Читать книгу Der Teufel vom Brocken - Eva-Maria Silber - Страница 9

DREI

Оглавление

Montag, 18. Dezember 1989

Die beiden Studenten lagen dicht beieinander, der eine auf dem Rücken, der andere auf dem Bauch. Sie waren nur leicht bekleidet, viel zu leicht für die eisigen Temperaturen. Beiden fehlten die Schuhe.

Der auf dem Rücken liegenden Leiche fehlte die Nasenspitze. Augen und Mund waren leicht geöffnet, ihr rechter Arm war über den Kopf erhoben, ihr linker ruhte auf ihrer Brust in Herzhöhe. Ihr rechtes Ohr, ihre Lippen und Nase waren mit Blut bedeckt, und an ihrer linken Hand war der Mittelfinger blutig.

Das linke Bein war über den linken Oberschenkel der auf dem Bauch liegenden Leiche abgewinkelt. Der Gesichtsausdruck und die Haltung des jungen Mannes waren friedlich – sah man von dem verzerrten Mund ab.

Von der anderen Leiche war nur der von Schnee befreite Rücken samt einem karierten blauen kurzärmeligen Hemd zu erkennen.

Tomas Düvel wandte sich von den beiden Toten ab und holte tief Luft. So jung und schon tot. Studenten, die sich vielleicht auf die Semesterferien über Weihnachten gefreut hatten. Vermisst von ihren Eltern und Freunden.

Er war heute Morgen als Unterstützung für die einheimische Morduntersuchungskommission, kurz MUK, aus Magdeburg mit seinem Wartburg aus Halberstadt angereist. Der Fall der verschwundenen westdeutschen Studenten und der Fund der beiden Leichen auf DDR-Staatsgebiet hatte die neue Führung in Aufruhr versetzt. Also hatte man ihn abkommandiert. Auch unter normalen Umständen hätte man ihn wohl zu diesem Fall abgeordnet. Schließlich gehörte er zu den zwanzig qualifiziertesten Kriminalisten mit Offiziersstatus in der Republik, die zur Verstärkung von normalen MUKs für solche Fälle bereitgehalten wurden.

Die Anreise hatte sich alles andere als einfach gestaltet. Es gab einen Fahrweg auf den Brocken. Der führte aber nur bis zur Grenzmauer aus Beton und endete gute zwei Kilometer vor der Fundstelle. Hubschrauber hatte man nicht einsetzen wollen, um keine Spuren wegzublasen. Außerdem gab es am Fundort keine ebene Fläche, auf die er hätte aufsetzen können. Für den Abtransport der Leichen sollte später einer auf dem Brockenplateau im ehemals gesperrten Bereich landen, wie man ihm angekündigt hatte.

Düvel war körperlich topfit, aber das kalte Wetter setzte ihm mächtig zu. Für diese Temperaturen war er einfach nicht richtig angezogen. Man hatte ihm keine Zeit gelassen, nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen. Der Einsatzbefehl war eindeutig gewesen. Sein dünner Anorak war ein schlechter Witz bei dem eisigen Wind, und seine Füße steckten in ungefütterten Halbschuhen. Nach einem halben Kilometer im Schnee waren sie bereits durchnässt gewesen. Lange würde er hier oben nicht durchhalten.

Er drehte sich zu den Mitgliedern der Morduntersuchungskommission um. Ihr Leiter Walter Goßmann, ein fähiger Mann in den Fünfzigern, hatte seine Leute fest im Griff. Doch diese beiden Leichen schienen Untersucher Rainer Bernhard und den Kriminaltechniker Peter Weißer zu überfordern. Nicht der Anblick der Leichen war es, was sie quälte, sondern die Umstände und die Tatsache, dass weitere sieben junge Leute noch vermisst wurden und wahrscheinlich ebenfalls hier irgendwo lagen.

Entgegen der allgemeinen Stimmung in der Volkspolizei waren die suchenden Polizisten, eine aus Halberstadt entsandte Hundertschaft, offensichtlich höchst motiviert. Was wohl auch daran lag, dass sie sich nicht in den Monaten zuvor an den Massenverhaftungen bei den immer größer werdenden Demonstrationen hatten beteiligen müssen. Noch vor zwei Monaten, als die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Leipzig, Halle und Ostberlin ihren Höhepunkt erreicht hatten, hatten die Vopos hart zugeschlagen. Unverhältnismäßig hart, wie Düvel fand. Und nicht nur er. Gerade die Einsätze gegen die friedlichen Demonstranten in Leipzig und Berlin hatten alle empört und das Feuer weiter geschürt, das zum Zusammenbruch des Gewaltmonopols des Staates geführt hatte. Mit dem politischen Legitimitätsverlust der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland war ein dramatischer Autoritätsverlust der Volkspolizei einhergegangen.

Das hatte die Polizisten zutiefst verunsichert. Ihre Aufgaben nahmen die einstigen »Büttel der SED«, wie sie noch immer von den Bürgern genannt wurden, nur noch oberflächlich wahr. Eine Art rechtsfreier Raum war dadurch entstanden – der wilde Osten. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – das schien das Motto der Vopo in letzter Zeit zu sein.

Das machte auch die Arbeit der MUKs schwer. Neben der Angst, was mit ihren Jobs werden würde, mussten sie sich mit demotivierten Polizisten rumschlagen.

Düvel sah sich um. Hier war es gottlob anders. Die Vopos stocherten konzentriert im Schnee.

»Weiß man schon, um wen es sich bei den Toten handelt?«, fragte er Goßmann.

»Der auf dem Rücken Liegende ist Lars Andersen. Einige der Studenten, die die Leichen gefunden haben, waren mit ihm in verschiedenen Kursen an der Uni und haben ihn erkannt. Den zweiten Toten haben wir noch nicht umgedreht. Wir wollten erst auf unsere Ausrüstung und Sie warten. War gar nicht so einfach, alles hierherzuschaffen. Wir mussten alles herschleppen.« Erschöpft schüttelte er den Kopf. »Aber das wissen Sie ja.«

Düvel nickte.

»Der Student da drüben«, er wies auf einen schlaksigen blonden jungen Mann, der wenige Meter entfernt an einem Baum lehnte, ähnlich grün im Gesicht wie die Tannennadeln hinter ihm, »meint, in ihm Oliver Seelmann erkennen zu können.«

Düvel inspizierte den auf dem Rücken liegenden Toten genauer. Auffallend waren die fast nackten Beine. Um sein rechtes war eine weiße aufgerissene dünne lange Unterhose geschlungen, während das andere Bein nackt auf der neben ihm liegenden Leiche ruhte. Sein linker Fuß steckte in einer braunen Socke, der andere war nackt. Die fehlende Socke glaubte Düvel halb verbrannt neben dem Lagerfeuer nur wenige Meter entfernt gesehen zu haben. Die Haut des linken Schienbeines war blutig aufgerissen. Das karierte Hemd war bis zur Brust hochgeschoben, über der die linke Hand schwebte, die rechte war über seinen Kopf erhoben. Auf dem Handrücken erkannte Düvel weitere tiefe Hauteinrisse. Auch die Haut des Zeigefingers wies Risswunden auf.

»Danke, das ist hilfreich. Aber jetzt könnt ihr ihn wegbringen und den anderen umdrehen. Fotos habt ihr gemacht?«

Weißer nickte.

»Vorher sollten wir die Leute, die nicht zu uns gehören, aber wegschicken.«

Unter Murren zogen sich die Studenten zurück. Allerdings nur so weit, dass sie die Opfer noch sehen konnten. Eigentlich hätte Düvel das bei einer Tatortuntersuchung niemals zugelassen. Aber unter diesen unwirklichen Umständen und in Anbetracht der Tatsache, dass die Gruppe mehrere Stunden allein mit den Toten gewesen war, tolerierte er ihre Anwesenheit. Mehr Schaden als schon geschehen konnten sie nicht anrichten.

Ein älterer Mann aus der Studentengruppe trat auf ihn zu.

»Leiten Sie die Untersuchung?«

Düvel nickte.

»Berger, Professor aus Clausthal-Zellerfeld. Ich bin mit dem Suchtrupp aus dem Westen gekommen. Sagen Sie, unsere Studenten hier«, er wies auf die beiden Toten, »sind doch wohl erfroren, richtig?«

»Das weiß ich noch nicht. Wir stehen ganz am Anfang. Zur Todesursache kann ich wirklich noch nichts sagen.«

»Das verstehe ich ja, sicher. Klar. Aber sehen Sie, meine Studenten sind am Durchdrehen. Vor allem nachdem einer von Ihren Polizisten, also von der Volkspolizei, so heißt die doch?«

Wieder nickte Düvel.

»Also einer von denen hat gesagt, dass die Leichen so aussähen, als wären sie dem Yeti in die Hände gefallen. Natürlich glaube ich das nicht«, schob er nach. »Aber die Studenten sind völlig durch den Wind. Können Sie mir irgendwas sagen, damit ich sie beruhigen kann?«

Düvel schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich verstehe Sie ja. Aber wenn ich jetzt was Falsches sage, ist Ihnen auch nicht geholfen. Aber eins weiß ich ganz sicher: Hier oben gibt es keine Yetis. Das können Sie ihnen ausrichten.« Fast hätte er bei seinen Worten grinsen müssen. Doch ein Blick auf die verheulten und roten Gesichter der jungen Leute verscheuchte das Grinsen sofort.

»Na gut. Aber können Sie mir wenigstens sagen, wann ich meine Studenten wegbringen kann? Das ist nichts für sie.«

Düvel lagen harte Worte auf der Zunge. Der Anblick der Leichen war auch nichts für die jungen Volkspolizisten, nicht älter als die Studenten. Niemand machte sich Gedanken darüber, wie sie das verarbeiten würden. Aber es half ja nichts.

Er wandte sich an Weißer. »Sind alle Namen und Anschriften aufgenommen worden?«

Weißer nickte.

»Gut, dann können Sie die Studenten gleich wegbringen. Aber vielleicht kann vorher noch dieser Tote von Ihnen identifiziert werden. So lange müssen Sie noch bleiben.«

Der Tote ließ sich nicht bewegen. Hilflos sahen Bernhard und Goßmann zu ihrem Chef, der ratlos die Schultern hochzog. »Festgefroren. Könnten Sie …«

Düvel trat hinzu und fasste mit an. Mit einem leichten Schnappen löste sich der Tote und rutschte von der anderen Leiche. Die Studenten stöhnten auf, zwei rannten an einen Baum, um sich zu übergeben, und ein Mädchen drehte sich aufheulend weg.

Im Gegensatz zu Lars Andersen, dessen Unterhose nur noch in Fetzen um dessen Beine geschlungen war, war die lange Unterhose der auf dem Bauch liegenden Leiche intakt. Zumindest bis zum Knie. Das untere Ende des linken Hosenbeins wies Verbrennungen auf, und die Socke am Fuß war zerrissen. Auch am anderen Fuß befand sich eine Wollsocke, darüber eine dünnere Socke.

Gemeinsam drehten sie den Toten um. Der Nase fehlte die Spitze. Nur noch ein ausgefranster blutiger Stummel war zu sehen. Beide Arme des jungen Mannes waren über seinem Kopf ausgestreckt und seine Augen geschlossen. Auf seiner rechten Gesichtshälfte konnte Düvel eine zu festem Schaum gefrorene graue Flüssigkeit erkennen. Die Unterarme zeigten das grünlich verfärbte Venennetz der oberflächlichen Hautgefäße. Bei ihm hatte trotz der niedrigen Temperaturen die Fäulnis eingesetzt.

Düvel winkte den schlaksigen jungen Mann zu sich, auf den Goßmann hingewiesen hatte.

»Kennen Sie den Toten?«

Der brachte nur ein Nicken zustande. Nachdem er tief Luft geholt hatte, fügte er leise hinzu: »Ja, das ist Oliver.« Dann drehte er sich hastig weg, stellte sich mit der Stirn an eine Tanne und würgte. Düvel konnte es ihm nicht verdenken.

»Haben wir was zum Abdecken der Leichen hier?« Düvel mochte die toten jungen Männer nicht länger den Blicken der Umstehenden aussetzen.

Er richtete sich auf und schritt zu den Resten des Lagerfeuers. Viel konnte er nicht daraus erkennen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals ein Lagerfeuer entzündet hätte. Und wenn, hätte ihm das hier auch nicht weitergeholfen. Hilflos blickte er sich um.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, holte Goßmann einen alten Mann, der die ganze Zeit am Rande der Gruppe gestanden hatte, heran. »Das ist Wladimir Koletov. Er kommt ursprünglich aus Russland und war dort Wildhüter. Er kennt sich mit solchen Feuern und in der Wildnis aus. Deshalb habe ich ihn mitgebracht. Erzähl mal, Wladimir, was du mir vorhin schon gesagt hast.«

Koletov, dessen Gebiss aus schwarzen Stummeln bestand, räusperte sich und spuckte grüne Galle aus.

»In der Nähe vom Feuer liegen zehn kleine Tannenzweige, die mit einem finnischen Messer abgeschnitten wurden. Die wurden aber nicht für das Feuer verwendet. Dafür wurden wohl die unteren trockenen Äste von der Zeder abgeschnitten. Die nicht zu dicken. Einige davon liegen neben dem Feuer, andere sieht man noch als Reste darin. Angekokelt.«

Düvel schaute sich um. Einige Tannenzweige entdeckte er in der Nähe des Feuers. Sie waren ihm bisher nicht aufgefallen. »Was meinen Sie, wofür die waren?«

»Vermutlich, um nicht auf dem Schnee stehen zu müssen. So ohne Schuhe«, meinte Koletov.

Klang logisch, fand Düvel. »Habt ihr bei den beiden ein Messer gefunden?«, fragte er in Richtung Goßmann.

»Außer den Fetzen am Leib hatten die nichts bei sich.«

Koletov kniete sich hin und stocherte mit einem Stöckchen in den Resten des Feuers.

»Die haben ein ziemlich gutes Feuer gemacht. Es wird bestimmt mindestens anderthalb Stunden gebrannt haben. Sehen Sie diese Zweige?« Er deutete auf Äste, die zur Hälfte verbrannt waren.

»Von der Zeder?«, riet Düvel. Sie waren gute acht Zentimeter dick und fast durchgebrannt.

Koletov nickte und richtete sich auf.

»Außerdem sind im Umkreis von zwanzig Metern um das Feuer junge Tannen mit einem Messer gekappt worden. Ich hab mindestens zehn solcher Schnittstümpfe gesehen. Aber ich habe keine der abgeschnittenen Spitzen entdeckt außer einer.« Er wies auf eine Tannenspitze dicht neben den beiden Toten.

»Die wurden bestimmt nicht dafür benutzt, das Feuer zu erhalten«, fuhr Koletov fort. »Kein gutes Brennholz. Außerdem liegen hier ziemlich viele trockene Zweige und Materialien rum. Wäre dumm, dann die Tannenspitzen zu nehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Um die Bäume da hinten herum«, er wedelte mit der Hand in Richtung einiger kahler Laubbäume, »habe ich die Spuren von mehreren Menschen entdeckt. Jedenfalls ganz sicher von mehr als zweien. Die haben dort Feuerholz gesucht, möchte ich meinen.«

»Mehrere angekokelte Wollsocken liegen um das Feuer verstreut. Dann haben wir noch ein Frauentaschentuch gefunden, das an mehreren Stellen durchgebrannt ist, und einige Fragmente von Wollkleidung. Aber nicht gefunden haben wir die eigentlichen Kleider der beiden Toten. Ach ja, und dann haben wir bei dem Feuer noch die Manschette eines dunklen Pullovers entdeckt. Die lag aber nicht bei den Leichen, sondern ein Stück entfernt. Die Stelle haben wir markiert. Und außerdem fanden wir etwas Geld, rund acht Mark«, ergänzte Goßmann.

»Schauen Sie sich mal die Zeder an«, forderte ihn Koletov auf.

Düvel betrachtete den Nadelbaum, unter dem das Lagerfeuer gebrannt hatte, genauer. Alle niedrigen Äste, die sich in Reichweite seines Armes befanden, waren vollständig abgebrochen oder abgeschnitten.

»Solche Äste sind extrem schwer abzubrechen, selbst wenn man sich mit dem ganzen Körpergewicht an sie hängt. Außerdem muss jemand auf den Baum geklettert sein und den Zweig da oben«, Koletov wies auf einen am Ende glatten Stumpf in drei Metern Höhe, »abgeschnitten haben. Darüber die Äste sind wieder abgebrochen. Aber nur auf der Seite des Baumes, die Hang und Zelt zugewandt ist. Da ist kein einziger Zweig mehr. Schauen Sie nur.«

Düvel nickte.

»Ich denke, dass die zwei da«, Koletov wies auf die beiden Toten, »hochgeklettert sind, um nachzusehen, was beim Zelt los ist. Dafür haben sie den dicken Zweig abgeschnitten. Als das nicht reichte, weil es nicht hoch genug war, sind sie höher geklettert und zusammen abgestürzt. Das würde erklären, wieso so dicke Zweige abgebrochen sind.«

***

Es war ein beschissener Tag gewesen, randvoll mit Frustration, verbrannt schmeckendem Malzkaffee aus Thermoskannen und zu Eis erstarrten Füßen. Die Einheiten der Bereitschafts- und Schutzpolizei stocherten mit langen Stöcken in Schneewehen auf der Suche nach den restlichen Mitgliedern der verschwundenen Wandergruppe. Die lautstarke Verständigung unter ihnen trug nicht dazu bei, dass sich die MUK bei ihrer Arbeit konzentrieren konnte. Düvel hoffte, dass sie nicht fündig würden. Dabei war die Hoffnung, wenigstens ein paar dieser jungen Menschen lebend zu finden, bereits vor einer Woche gen null geschrumpft.

Auch der Zustand des Zeltes und seines Inhaltes verhieß nichts Gutes. Wieso war es aufgeschlitzt, während der Reißverschluss des Zelteingangs ordentlich verschlossen war, worauf ihn Koletov aufmerksam gemacht hatte. Der Mann war unbezahlbar.

Und was hatte es mit den nackten Füßen und der spärlichen Kleidung der beiden Toten auf sich?

Ein Blick in das Zelt hatte gezeigt, dass jede Menge Schuhe drin lagen. Und dann die vielen Abdrücke von nackten oder mit Socken bedeckten Füßen bis hier zu dem Fundort der Leichen. Leider hatten die Studenten bei ihrer Suche einige in ihrem Eifer zerstört. Zuoberst konnte man ein paar beschuhte Abdrücke erkennen. Als sei der ersten Gruppe eine Person gefolgt. Das hatte Koletov ihm berichtet. Ohne ihn wären sie blind gewesen.

Düvel seufzte. Es würde ihn wundern, wenn das einer der noch vermissten sieben überlebt hätte.

Doch er war eine alte Unke, das war ihm bewusst. Immer nur alles schwarzsehen. Was wohl einer der Gründe gewesen war, warum seine Frau bereits zwei Tage nach der Grenzöffnung ohne ein Wort des Abschieds heimlich gen Westen abgehauen war. Als er am nächsten Morgen nichts ahnend von einem nächtlichen Einsatz nach Hause gekommen war, waren nur seine Töchter Ina und Elke verstört allein zu Hause gewesen. Noch immer wusste er nicht, wo seine Frau war und wie er den Alltag mit seinen zwei kleinen Mädchen bewältigen sollte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte er gerufen werden, und wer sollte dann auf die Kleinen aufpassen? Nicht immer konnte Frau Schulze, seine Nachbarin, aushelfen wie heute.

Er schob diesen Gedanken beiseite. Der Fall würde seine ganze Erfahrung und Intuition fordern. Da konnte er die Gedanken gerade in einer so frühen Phase der Tatortbesichtigung nicht abschweifen lassen, ohne Gefahr zu laufen, etwas Wichtiges zu übersehen.

Plötzlich erscholl ein Ruf. Tomas Düvel wandte sich dem Abhang in Richtung Zelt zu. Knapp dreihundert Meter oberhalb winkte ein junger Vopo aufgeregt mit beiden Armen. Langsam stapfte er mehr rutschend als gehend und leise fluchend zu dem blätterlosen Baum, dessen karge Zweige wie ein Zeltdach ohne Hülle bis auf den Boden herabhingen. Im Näherkommen entdeckte er auf dem Boden kleine Äste des Baumes, die aus dem Schnee lugten. Doch halt, das waren keine Äste. Er verscheuchte die Polizeibeamten, die sich um den Baum gruppiert hatten und diskutierten, was sie da wohl sahen. Vorsichtig näherte er sich, bis er erkennen konnte, dass der vermeintliche Ast von dünnem braunem Wollstoff überzogen war. Er streifte Plastikhandschuhe über und schob vorsichtig den Schnee beiseite, bis Finger zum Vorschein kamen.

Über dem Schnee waren nun Hände zu sehen, eine zur Faust geballt, die andere zum Himmel ausgestreckt.

»Alle beiseitetreten. Keiner geht da näher ran«, raunzte Düvel zwei Vopos an, die sich von der Seite genähert hatten.

»Weißer«, brüllte er den Berg hinab. »Komm her, ich brauch dich hier.«

Er bückte sich vorsichtig über den Fund und strich mit seinen in Plastik verpackten Händen über die Stelle, an der er den Kopf vermutete. Als Erstes legte er die Nase frei. Es folgten die Augenbrauen mit den geöffneten Augen und der ebenfalls leicht geöffnete Mund. Ganz friedlich sah der junge Mann aus. Nur ein paar Kratzer auf Stirn und Wange sowie die dunkelrot verfärbte Nasenspitze ließen darauf schließen, dass er nicht schlief. Düvel strich weiteren Schnee weg.

Weißer hatte angefangen, den Schnee von den angewinkelten Beinen und überkreuzten Füßen, die schuhlos waren und nur in dicken Socken steckten, zu kratzen. Die Leiche war besser bekleidet als die ersten beiden Toten, wenn auch bei Weitem nicht ausreichend für die eisige Kälte.

Düvel richtete sich auf.

Vorsichtig legte Weißer den ganzen Körper frei. Düvel erkannte eine aufgeknöpfte ärmellose Pelzjacke, außen blauer Stoff, innen graues Fell.

»Fotografier die offene Jacke, das kommt mir komisch vor bei jemandem, der erfriert«, wies er Goßmann an.

Der Tote trug eine Baumwollsocke an seinem linken und eine Wollsocke an seinem rechten Fuß. Die Uhr an seinem Handgelenk hatte um fünf Uhr einunddreißig aufgehört zu schlagen.

Selbst Düvel war über den Fund schockiert. Auch wenn ihm klar gewesen war, dass für die anderen Verschwundenen kaum eine Chance bestanden hatte, so war die Gewissheit durch den Fund eines weiteren toten Gruppenmitgliedes schwer zu ertragen.

»Dokumentier alles ausgiebig, Goßmann. Man wird uns hinterher Löcher in den Bauch fragen, wie das hier war.«

Er richtete sich auf und sah sich um. Neben dem Zelt hatten sie eine rote Fahne aufgestellt, um sich zu orientieren. Die konnte er von seinem Standort aus bequem sehen, ohne sich zu recken. Er wandte sich in Richtung der anderen zwei Leichen bergabwärts. Wenn er sich eine Linie dachte, so lag diese Leiche auf fast gerader Linie dazwischen. Vielleicht sollten sie in dieser Richtung weitersuchen. Düvel rief den Leiter der Hundertschaft zu sich.

»Wir sollten in dieser Richtung«, er wies zur roten Fahne, »weitersuchen. Ich hab da so ein Gefühl.«

Der Beamte nickte und rief seine Leute zu sich. Sie stellten sich in einer Linie auf und gingen los, mit Stöcken vorsichtig vor sich im aufgehäuften Schnee stochernd.

Bis zum späten Nachmittag, Düvels Füße hatten inzwischen jedes Gefühl verloren und fühlten sich an wie Eisklumpen, fanden sie eine weitere Leiche hundertfünfzig Meter oberhalb der letzten Leiche. Düvel trat näher an den Toten und ging neben dem Kopf, der in Richtung Zelt wies, in die Hocke. Der Mund wie zum Schrei geöffnet, die Augen zugeschwollen, die Nase platt gedrückt. Die unter dem Schnee zuvor verborgene rechte Hand zur Faust geballt. So sah kein friedlicher Tod aus.

Das reichte für heute, befand Düvel. Ihm reichte es. Mehr würde keiner hier ertragen. Er war inzwischen so steif gefroren, dass er Mühe hatte, sich wieder aufzurichten. Außerdem senkte sich die Dämmerung über den Brocken. Er hatte in der letzten Stunde die Illusion aufgegeben, noch irgendein Mitglied der Gruppe lebend zu finden. Wie alle anderen um ihn herum auch. Das sah er an den Gesichtern, ihrer Haltung und hörte es aus der Stille. Kein Plappern mehr, keine lauten Zurufe. Die Hoffnung war verschwunden.

»Fotografier alles und lass die Leichen auf das Brockenplateau bringen. Ich telefoniere wegen dem Hubschrauber, der sie abholt«, wies er Bernhard an.

Er musste schnellstens nach Hause, sich um Ina und Elke kümmern. Seine Nachbarin Frau Schulze würde toben, weil er erst so spät nach Hause kam.

Und dann musste er dringend eine heiße Dusche nehmen, sich warm anziehen und Frau Schulze davon überzeugen, sich auch noch die ganze Nacht und morgen um die Mädchen zu kümmern. Er kam hier nicht dauerhaft weg.

Der Teufel vom Brocken

Подняться наверх