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SIEBEN
ОглавлениеDienstag, 20. Februar 1990
Die Familien waren Amok gelaufen. Nicht nur die Familien, auch die Hochschulleitung der Technischen Universität Clausthal, der Asta der Hochschule und die Kommilitonen hatten lautstark protestiert. Die Bevölkerung auf beiden Seiten der nur noch pro forma existierenden Grenze hatte sich angeschlossen. Die Presse hatte das Thema aufgegriffen und Fotos der Toten veröffentlicht. Niemand wusste, woher sie die hatte. Die Verlage beriefen sich auf ihren Quellenschutz. So wurde für alle sichtbar, was zuvor nur die Familien schockiert hatte: Einige der toten Studenten hatten rotbräunlich verfärbte Gesichter. Die Gerüchte kochten wie in einem überhitzten Topf hoch. Als die Tatsache der fehlenden Augen und der entfernten Zunge bekannt wurde, explodierte er.
Letztlich hatte sich auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Bonn, deren Generalsekretär der Vater von Alexander Böhme war, an die Spitze der Protestbewegung »Brockenmord« gesetzt.
Ihr Misstrauen gegenüber den Ergebnissen der Morduntersuchungskommission, die schließlich eine Diensteinheit der ungeliebten Volkspolizei war, ließ sich nicht wegdiskutieren. Und dem Staatsanwalt misstrauten sie noch viel mehr bezüglich seiner Einstellungsverfügung. Vor allem als ihnen die vertraulichen Bestimmungen der Stasi zu Verfahrenseinstellungen zugespielt worden waren. Danach waren »bei Entscheidungen über die Einleitung und den Abschluss eines Ermittlungsverfahrens in jedem Einzelfall die konsequente Durchsetzung und strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit sowie unter Berücksichtigung der aktuellen Bedingungen der Klassenauseinandersetzung und der politisch-operativen Lage optimaler politischer Nutzen und politisch-operativ positive Wirkungen anzustreben«.
Und politisch war auch die Einstellung des Verfahrens gewesen. Wenn sie auch keine positive Wirkung hatte.
Skepsis herrschte nicht nur im Westen. Auch die Ostdeutschen zweifelten an, dass es bei dem Tod der neun mit rechten Dingen zugegangen war. Vor allem glaubte keiner in Ost und West, dass die Todesfälle aus einem einfachen Unglück oder Unfall resultierten. Zu erschreckend waren die Bilder der Toten, deren grässlich verzerrte Gesichter eine deutlich andere Sprache sprachen, soweit man das noch erkennen konnte. Gerüchte schossen ins Kraut. Yeti, Aliens, Ritualmorde. Nichts war zu beweisen. Und nichts zu widerlegen.
Selbst die Wiedervereinigung wurde unter diesen bestialischen Umständen in Frage gestellt. Wer wollte sich schon mit einem Staat verbünden, in dem solche Schandtaten ungestraft möglich waren?
Eiligst wurde ein Krisenstab zusammengerufen, dem Vertreter aller Parteien, des BKA, LKA und des BND angehörten. Da die Bundesregierung gerade mit den Russen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten sowie den Abzug der sowjetischen Streitkräfte vom Territorium der DDR verhandelte und politisch nichts falsch machen wollte, konnte sie für weitere Untersuchungen keine Mordkommission in die DDR entsenden.
Nach dreistündiger Sitzung hatte man nach telefonischer Rücksprache mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR entschieden, dass man einen diplomatischen Trick anwenden wollte. Da die DDR offiziell noch immer Ausland war, wollte man Mitglieder der in den 1980er Jahren gegründeten Gruppe der Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamtes im Ausland einsetzen.
Allerdings konnte das BKA nicht eigenmächtig in der DDR als noch souveränem Staat ermitteln. Dafür bedurfte es der Beauftragung durch den Generalbundesanwalt. Die Beamten würden keine hoheitlichen Befugnisse haben und waren auf die Zusammenarbeit mit den örtlichen Kräften angewiesen.
Zudem bestand die Opposition auf den Austausch des zuständigen Staatsanwaltes, der ohnehin längstens gekündigt hatte. Das war kein echter Preis für den Frieden im noch getrennten Deutschland.
Das Auswärtige Amt in Bonn, zu dem die BKA-Beamten abgeordnet waren, nahm mit dem noch amtierenden Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR in Ostberlin Kontakt auf, und man einigte sich auf die Modalitäten.
***
Cassandra von Lucadou war vier Tage zuvor von ihrem Einsatz in Sri Lanka bei einer Geiselnahme von hinduistischen Tamilen zurückgekehrt, als sie den Anruf ihres Vorgesetzten Peter von Arnim erhielt. Eine Reisegruppe aus Deutschland war zwischen die Fronten geraten. Sie war die Einsatzleiterin bei der Befreiungsaktion gewesen.
Noch immer konnte sie nicht fassen, was von Arnim von ihr verlangte. Verbindungsbeamte des BKA mussten in der Regel über gute Sprach-, aber auch sonstige Kenntnisse des Landes verfügen, in das sie abkommandiert wurden. Gut, Deutsch war ihre Muttersprache. Daneben sprach sie fließend Englisch, Französisch, Italienisch, Dari, Paschto, Thai und Tamil, was sie ihrer Großmutter mütterlicherseits zu verdanken hatte. Der sie auch ihr Aussehen verdankte. Die feinen Züge und die mandelförmigen dunkelbraunen Augen ließen sie sanfter aussehen, als sie war, viel sanfter. Nur die hellbraunen Haare, die helle Haut und die Größe von eins fünfundachtzig stammten von ihrem Vater, einem Franzosen hugenottischer Abstammung.
Aber von der DDR wusste sie nichts. Absolut nichts. Hatte sich weder für die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg noch für die jetzige Grenzöffnung interessiert. Die meisten Jahre ihrer Kindheit und ihres Erwachsenenlebens hatte sie im Ausland verbracht. Im warmen Ausland. Sie hasste Kälte. Und wollte so schnell wie möglich wieder weg aus ihrem zu dieser Jahreszeit noch eiskalten Heimatland.
Der Einsatz in der Nordprovinz Sri Lankas war hart gewesen, und eine Deutsche Ende fünfzig hatte die Befreiungsaktion nicht überlebt, aber drei weitere Geiseln hatte Cassandra lebend nach Hause gebracht. Eigentlich stand ihr Urlaub zu. Den sie auf Hawaii zu verbringen gedachte. Gebucht hatte sie schon. Zuvor hatten noch einige regelmäßig wiederkehrende Arztbesuche auf ihrer Agenda gestanden. Und dann nichts wie weg in die Wärme. Sie wollte für den Anfang Oktober stattfindenden Ironman-Wettkampf trainieren wie jedes Jahr. Eigentlich war sie dafür schon zu alt. Aber die Fitness hatte sie. Und sie würde sich den Spaß nicht von einer blöden Zahl rauben lassen.
Und dann der Anruf. Von Armin hatte ihr in der letzten Zeit immer deutlicher zu verstehen gegeben, dass es für sie an der Zeit sei, sich auf eine Ausbilderstelle an der Polizeihochschule zu bewerben. Obwohl sie erst fünfundvierzig war. Topfit durch tägliches Lauf-, Kraft- und Kampftraining. Kein Gramm Fett hatte sie angesetzt, was in Anbetracht ihres Jobs lebensgefährlich gewesen wäre. Nur ihr Busen fing an, dem Gesetz der Schwerkraft zu folgen.
Sie wuschelte sich unwirsch durch ihre kurzen Haare. Vor Jahren, während eines mehrere Monate dauernden Einsatzes in Afghanistan, hatte sie, um ihrer Haarmähne Herr zu werden, einen Straßenfriseur an ihr Haar gelassen. Da der nur Männerhaarschnitte beherrschte, Frauen trugen ihr Haar ungeschnitten brav unter Kopfbedeckungen, die sie nur zu Hause lüfteten, hatte er ihr kurzerhand einen Männerkurzhaarschnitt mit langem Pony verpasst. Über einen Spiegel hatte er nicht verfügt.
Nach dem ersten Schock hatte Cassandra gefunden, dass die Frisur zwar gewöhnungsbedürftig, für ihre Zwecke jedoch außerordentlich geeignet war.
Ihre Kollegen hatten sie seltsam angestarrt, sich aber nicht getraut, ihre neue Frisur zu kommentieren. Seitdem war sie mit noch mehr Respekt behandelt worden. Und so war es bei dem Haarschnitt geblieben. Je nach Land und Qualität des Friseurs fiel er zwischen na ja und absurd aus. Ihr war das egal. Alles, was für sie zählte, war ihr Job. Nichts anderes war wichtig.
Noch konnte sie sich kein Leben ohne die Arbeit und die Auslandseinsätze vorstellen. Aber bitte auch richtiges Ausland, warmes Ausland und nicht dieses abgeschnittene Eckchen Deutschlands, zu dem sie überhaupt keinen Bezug hatte. Mit Kommunisten hatte sie es ohnehin nicht. Dieser Honecker war immer eine Lachnummer für sie gewesen.
Und nun sollte ausgerechnet sie da hin wegen irgendwelcher toten Studenten. Auch wenn die besonders grässlich zugerichtet waren und dieser unfähige Staatsanwalt den Fall viel zu früh und ohne ordentliche Begründung abgeschlossen hatte.
Von Armin wusste genau, womit er sie locken konnte. Sie liebte Geheimnisse. Galt bei ihren Vorgesetzten als intuitiv und analytisch hochbegabt. Zu Recht, wie Cassandra meinte. Wenn sie genau darüber nachdachte, könnte zumindest das Geheimnisvolle an diesem Fall, so er denn einer war und nicht nur das Ergebnis eines Saufgelages von überdrehten Studenten am falschen Ort beim falschen Wetter, der Reiz an der Untersuchung sein.
Aber in der DDR? Ihr grauste. Nun denn, sie hatte ohnehin keine Wahl. Von Armin hatte angedeutet, dass er sie noch weitere vier Jahre im richtigen Ausland einzusetzen bereit wäre, wenn sie den Job übernähme. Das hatte den Ausschlag gegeben dafür, dass sie jetzt zusammen mit Desiderius Maus in einem Dienst-BMW in Richtung Helmstedt unterwegs war. Ihre Kawasaki hatte sie bei der Kälte zu Hause in der Garage gelassen. Normalerweise bewegte sie sich keinen Kilometer in Deutschland anders als auf diesen zwei Rädern. Das einzige Vergnügen in der alten, meist kalten Heimat.
Maus war seinem Nachnamen zum Trotz ein echter Brocken von Mann. Mit Bizepsen im Umfang ihrer Oberschenkel hatte er jahrelang in Kabul für die Sicherheit des deutschen Botschafters gesorgt. Er war ebenfalls Mitte vierzig und ein langjähriger Weggefährte. Sie hatten die Ausbildung gemeinsam durchlaufen und abgeschlossen. Beide hatten die letzten zwölf Jahre als Verbindungsbeamte gearbeitet. Obwohl Maus in Afghanistan gelandet war und sie sich nur noch auf den regelmäßigen Fortbildungen getroffen hatten, war er so was wie ein Freund, kam ihrer Vorstellung davon jedenfalls am nächsten. Cassandra wusste nur Gutes von ihm. Es störte sie lediglich die Tatsache, dass er schwul war. Normalerweise störte sie das nicht. Überhaupt nicht. Aber Desiderius hätte sie nicht von ihrer Bettkante gestoßen. Er war genau nach ihrem Geschmack. Schade, aber nicht zu ändern.
Ungewöhnlich war, dass sie zu zweit in der DDR auftreten sollten. Üblicherweise gab es nur einen Verbindungsbeamten pro Land. Von Armin hatte zudem ein drittes Mitglied der Untersuchungsgruppe angekündigt. Keinen Kriminalbeamten, sondern einen politischen Beamten, der es noch weit bringen würde, wie er meinte. Der sich mit der political correctness auskannte. Und die Wellen, die bei der Untersuchung sicherlich haushoch schlagen würden, wie ein Damm brechen sollte.
»Er wird vorübergehend ebenfalls zum Verbindungsbeamten ernannt. Das sollten Sie sich merken, aber nicht erwähnen. Auch nicht, dass in diesem Fall mehr Beamte als gewöhnlich eingesetzt werden. Ist das klar?«
Natürlich war das Cassandra und Desiderius klar gewesen. Auch wenn sie sich sonst eher durch Stärke als durch Sensibilität auszeichneten.
Hinter der Noch-Grenze in Helmstedt-Marienborn, an der zwei Grenzer in DDR-Uniform unmotiviert Löcher in die Luft gestarrt hatten, bogen sie nach Halberstadt ab, wo sie sich mit dem dritten Gruppenmitglied und der Morduntersuchungskommission aus Magdeburg treffen sollten. Auch der für den Fall zuständige neue Staatsanwalt sollte anwesend sein. Man hatte ihnen den Umweg über deren Dienstort, die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR im Weißen Haus in Ostberlin, erspart. Cassandra hatte an einen Schreibfehler geglaubt, als sie den schriftlichen Einsatzbefehl erhalten hatte. Eine ständige Vertretung war in einem Land und nicht bei. Doch von Armin hatte sie eines Besseren belehrt.
»Die Verwendung des Wörtchens ›bei‹ statt ›in‹ hat ihren Grund in den diplomatisch verwickelten Bedingungen, unter denen die Eröffnung dieser Einrichtung im Frühjahr 1974 beschlossen wurde. Denn Ostberlin gehörte damals streng genommen als Stadt unter Alliierter Kontrolle ebenso wenig zur DDR wie Westberlin zur Bundesrepublik. Dazu kam, dass die Bundesrepublik die DDR zwar als souveränen Staat anerkannte, aber immer von einer deutschen Staatsangehörigkeit ausging. Mit der Formel ›Ständige Vertretung‹ wurde eine Bezeichnung für eine Institution mit der Funktion einer Botschaft gefunden, ohne dadurch die Zweistaatlichkeit zu akzeptieren. Als Staatsbedienstete sollten Sie solche geschichtlichen Hintergründe aber kennen, wenn Sie Ausbilderin werden wollen.«
Cassandra hatte es geschüttelt. Sie wollte weder Ausbilderin werden noch die geschichtlichen Details der deutschen Teilung erfahren. Sie wollte ihren Job machen. Mehr nicht.
Jetzt jedenfalls konnten sie die Abkürzung nehmen.
***
Tomas Düvel war diese Rambofrau auf den ersten Blick unsympathisch. Das blieb sie auch nach dem zweiten. Zwar hatte sie hübsche Augen und eine tolle Figur, aber viel zu viele Muskeln für seinen Geschmack, und der Herrenhaarschnitt ließ ihre ansonsten weichen Züge verhärten. Nein, eine Frau hatte nach seinem Empfinden auch wie eine Frau auszusehen. Auch wenn sie sich für ihr Alter, das er auf Mitte dreißig schätzte, gut gehalten hatte. Aber sie war zu dominant. Gleich bei der Begrüßung durch den neuen Staatsanwalt Anton Küster hatte sie klargestellt, dass sie die Führung übernehmen würde – auch der MUK. Doch das hatte Düvel nicht zugelassen.
»Mag ja sein, dass Sie in der Welt herumgekommen sind und wir hier festgesessen haben, trotzdem haben wir gute Arbeit geleistet. Dass der erste Staatsanwalt die Sache eingestellt hat, war gegen unsere ausdrücklich erklärte Meinung zu dem Fall. Um genau zu sein, konnten wir unsere Ergebnisse überhaupt nicht vortragen«, konnte er sich nicht zurückhalten, zu sagen.
Das brachte ihm einen erstaunten Blick dieser von Lucadou ein, die ihn erst jetzt wahrzunehmen schien. Und einen bösen Blick von Staatsanwalt Küster, der ihnen vor der Besprechung eingebläut hatte, sich nicht systemkritisch zu den bisherigen Ermittlungen zu äußern. Der Befehl dafür sei von ganz oben gekommen. Ihnen drohe die Ablösung vom Fall, wenn sie sich nicht daran halten sollten. Doch das interessierte Düvel nicht. Nicht mehr. Die Bedingungen hatten sich geändert. Die Staatsgewalt hatte ihre Macht verloren. Nur ihre Büttel mussten das noch lernen.
»Wollen wir nicht erst einmal auf die bisherigen Ermittlungsergebnisse eingehen«, unterbrach Küster den Disput.
Düvel warf Cassandra einen wütenden Blick zu, die mit einem eiskalten antwortete.
»Gut, nachdem das nun geklärt ist, können wir uns wohl zunächst vorstellen. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, bevor wir zu den wichtigen Punkten kommen«, fuhr Küster fort.
Als Letzter stellte sich Max Rabenfels vor. Der Mann war schlank und wirkte seriös. Ein besserer Ausdruck fiel Düvel zu der Erscheinung des Mannes im dunklen Anzug mit Krawatte und Aktentasche nicht ein. Weder beulten sich die Ärmel auf Höhe des Bizepses, noch zeichneten sich Baumstämme unter der Hose ab wie bei diesem Maus. Was für ein unpassender Name für solch einen Mann, schoss Düvel wiederholt durch den Kopf. Rabenfels schien so überhaupt nicht zu den beiden anderen zu passen. Verblüfft stellte Düvel fest, dass auch von Lucadou und Maus seiner Vorstellung aufmerksam lauschten.
»Vielen Dank, meine Herren – und Dame natürlich«, setzte wieder Küster ein. »Kommissar Düvel hat für Sie die wichtigsten Ergebnisse schriftlich zusammengefasst.« Er wies auf die dicken Mappen auf dem Tisch vor den Verbindungsleuten.
»Da ist alles drin, angefangen von Fotos der Fundorte, der Leichen bis zu den Obduktionsberichten. Und natürlich der Abschlussbericht mit der Einstellungsverfügung meines Vorgängers. Genosse Düvel, äh, ich meine, Kommissar Düvel wird die Ergebnisse zusammenfassen.«
Düvel fasste zusammen, was sie bisher wussten. Was ihm peinlich wenig vorkam. Was aber kein Wunder war, so schnell, wie die Akten geschlossen worden waren. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich über den möglichen Ablauf auf dem Brocken Gedanken zu machen. Es war fast so, als hätte niemand das heiße Eisen anfassen wollen. Was Düvel in gewissem Maße nachvollziehen konnte.
Aber er war durch und durch Kripobeamter und wollte diesen Fall lösen. Zumindest wollte er wissen, ob überhaupt ein Kriminalfall vorlag. Selbst für diese Feststellung hatte man ihm keine Zeit gelassen, sondern ihm geradezu hastig einen anderen Mordfall in Ostberlin zugewiesen.
Das sagte er aber nicht. Zu lange hatte man so etwas in der DDR nicht aussprechen dürfen. Selbst wenn die Grenze nun offen war, bedeutete das noch lange nicht, dass die alten Kader nicht mehr genug Macht besaßen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Auch wenn er sich vorhin nicht hatte bremsen können. Blöd war er nicht. Auch nicht selbstzerstörerisch. Also fuhr er mit dem fort, was er sagen durfte.
»Wir haben im Nebenraum das Zelt aufgebaut. Ich schlage vor, dass wir zum Zelt rübergehen, damit Sie es sich ansehen können.«
Allgemeinem Nicken folgte Stühlerücken.
In der Sporthalle des Polizeireviers angekommen, forderte Düvel Goßmann, den eigentlichen Leiter der MUK, auf, fortzufahren.
»Wir haben jetzt endlich das Zelt in Ruhe untersuchen können, nachdem wir die Weisung von oben erhalten haben, den Fall wieder aufzurollen.« Das war ungewöhnlich despektierlich für Goßmann, der sonst sehr zurückhaltend war mit Systemkritik. Düvel staunte. Vielleicht sollte er sich daran ein Beispiel nehmen. Was gab es denn schon noch zu verlieren?
»Das Zelt war eine überlange Eigenkonstruktion. Es war auf Stangen aufgespannt und mit Seilen befestigt.«
Während Goßmann beschrieb, was sie im Zelt wo vorgefunden hatten, wies er durch die bodentiefen Schnitte auf die entsprechenden Stellen.
Maus trat näher heran. »Sind das die Schnitte, durch die die Studenten das Zelt verlassen haben?«
»Ja. Wir vermuten, dass irgendetwas oder jemand mit einem scharfen Gegenstand die Seite aufgeschnitten hat, um in das Zelt zu gelangen.«
»Warum das denn?«, stellte von Lucadou die offenkundige, von Düvel erwartete Frage.
»Wenn wir das wüssten, Frau Kollegin«, das musste Düvel anbringen, damit die Hierarchie klar war, »hätten wir höchstwahrscheinlich die Lösung für diesen mysteriösen Fall.«
»Das kann nicht stimmen«, verkündete Maus, halb im Zelt kniend. »Ich bin zwar kein Experte, aber wenn Sie mich fragen, wurde das Zelt von innen aufgeschnitten.«
»Was?«, entfuhr es Düvel.
»Schauen Sie hier.« Maus wies auf die Kante des längsten Schnittes. »Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie direkt neben dem richtigen Schnitt erste zaghafte Schnittversuche. Kleine Risse, die nicht durch den Zeltstoff gingen. Ich kenne das. Der Stoff ist unglaublich widerstandsfähig. Man muss mit aller Kraft ran und ein wenig sägen, bis man das erste Loch hat. Danach geht es einfacher.«
Düvel und von Lucadou waren neben ihm in die Hocke gegangen und begutachteten andere Schnitte.
»Er hat recht«, ließ sich von Lucadou vernehmen. »Hier sieht man ganz deutlich Kerben neben dem Schnitt. Und es wurde wohl mehrfach angesetzt. Hier sind jede Menge kleiner Kratzer im Stoff.«
Düvel nickte bestätigend. Das warf ein neues Licht auf den Ablauf. »Das bedeutet also, dass die jungen Leute innen versucht haben, das Zelt aufzuschneiden, um an der Seite rauszukommen, oder?«
»Würde ich vermuten«, sagte Rabenfels. »Aber wieso sollten sie das tun und nicht einfach durch den Ausgang flüchten? War der Reißverschluss kaputt?«
Maus ging an das vordere Ende des Zeltes und zog den Reißverschluss mehrfach auf und zu. »Nö«, verkündete er.
»Also warum haben die Studenten dann diesen schwierigeren Weg gewählt?«
»Noch so eine Frage, die wir lösen müssen«, stellte Düvel fest. »Aber zunächst müssen wir das Zelt zum Gutachter bringen, ob das überhaupt stimmt, Ihr Fachwissen in Ehren, Herr Kollege.« Warum tat dieses »Kollege« nur so gut?, fragte sich Düvel.
Bevor er dazu kam, dieser Frage nachzugehen, fuhr Goßmann fort. »Auffallend war, dass sieben Schlafsäcke, die auf Isomatten lagen, zerknäult waren, zwei weitere aber lagen ordentlich ausgebreitet auf dem Boden. Da zwei der Opfer besser bekleidet waren als die übrigen Studenten, nämlich der ältere Mann Bernhard Zöllner und Nikolaus Thibeaux, gehen wir davon aus, dass sich die beiden, als das Zelt aufgeschnitten wurde, außerhalb befanden. Wir vermuten, dass sie das Zelt verlassen haben, um vorm Schlafen zu urinieren oder zu rauchen.« Goßmann machte eine Kunstpause. »Fragen hierzu?«
»Urinieren. Hübscher Ausdruck. Wo haben Sie den denn her?«, mokierte sich Maus.
Goßmann lief rot an und räusperte sich.
»Also weiter. Bleiben wir erst mal bei den Sachen, die wir gefunden haben. Außerhalb des Zeltes direkt vor dem Eingang haben wir einen Eispickel und in dessen Nähe die Jacke von Dannemann gefunden. In der Jackentasche befanden sich ein Taschenmesser und seine Brieftasche, in ihr ein Foto von Zara Kaufmann, ebenfalls eines der Opfer. Offenbar waren die beiden ein Paar. Auffallend fanden wir, dass die Sachen, die wir im Zelt gefunden haben, alle ordentlich aufgeräumt waren – bis auf die Schuhe. Die waren links vom Eingang einfach auf einen Haufen wild durcheinandergeworfen. In der Mitte des Zeltes rechts vom Eingang wurden noch zwei Paar Schuhe gefunden, dicke Schnürstiefel.«
»Ist es richtig, dass keiner der toten Studenten Schuhe anhatte?«, warf Rabenfels ein.
»Nicht ganz. Bernhard Zöllner, der Lehrbeauftragte, und Nikolaus Thibeaux trugen Filzstiefel, die perfekt für die sibirische Kälte am Brocken waren. Nicht fürs Wandern, aber um im Zelt und bei kurzen Strecken außerhalb warme Füße zu behalten. Wir sind der Meinung, dass sich die beiden, bevor im Zelt die Hölle losbrach, außerhalb des Zeltes aufgehalten haben. Alle anderen waren nur notdürftig bekleidet. Gerade so, als wären sie aus dem Schlaf gerissen worden und hätten keine Zeit gehabt, ihre Schuhe und Jacken anzuziehen. Die auch noch wild durcheinandergeworfen waren, sodass sie nicht leicht ihre eigenen Schuhe hätten finden können. Und das, obwohl alle anderen Sachen im Zelt sehr ordentlich aufgeräumt waren. Gibt es hierzu Fragen?«
Wieder schüttelten alle den Kopf, während sie in den Seiten ihrer Handakte blätterten.
»Gut, dann übergebe ich jetzt an meinen Kollegen Peter Weißer. Er als Kriminaltechniker hat sich mit den Schnitten im Zelt befasst.«
»Wo fang ich an? Also, wir alle hatten uns über die vielen Schnitte in der Zeltwand gewundert, als wir das Zelt gefunden hatten. Neben ganzen Bahnen, die auf der talwärts gelegenen Seite vertikal geschnitten waren und teilweise von der Zeltspitze bis zum Boden reichten, befanden sich auch diverse kurze Querschnitte horizontal in der Zeltwand oben. Ich zeige Ihnen das mal.«
Er wies auf sieben kurze glatte Öffnungen direkt unter dem Zeltfirst, alle zwischen fünfzehn und fünfunddreißig Zentimeter lang.
»Haben Sie eine Erklärung dafür? Irgendeine Idee?«, hakte von Lucadou ein.
Düvel verneinte an Weißers Stelle. »Darüber werden wir neu nachdenken müssen, nachdem nun im Raume steht, dass die Schnitte von innen stammen. Ich dachte bisher, dass der oder das, was auch immer die jungen Leute in die Flucht trieb, sie mit den kleinen Schnitten erschrecken wollte, bevor er oder es dann die großen Schnitte anbrachte. Aber das hat nach der neuen Theorie keinen Bestand.«
Von Lucadou nickte. »Das heißt also, dass sich sieben der toten Studenten im Zelt befanden, als irgendetwas passierte, und dass sie ihr Zelt aufschnitten und den Berg runtergingen. Die zwei anderen Toten waren irgendwo in der Nähe, bekleidet, gingen aber zusammen mit der Gruppe den Berg runter?«
»Wo sich Zöllner und Thibeaux aufhielten, wissen wir nicht. Vielleicht helfen dabei die Fußspuren weiter«, fuhr Düvel fort.
»Sie haben Fußspuren gefunden?«
»Ja, jede Menge. Dazu wollte ich gerade kommen.«
»Von wem? Den Studenten? Waren Spuren von Verfolgern zu sehen? Tierspuren? Sind die Leute den Berg runtergerannt?«, hakte diese Rambofrau wieder ein, bevor er loslegen konnte.
»Langsam, langsam. Kennen Sie sich aus mit Schnee im Mittelgebirge? Wohl eher nicht. Denn dann wüssten Sie, dass man darauf nicht rennen kann. Schon gar nicht ohne Schuhe in der Dunkelheit.«
»Danke für die Belehrung, Herr Kollege«, das letzte Wort besonders betont, »Düvel. Und nein, ich kenne mich gottlob nicht mit Schnee aus. Da werden Sie mir schon mehr erzählen müssen, damit ich das verstehe«, konterte von Lucadou.
Touché, dachte Düvel.
Staatsanwalt Küster schaltete sich ein. »Man ging davon aus, dass die jungen Leute vielleicht zu viel getrunken hatten und aus Spaß und Übermut diesen Unsinn veranstalteten. Und dass dann aus dem Unsinn tödlicher Ernst wurde.«
»Aber?«, hakte von Lucadou nach.
»Aber dann wurden die letzten vier Opfer gefunden. Und die sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob sie ein friedliches Ende im Kältetod gefunden hätten. Aber lassen Sie uns der Reihe nach vorgehen«, sagte Düvel.
Von Lucadou nickte unwillig. Dieser Frau ging offenbar nichts schnell genug. Nun, diesmal würden sie sich die Zeit nehmen, die sie brauchten, um alle Fakten vernünftig rüberzubringen.
»Die Fußspuren sind ein wichtiger Anhaltspunkt für die Ermittlungen«, fuhr Walter Goßmann fort.
»Wir haben lange darüber diskutiert, vor allem auch mit Wladimir Koletov, unserem Spurenleser, wie viele Menschen an diesem schicksalhaften Tag den Brocken runter unterwegs waren. Nach den Worten der Leute, die die ersten Leichen gefunden haben, gab es acht bis neun Fußspuren. Aber das sind Laien. Schauen Sie bitte auf Blatt zehn der Akte das Bild rechts unten. Das ist ein Foto der Fußabdrücke, wie wir sie vorgefunden haben.«
»Wie viele Fußabdrücke haben Sie denn genau gefunden?« Von Lucadou ließ nicht locker. Sie ging ihm langsam wirklich richtig auf die Nerven, stellte Düvel fest.
»Das wissen wir nicht genau. Nicht alle Abdrücke waren gut erhalten, und dann waren noch die Spuren der Studentengruppen da, die die Leichen gefunden haben.«
»Was denn, Sie haben Studenten da oben rumtrampeln und die Spuren zerstören lassen?«, fragte von Lucadou.
»Sehr geehrte Frau Kollegin«, sagte Düvel mit beißender Stimme. Es reichte ihm, als unfähig hingestellt zu werden. »Das war, bevor wir am Fundort der Leichen eintrafen. Als wir endlich da waren, waren jede Menge Fußabdrücke zu sehen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie erhöht und nicht eingedrückt in den Schnee waren. Und solche, die wie ganz normale Eindrücke aussahen. Kollege Goßmann hat sofort nach dem Fund der Leichen einen Spurenleser hinzugezogen. Wir alle sind schließlich keine Trapper, sondern ganz normale Kriminalbeamte. Da war es aber schon zu spät. Die Studentengruppen aus Clausthal-Zellerfeld und Halle-Wittenberg waren so hektisch, als sie das Zelt gefunden hatten, dass sie den Spuren einfach folgten. Zum Teil auf ihnen gingen. Wir haben die fotografiert, die noch klar zu erkennen waren. Lassen Sie uns in den Besprechungsraum gehen, da können wir Ihnen die Fußabdrücke auf der Leinwand vorführen.«
Alle hatten den Gang in den kleinen überalterten und hart bestuhlten Besprechungsraum für eine kurze Pause genutzt.
»Rainer, wirf doch mal den Diaprojektor an«, wies Düvel den Untersucher der MUK an.
»Diaprojektor? Gibt es denn hier keinen Beamer?«, warf Maus ein. Bisher war er Düvel sympathisch erschienen. Das änderte sich gerade.
»Nein, so etwas gab es in unserem sozialistischen Deutschland nicht für normale Morduntersuchungskommissionen, sehr geehrter Herr Kollege.« Düvel registrierte das Zucken des Westdeutschen. Na also, man konnte sie doch provozieren. Von Lucadou hatte den rechten Mundwinkel zu ihrem schiefen Grinsen hochgezogen.
»Weiter, Walter«, wies er Goßmann an.
Der nickte anerkennend. Mit einem langen Stock, der früher einem Lehrer für das Zeigen auf der Tafel gedient haben mochte, deutete Goßmann auf das Foto auf der Leinwand.
»Die Mitglieder der Gruppe gingen in einer Reihe mit einem großen Mann, der hinter ihnen ging. Seine Fußabdrücke bedeckten teilweise die Fußabdrücke der vor ihm Gehenden. Auf diesem Foto erkennen Sie verschiedenfarbig markierte Abdrücke. Bei den blau umkreisten handelt es sich um männliche Fußabdrücke mit nicht sehr weiten Schritten. Die gelb umrandeten sind kleine weibliche Fußabdrücke. Rot sind zwei überlappende männliche Fußabdrücke und grün größere männliche Fußabdrücke, die auf dem Fußweg des Mädchens verlaufen, als ob diese Person hinter der Gruppe hergehen würde.« Goßmann räusperte sich.
»Einige aus der Studentengruppe behaupteten, dass die Fußabdrücke direkt am Zelt begannen, andere sagten aus, dass sie ein wenig seitlich des Zeltes angefangen hätten. Um das Zelt herum gab es keine Fußspuren. Als die Dannemann-Gruppe den Schnee für das Zelt wegschaufelte, wurde er locker rundherum gestapelt. Später wurde dieser Schnee vom Wind verweht und bedeckte alle Spuren. Hat Koletov gesagt. Aber dreißig oder vierzig Meter weiter unten waren sie sehr gut erhalten.« Bernhard klickte zum nächsten Dia.
»Wir folgten diesen Abdrücken vom Zelt in Richtung einer Zeder, die sich wegen ihrer Größe deutlich von den anderen Bäumen in der Umgebung abhob. Unter ihr haben wir die ersten beiden Leichen entdeckt.«
Ein weiterer Klick brachte eine Landkarte mit in rot eingezeichneten menschlichen Figuren auf die Leinwand.
»Zur Veranschaulichung: Sie sehen oben links das Zelt, die Zeder ist etwa fünfzehnhundert Meter entfernt. Dazwischen verteilt haben wir Zara Kaufmann, neunhundert Meter vom Zelt entfernt, hundertfünfzig Meter unterhalb von ihr Frank Kempler, weitere hundertfünfzig Meter unter ihm Ingo Dannemann gefunden. Alle lagen mit dem Kopf in Richtung Zelt.« Bernhard hatte auf die jeweils eingezeichneten Figuren gewiesen.
»Dannemann lag gute dreihundert Meter oberhalb der Leichen von Lars Andersen und Oliver Seelmann unter der Zeder«, fuhr er fort.
»Diese Leichen waren nur spärlich bekleidet. Andersen und Seelmann hatten am wenigsten an. Wir gehen davon aus, sozusagen als Arbeitshypothese, dass die zwei unter der Zeder zuerst starben. Offenbar haben die anderen Überlebenden versucht, deren Kleidung zur eigenen Rettung zu verwenden. Aber ich greife vor. Das ist der Part von Genosse, äh, ich meine Kollege Düvel. Gibt es noch Fragen zu den Fußabdrücken oder Fotos?«
Alle winkten ab.
Küster erhob sich. »Es ist spät geworden, und die weiteren Berichte dauern länger. Wir haben uns überlegt, dass Sie sicherlich gerne den Fundort mit eigenen Augen besichtigen würden, auch wenn sich dort inzwischen dank des Sturms viel verändert hat. Wenn Sie also einverstanden sind, schlagen wir vor, dass Sie in Schierke, dem nächstgelegenen Ort zum Tatort, übernachten. Dort gibt es einige sehr schöne Hotels. Wir haben für Sie im ›Heine‹ gebucht, einem der besten Hotels in unserem sozialistischen Staat. Dort haben wir auch einen Sitzungsraum reserviert, in dem wir morgen die weiteren Details besprechen können. Vielleicht können Sie heute Abend nach einem gemeinsamen Abendessen in Ruhe die Obduktionsberichte lesen, damit wir morgen ohne Zeitverlust wieder einsteigen können, einverstanden?«
***
Cassandra war nicht einverstanden gewesen, doch was blieb ihr übrig? Sie hatte geglaubt, dass sie in ein oder zwei Tagen die Akten durchgehen und den Fall lösen könnten. Waren doch einfach nur Stümper, diese Ost-Vopos.
Aber nach den Berichten zeichnete sich ab, dass der Fall, so er denn einer war, woran sie allerdings schon längst nicht mehr zweifelte, komplexer war als vermutet. Wenigstens hatten diese Ossis die Fakten verständlich aufbereitet. Die technischen Methoden waren allerdings vorsintflutlich. Dias. Empört schnaufte Cassandra. So was bereitete man doch in PowerPoint vor. Wenigstens hatten sie das Zelt aufgebaut. Das hatte ihr den Schrecken der Nacht nahegebracht.
Anderthalb Stunden hatten sie für die Fahrt gebraucht. Der Wartburg dieses Kommissar Düvel mit der MUK führte sie im Schneckentempo an. Dahinter Rabenfels, der so gar nicht in die Rolle des Verbindungsbeamten passte, in dem noch unpassenderen Porsche Targa. Als Schlusslicht sie mit Maus.
»Was hältst du von diesen Ossis?«, fragte sie Des, wie sie Maus unter vier Augen nannte.
»Dieses Düvelchen hat es in sich.«
»Sind doch alles Amateure, diese Ostdeutschen«, schnaubte Cassandra verächtlich.
»Der Staatsanwalt auf jeden Fall. Wie sein Vorgänger. Aber die MUK scheint doch ganz ordentlich ermittelt zu haben. Ich versteh nur nicht, wieso die so schnell klein beigegeben haben, als der Staatsanwalt die Akte dichtgemacht hat.«
Cassandra zuckte die Schultern. »Haben eben kein Rückgrat, diese Typen. Woher sollen sie das auch haben in so einem Land? Alles Buckler und Schleimer.«
Sie staunten nicht schlecht über die angemuffte Pracht des Grandhotels Heinrich Heine in Schierke. Küster hatte ja angekündigt, dass man den westdeutschen Beamten ein besonderes Hotel reserviert habe, aber mit so was hatte sie nun gar nicht gerechnet. Ein imposanter Prachtbau aus der Zeit der Jahrhundertwende erhob sich vor einem dichten Wald auf einer Anhöhe. Der Sockel bestand aus gemauerten Natursteinen, darauf in Weiß gehalten das erste Stockwerk, gekrönt von zwei weiteren Etagen in Dunkelbraun. Der pseudomoderne Eingangsbereich mit vier Säulen wurde durch den Schriftzug »HOTEL HEINRICH HEINE« gekrönt. Diverse Anbauten links und rechts vergrößerten den ohnehin stattlichen Bau.
»Schierke liegt an der innerdeutschen Grenze, im Sperrgebiet also. Zugang bekam bis vor Kurzem nur, wer eine Genehmigung unserer zuständigen Organe hatte. Hier durfte nur unsere Elite, also Parteifunktionäre, Intelligenzler und Kulturschaffende, Urlaub machen. Für uns Normalsterbliche war das ein unerreichbarer Ort.« Küster starrte Cassandra mit großen, erwartungsvollen Augen an.
»Die Leute, die kamen, mussten viel Geld bezahlen. Achtzig bis hundertzwanzig DDR-Mark kostet eine Nacht im ›Heine‹ – eine immense Summe für uns. Trotzdem war das Hotel immer ausgebucht. Monatlich haben sie bis zu fünfhundert Absagen schreiben müssen, hat mir der Portier erzählt«, berichtete er ihr, obwohl auch alle anderen zuhörten.
Cassandra fragte sich, was er von ihr erwartete. Ihr fiel keine passende Reaktion ein. Also schaute sie nur einfach zurück.
Enttäuscht fuhr Küster fort: »Aber seit der Wende kommen nur noch neugierige Westler. Unsere Bürger, die noch Geld haben, sind jetzt im Ausland unterwegs.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Na ja, so komme ich wenigstens auch mal hier rein.« Er zückte eine uralte Spiegelreflexkamera und begann Fotos der Eingangshalle zu schießen. »Für meine Kinder …«
Das Zimmer war denkwürdig. Cassandra war dank ihrer Auslandseinsätze wahrlich keinen Luxus gewohnt. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob das hier Luxus war. Es war plüschig. Das war klar. Aber das Bad stammte garantiert noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, und das Bett hing bis auf den Boden durch. Die Bettdecke war so dick wie ihre in einen Bettbezug eingezogene Wolldecke in Colombo. Dafür waren die roten Samtvorhänge umso dicker. Keinen Lichtstrahl ließen sie ins Zimmer.
Nun denn, sie musste sich beeilen. In einer Viertelstunde trafen sich alle im Restaurant. Cassandra war gespannt. Vor allem auf Rabenfels, der ihr so fremd war wie Düvel, dessen Name nichts Gutes verhieß.
Das Restaurant war ein Tanzrestaurant namens Dachsbau mit bunten kubistischen Wandgemälden.
»Die stellen Motive aus Heines ›Harzreise‹ dar«, erläuterte Küster verzückt und wieder fotografierend. »Das normale Restaurant ist im Moment geschlossen. Der Chefkoch ist letzte Woche in den Westen abgehauen. Hatte ein Angebot von einem Drei-Sterne-Restaurant in Bayern, hat mir sein Stellvertreter erzählt. Aber ich denke, das hier ist gut genug für uns, was?«
Die Verbindungsbeamten sahen sich an. Nur Cassandra und Maus nickten. Rabenfels war wohl Besseres gewohnt.
»Interessant«, zwang sich Cassandra ab. Sie wollte Küster nicht erneut frustrieren. Wegen der zukünftigen Zusammenarbeit. Ihr war es herzlich egal, wo und wie sie untergebracht war und was es zu essen gab. Küster war das offenbar zu wenig. Verschnupft sah er zu Düvel, wohl in der Hoffnung, dass der als DDR-Bürger dieses Ambiente zu schätzen wusste. Doch auch Düvel nickte nur.
Die Essensauswahl war eingeschränkt. Deftiger Harzer Käse mit selbst gemachtem Schmalz und Schwarzbrot oder Rostbrätl mit Zwiebeln, Butterbohnen und Röstkartoffeln standen auf der Karte. Cassandra entschied sich für den Rostbrätl in Unkenntnis, was das eigentlich sein sollte.
»Ist gerade ausgegangen«, verkündete der Kellner, der auf die siebzig zuging und dem Cassandra im Bus ihren Sitzplatz angeboten hätte.
Sie sah sich verblüfft um. Es war noch früh und keine weiteren Gäste anwesend.
»Gut, dann eben den Harzer Käse. Und ein Bit.«
»Ein bitte was?«
»Na, ein Bit. Noch nie gehört? Bitte ein Bit?«
»Nee. Und was soll das sein?«
»Na, ein Bier.«
»Haben wir nicht.«
»Was? Bier oder Bit?«
»Wir haben Wernesgrüner.«
»Und was soll das sein?«
»Unser ostdeutsches Bier.«
»Aha. Ein gutes westdeutsches haben Sie nicht?«
»Nee.«
»Na, dann bitte ein Wernesgrüner.«
Ihre einzige Leidenschaft außer ihrem Job, einem interessanten Liebhaber und ihrem Motorrad war Bier. Ein Bitburger. Eiskalt, schäumend gezapft. Wenn sie schon mal in Deutschland war, wollte sie so eins. Das Essen war ihr egal. Nicht aber das Bier. Von Wernesgrüner hatte sie noch nie gehört. Und so hätte es nach dem Geschmack auch bleiben können.
Alle hatten den Harzer Käse bestellt. Kein Wunder, war doch die Auswahl auf null reduziert. Rabenfels riskierte dazu die »Romanze in Rouge«, die Küster als Besonderheit empfohlen hatte, ein in der DDR gekelterter Rotwein. Alle anderen hatten sich Cassandras Bierbestellung angeschlossen.
Das Restaurant ähnelte mehr einer Diskothek mit seiner blauen Decke und den Säulen, die die Tanzfläche einrahmten. Die Möbel bestanden aus bequemen Sesseln und Tischen, die ihre Nierenform nur schwerlich unter schneeweißen Tischdecken verbargen. Spotlights und eine große Discokugel über der Tanzfläche vervollkommneten das Ambiente. Cassandra schauerte, während Küster verzückt seine Kamera nicht liegen lassen konnte.
Es war spät geworden. Für ihre Verhältnisse. Und feuchtfröhlich. Rabenfels hatte sich trotz seines biederen Outfits als lustig und unkonventionell erwiesen. Seine Zoten aus Westberlin waren amüsant gewesen, auch wenn die Ostdeutschen sich darüber zu wundern schienen, dass einer aus der Gruppe der Verbindungsbeamten nicht aus Deutschland herausgekommen war. Cassandra und Maus hatten sich mit Erzählungen zurückgehalten, um Rabenfels nicht zu outen. Für den nächsten Abend, so sie denn so lange bleiben müssten, würden sie ihn briefen müssen.
Cassandra konnte nicht schlafen. Das Bett war viel zu weich, sie bildete sich sogar ein, dass ihre Schulter den Fußboden berührte. Draußen vor dem Fenster war es stockdunkel. Obwohl sie das Fenster so weit wie möglich aufgerissen hatte, kam keine Luft rein. Unter der zu dünnen Decke war ihr bitterkalt. Sie seufzte, nachdem sie sich zum gefühlten tausendsten Mal herumgewälzt hatte. Dann gab sie auf. Fragte sich, ob sie wohl noch eins dieser denkwürdigen Wernesgrüner bekommen würde, schließlich war noch nicht einmal Mitternacht. Zog sich an und ging hinunter.
Der Dachsbau, der auch als Bar fungieren musste, war leer bis auf den Barkeeper und Düvel. Cassandra wollte auf dem Absatz kehrtmachen, besann sich jedoch in Anbetracht der drohenden schlaflosen Nacht und ging zum Hocker neben Düvel.
»Noch frei?«
Düvel sah sich verblüfft zu ihr um. »Sieht so aus …«
»Was dagegen?«
»Aber bitte doch, Frau Kollegin.«
Cassandra schwang sich auf den runden Sitz des im Boden festgeschraubten Barhockers.
»Gemütlich hier.«
»Finden Sie?« Düvel warf ihr einen kritischen Blick zu.
»Na ja, immer noch besser als mein Zimmer. Was treibt Sie hier runter?«
»Der Falkner.«
»Wer ist das?«
»Was, Frau Kollegin, was. Das ist unser feinster DDR-Whisky. Halten Sie mit?«
»Aber klar doch.« Sie gab dem Barkeeper ein Zeichen.