hätten die amputiert werden müssen. Nun ja, das ist sicherlich immer noch besser als so jung zu sterben.« Er schüttelte bedauernd den Kopf.
»Außerdem wiesen beide Verbrennungen auf, Andersen am linken Bein und Fuß, und Seelmann hatte verbrannte Haare. Auffallend war allerdings, dass Andersen Teile der Haut seiner rechten Hand im Mund hatte.«
»Wie bitte?«
»Ja. Er hat sich die Haut seiner Hand abgebissen. Vielleicht, um wieder Gefühl hineinzubekommen. Vielleicht war er aber auch schon so verwirrt, dass er nicht gemerkt hat, dass er zu fest zubiss. Wer weiß das schon?«
»Vielleicht haben Sie bemerkt, dass Seelmann auf seiner rechten Wange grauen Schaum hatte. Der ist als Flüssigkeit aus seinem offenen Mund ausgetreten. Die wahrscheinlichste Ursache dafür ist ein Lungenödem. Das ist eine krankhafte Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge. Umgangssprachlich ist oft auch von ›Wasser in der Lunge‹ die Rede. Tatsächlich handelt es sich allerdings bei der Flüssigkeit um Blutflüssigkeit, die aus den Blutgefäßen der Lunge ins Lungengewebe fließt.«
»Wodurch verursacht?« Düvel hatte fleißig mitgeschrieben.
»Das Mitschreiben können Sie sich sparen, ich habe die Obduktionsberichte wohlweislich kopieren lassen. Da können Sie alles nachlesen.«
»Herzlichen Dank, Herr Professor. Aber wodurch ist das Lungenödem denn nun entstanden?«
»Da muss ich raten.«
»Dann raten Sie bitte für mich.«
»Im Hinblick auf die übrigen Verletzungen an den beiden Leichen würde ich auf einen Sturz aus großer Höhe tippen. Würde das zur Auffindesituation passen?«
Düvel nickte.
»Nun, dann ist als Ursache für das Ödem ein Sturz sehr wahrscheinlich. Aber Sie wissen ja, die Sache mit der Wahrscheinlichkeit und Sicherheit …«
»Ist Ihnen sonst noch etwas Besonderes aufgefallen?«, hakte Düvel nach.
»Ja, ist mir, auch wenn es Ihren sehr geehrten Herrn Staatsanwalt nicht sonderlich interessierte. Bei Zara Kaufmann und Frank Kempler, aber auch bei Lars Andersen und Oliver Seelmann stimmen die Totenflecken nicht mit den Tatortfotos von den Leichenfunden überein.«
»Sie wurden also postmortal bewegt?«
»Ja, mein Freund, und das ist ausnahmsweise einmal sicher. Und zwar mindestens zwanzig Stunden nach Todeseintritt. Ich würde allerdings noch ein paar Stunden drauflegen bei der Kälte auf dem Brocken.«
Düvel nickte. »Haben Sie eine Idee, was mit den jungen Leuten passiert sein könnte?«
»Sehr geehrter Herr Kommissar, das ist Ihr Job. Ich habe meinen gemacht. Und für Märchenstunden fehlt mir leider die Zeit.«
»Sind Sie sicher, dass es bei allen ein Unfall war, also kein Mord?«
»Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht wissen. Ich war nicht dabei. Muss ich das mit den Wahrscheinlichkeiten wiederholen? Ich halte mich an das, was ich für höchstwahrscheinlich halte oder sicher weiß, was wenig genug ist. Und genau das steht in meinem Abschlussbericht: Die jungen Leute sind alle erfroren, die äußerlichen Verletzungen lassen sich allesamt auf Verletzungen im Todeskampf zurückführen. Ihr Herr Staatsanwalt bestand darauf, dass ich das so klar formuliere, also habe ich das auch getan. Mehr gibt es aus meiner Sicht nicht dazu zu sagen. Und jetzt muss ich zur nächsten Obduktion. Auch nach der Grenzöffnung sterben die Menschen noch.«
Auch die restliche Woche hatten sie mit Unterstützung der Nationalen Volksarmee die fünf Verschwundenen gesucht. Eltern und Freunde der Studenten hatten ihnen die Hölle heißgemacht. Nur nach Bernhard Zöllner, der, wie sie inzwischen erfahren hatten, neununddreißig Jahre alt und erst seit dem Wintersemester an der Universität Clausthal-Zellerfeld gelehrt hatte, fragte niemand.
Die toten Studenten waren von ihren Familien abgeholt und noch vor den Weihnachtsfeiertagen unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt worden, wie Düvel in der Zeitung gelesen hatte. Sogar Hans-Heinz Emons, seit knapp einem Monat Minister für Bildung und Jugend in der neu installierten Regierung Hans Modrows, nahm teil, um den guten Willen des Ministerrates der DDR zu demonstrieren.
Staatsanwalt Dr. Richter wollte eiligst das Ermittlungsverfahren wegen der fünf toten jungen Leute einstellen. Vollmundig hatte er Düvel erklärt, alle seien erfroren. Ganz wie Professor Marx ihm schriftlich bestätigt hatte. Doch letztlich traute er sich nicht. Das öffentliche Interesse war zu groß. Und schließlich waren noch nicht alle Opfer gefunden worden. Auf seine Intervention wurden die Ermittlungen wegen der ersten gefundenen Opfer allerdings nicht gerade als Priorität weitergeführt.
Düvel konnte nicht an das Erfrieren der fünf glauben. Oder doch. Daran schon. Aber wieso war das Zelt aufgeschnitten? Warum hatten sie keine Schuhe angezogen? Was hatte sie so sehr in Panik versetzt, dass sie so leicht bekleidet den Berg hinuntergerannt waren? Das musste seinen Grund haben. Es musste mehr dahinterstecken. Davon war er überzeugt.
Staatsanwalt Dr. Richter zuckte nur die Schultern. »Das werden wir wohl nie herausfinden«, war sein einziger Kommentar. »Rauschgift, Übermut? Keine Ahnung. Keine Ahnung, was diese Westler überhaupt da oben auf dem Brocken in so einer eisigen Nacht veranstaltet haben. Für weitere Ermittlungen haben wir jedenfalls keinen Ansatzpunkt. Finden Sie erst mal die noch Verschwundenen, dann reden wir weiter.« Damit erstickte er jede Diskussion im Keim.
Frustriert war Düvel am Heiligabend nach Hause gefahren, um bei seinen Töchtern zu bleiben. An Feiern war nicht zu denken. Er musste den beiden noch beibringen, dass ihre Mutter nicht kommen würde. Am Vortag hatte sie im Präsidium angerufen und ihm ausrichten lassen, dass demnächst ein Paket für die beiden mit wunderbaren Barbiepuppen und Jeans kommen würde. Echte Wrangler, hatte sie gesagt. Lauter schöne Westsachen, nigelnagelneu. Als nachträgliches Weihnachtsgeschenk. Woher sie das Westgeld dafür hatte, wollte Düvel lieber nicht wissen. Kein Wort, ob und wann sie zurückkommen würde.
Wie sollte er das seinen Mädchen beibringen? Und wie sollte er damit klarkommen? Verschämt musste er sich eingestehen, dass er keine Zeit gehabt hatte, Geschenke für seine Mädchen zu kaufen. Frau Schulze hatte ihm welche besorgt.
Zudem stand ihm nach den vielen Tagen im Wald der Sinn absolut nicht nach Tannen – auch wenn sie noch so hübsch als Weihnachtsbaum geschmückt waren. Doch das konnte er den Kindern nicht antun. Wenn er nur wüsste, wo die Weihnachtskugeln versteckt waren. Das hatte früher alles Franziska, seine Frau, erledigt.
Vielleicht hätte er sich mehr in die Ehe einbringen sollen. Müssen. Doch sein Job, der ihnen immerhin eine großzügige Vierzimmerwohnung gesichert hatte, hatte seine ganze Zeit und sämtliche Gedanken in Anspruch genommen. Alles rächte sich im Leben. Auch die Kälte in seiner Ehe, die er zwar gespürt, gegen die er aber nichts unternommen hatte. Nichts unternehmen konnte. Oder wollte. So sicher war sich Düvel da nicht. Wenn die Kinder nicht gewesen wären. Wer weiß? Vielleicht wäre er selbst gegangen.
Schlimm fand er nur, dass sie die Kleinen ohne Abschiedsgruß zurückgelassen hatte. Was für eine Mutter war sie denn?
Sachte öffnete er die Tür zum Kinderzimmer und schlich hinein. Fahles, gedämpftes Licht fiel durch die Fenster. Er hielt inne, damit sich seine Augen daran gewöhnen konnten.
Das Zimmer roch nach Kindern. Ein säuerlicher Geruch mit einer Basisnote von Schweiß und alten Socken. Links hing ein Poster von den Puhdys. Überall haufenweise Spielzeug. Noch keine Barbiepuppe, von der Düvel wusste, dass sich seine Töchter sehnlichst eine wünschten, seitdem sie sie im heimlich geschauten Westfernsehen gesehen hatten. Nicht zu haben in der DDR. Dazu musste ihre Mutter erst in den Westen abhauen, wie Düvel verbittert dachte.
Ina lag zusammengerollt auf der Seite, mit wirrem Haar und offenem Mund, aus dem eine dünne Speichelspur aufs Kissen rann. Elke lag mit friedvoller Miene auf dem Rücken. Er setzte sich auf die Bettkante und strich ihr eine blonde Locke aus der Stirn, fühlte ihre Wärme und die unglaublich zarte Haut. Bald werden sie zu groß sein, um mit ihrem Vater rumzutoben. Der Gedanke war wie ein Stich in seiner Brust. Vor allem wenn er bedachte, wie viel Zeit er mit der Arbeit und wie wenig mit seinen Töchtern verbrachte.
Schwerfällig stand er auf und ging in den Keller, um dort nach den Weihnachtskugeln zu suchen.
***
Professor Axel Kübler war dieser Heiligabend verdorben. Er mochte nicht an die armen Eltern der toten Studenten denken. Kurzfristig hatte er am letzten Freitag, zwei Tage vor Weihnachten und dem Beginn der vorlesungsfreien Zeit in der Technischen Universität Clausthal-Zellerfeld einen Gedenkgottesdienst für die verstorbenen und noch verschollenen Studenten und seinen Lehrbeauftragten organisiert. Das fand er einfach angebracht. Unzählige Studenten, die normalerweise sofort nach der letzten Vorlesung in den Weihnachtsurlaub gestürmt wären, hatten teilgenommen. Natürlich waren auch die Eltern der Toten und noch Verschollenen gekommen.
Nur für Zöllner war niemand erschienen. Der ganze Lehrkörper war erstaunt darüber gewesen, dass sich absolut niemand für den Verbleib ihres Kollegen zu interessieren schien. Gut, an der Hochschule hatte ihn niemand näher gekannt. Er war einfach zu kurz da gewesen. Aber wenn Kübler jetzt so darüber nachdachte, verblüffte es ihn schon, dass überhaupt niemand Zöllner näher kannte. Immerhin war er im Oktober eingestiegen. Kurzfristig, weil sein Vorgänger, Kollege Schmittbauer, plötzlich erkrankt war. Sie hatten riesiges Glück gehabt, solch einen kompetenten Kollegen für Kommunikationstechnik so schnell gefunden zu haben. Er hatte gar nicht gewusst, dass der Kollege mit der Wander-AG in den Osten wollte. Hätte er das, hätte er es mit Sicherheit gutgeheißen. Und nun dieses Unglück.
Er starrte auf die brennenden Weihnachtskerzen, auf seine drum herum tollenden Enkelkinder Jana und Erich, beobachtete seine Frau beim Plaudern mit den Kindern und Schwiegerkindern und wurde immer deprimierter.
So hatte er sich dieses Weihnachtsfest nicht vorgestellt. Vorsichtshalber tastete er nach den Moxonidin. Das Ganze regte ihn maßlos auf. Und wenn er sich nicht aufregte, dann war er deprimiert.
Der Gedanke an die Eltern der Toten hatte seine Seele belastet. Er ertrug die Vorstellung nicht, wie es ihnen nach solch einem Verlust gehen mochte.
Wieder betrachtete er seine eigene Tochter und die Enkel und wurde sich bewusst, dass die Hinterbliebenen diesen Anblick niemals mehr erleben würden. Er schluchzte leise auf. Jana starrte ihn verblüfft an. Sofort riss er sich zusammen und lächelte sie an.
Wo wohl die Verschwundenen jetzt sein mochten? Er hoffte von ganzem Herzen, dass sie noch lebten und irgendwo in Sicherheit wären. Wenigstens lebten.
Nur daran glauben konnte er nicht.
Professor Kübler glaubte an ein nachträgliches Weihnachtswunder und sandte seinem Gott, an den er schon viel zu lange nicht mehr gedacht hatte, ein stilles Dankgebet.
Nach den Feiertagen hatte er wie üblich die Hochschulpost gesichtet, seine Sekretärin war im Urlaub. Auf einem einfachen weißen Kuvert prangte als Absender Sven Freytags Name und eine Adresse in der Schweiz. Einer der Verschollenen. Hastig riss er den Umschlag auf. Der Brief erhielt eine Krankmeldung für die zwei Wochen vor Weihnachten. Ohne lange zu überlegen, gab er der Telefonauskunft Name und Adresse in Davos an und erhielt tatsächlich eine Nummer, zu der nur der Vorname nicht passte. Wie sich herausstellte, gehörte der zu Svens Vater.
»Professor Kübler, Sie? Es tut mir ja unheimlich leid, dass ich meine Krankmeldung erst so spät abgesandt habe, wegen der Prüfungen und so, aber mich hatte es wirklich übel erwischt bei unserer Wanderung. Vielleicht darf ich ja trotzdem an den Nachprüfungen teilnehmen –«, krächzte Freytag durch die Leitung, mitten in seinen gestammelten Erklärungen brüsk unterbrochen.
»Warum haben Sie sich nicht bei uns gemeldet? Wir haben Sie gesucht, fünf Ihrer Kommilitonen von der Wanderung auf den Brocken sind tot und fünf Menschen, jetzt nur noch vier, verschwunden.«
»Was ist los?«
»Ja lesen Sie denn keine Zeitung?«
»Mein Vater hat hier nur die Financial Times abonniert.«
»Jetzt sagen Sie mir erst mal, wo die anderen sind.«
»Welche anderen?«
Wie sich herausstellte, hatte Sven Freytag keine Ahnung. Am Tag der Brockenbefreiung musste er wegen einer schweren Grippe umkehren und sich in Schierke in einer kleinen Pension einquartieren. Von dort hatte ihn ein paar Tage später sein Bruder mit dem Auto abgeholt, und gemeinsam waren sie in das Ferienhaus ihrer Eltern in die Schweiz gefahren, um dort Weihnachten zu verbringen.
»Was ist mit Zara? Zara Kaufmann.«
»Tot, ebenso wie Ingo Dannemann, Frank Kempler, Oliver Seelmann und Lars Andersen. Die anderen sind verschwunden.«
Danach war kein vernünftiges Wort mehr aus Sven herauszuholen. Kein Wunder. Kübler ärgerte sich über seine Grobheit. Nun war es zu spät, seinem Studenten die Katastrophe schonend beizubringen.
Svens Vater versprach, dass sie umgehend nach Clausthal-Zellerfeld kommen würden.