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ZWEI

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Sonntag, 17. Dezember 1989

»Wir sind in Walkenried«, verkündete Professor Berger.

»Wo ist das denn?«, fragte Professor Kübler.

»An der ehemaligen oder besser noch Zonengrenze. Einen näheren offenen Grenzübergang gab es nicht. Vermutlich ist die verschwundene Gruppe auch hier rüber. So hat man uns jedenfalls berichtet. Übrigens ist der Transit der Hochschule nur für vierzehn Personen zugelassen, und wir hocken mit zweiundzwanzig eng zusammengequetscht da drin. Die Hochschulleitung hätte ruhig ein bisschen großzügiger sein können, wenn wir schon versuchen, ihre Ehre zu retten. Gibt’s inzwischen was Neues?«

»Ja, die Studentengruppe aus Halle ist ebenfalls losgezogen. Rektor Bernstein hat mich heute Morgen informiert. Die kommen Ihnen von Harzgerode aus entgegen.«

»Dann müssen wir wenigstens nicht die ganze Strecke bis Halle-Wittenberg laufen«, sagte Berger.

»Das werden Sie ja wohl für unsere Studenten auf sich nehmen, Herr Kollege«, erwiderte Kübler.

Und warum bist du dann nicht losmarschiert?, dachte Berger. Idiot.

»Ich muss jetzt Schluss machen, mein Kleingeld ist alle. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir was gefunden haben. Schönen Tag noch, Kollege Kübler.«

Die kleinen Seitenhiebe konnte sich Berger nicht verkneifen. Sie hatten seine schlechte Laune ein wenig verbessert. Aber nur ganz wenig. Kübler hasste es, wenn man ihm seinen Präsidententitel vorenthielt. Und Berger liebte es, genau das zu tun. Und tatsächlich hätten sie ruhig einen zweiten Transit zur Verfügung stellen können.

Norbert Berger, Professor für Automatisierungstechnik, hängte den Hörer ein. Die letzten zwanzig Pfennig fielen in den Ausgabeschlitz. Ein schiefes Grinsen erschien um seinen Mund. Kübler saß in seinem warmen Amtszimmer und gab schlaue Sprüche von sich, und er musste bei Schneeregen und mit schwerem Rucksack auf den Brocken marschieren. Und da freute er sich darüber, den Präsidenten seiner Hochschule mit einem Trick abgewürgt zu haben. Er hätte kotzen können.

Die kleine gelbe Telefonzelle in diesem gottverlassenen Nest, das einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass hier ein Grenzübergang offen war, bekannt war, lud nicht zum Verweilen ein. Der Hörer war so dreckig, dass Berger ihn während des Gespräches zehn Zentimeter vom Ohr entfernt gehalten hatte. Manchmal passte einfach alles. Vor allem im Schlechten. So war das eben. Angewidert stapfte er durch den Schneematsch zurück zum Ford Transit. Sofort umringten ihn die Studenten schniefend. Alle waren bedrückt und in Sorge um ihre Kommilitonen.

»Gibt’s was Neues?«, wiederholte einer von ihnen seine eigene Frage an Kübler.

Er schüttelte den Kopf. Eine langhaarige Brünette mit von der Kälte rot verfärbten Wangen und spitzer Nase fing an zu weinen. Ein zu klein geratener Student mit drahtiger Figur und streichholzkurzen Haaren zog auffallend laut die Nase hoch. Mit einem Schlag war ihr scheinbares Erwachsensein wie weggewischt. Zurückgeblieben waren Kinder, die sich verängstigt und hilflos fühlten. Umso höher rechnete er es ihnen an, dass sie sich auf die Suche gemacht hatten. Und das kurz vor Weihnachten. Daran sollte sich die Hochschulleitung mal ein Beispiel nehmen.

Der Parkplatz direkt vor dem Grenzzaun, dessen Eisentor gerade so weit geöffnet war, dass einzelne Fahrzeuge hindurchpassten, war vollgestellt mit Trabbis. Die lange Schlange der Fahrzeuge, die in den ersten Tagen nach dem Mauerfall bis weit zurück nach Ellrich gereicht hatte, war angeblich etwas kürzer geworden, wie im Fernsehen berichtet worden war. Davon merkte Berger nichts.

Tatsächlich fuhren jetzt ebenso viele Fahrzeuge von West nach Ost. Neugierige und alte Leute, die endlich ihre Verwandten auf der anderen Seite der Grenze ohne Reisepass und »Mehrfach-Berechtigungsschein« im Rahmen des Kleinen Grenzverkehrs besuchen konnten. Der Durchlass bot lediglich Platz für ein Fahrzeug, sodass die Grenze nur im Wechsel von jeweils fünf Fahrzeugen passiert werden konnte. Entsprechend lang war die Schlange auch auf der westdeutschen Seite. Sie hatten mit ihrem Bus Stunden gebraucht, um den Parkplatz zu erreichen.

Hier sollten auch die verschwundenen Studenten mit Kollege Zöllner, erst seit diesem Semester Lehrbeauftragter für Technomathematik, durchgekommen sein. Hatte ein Freund von Ingo Dannemann, dem Leiter der Wandergruppe, berichtet. Einen Bus der Hochschule hatte die vermisste Gruppe nach seiner Recherche nicht zur Verfügung gestellt bekommen. Die Unibusse wurden nur an Professoren verliehen, wie jetzt an ihn. Auch wenn ihr Ansinnen, die Brockenbefreiung zu unterstützen, von der Hochschule durchaus gelobt worden war. Umso mehr, als sie die Verbrüderung mit der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg planten. So was liebte die Hochschulleitung. Den Transit hatte sie trotzdem nicht rausgerückt.

Also hatte die Gruppe wohl den normalen Bus nehmen müssen und war bis hierher gefahren. Das bedeutete, auch die Suchtruppe musste ab der Grenze laufen, sonst würden sie vielleicht etwas übersehen. Über Zorge. Das war von hier aus die kürzeste Strecke zum Brocken. Immerhin um die dreißig Kilometer, und das mit großem Gepäck. Berger stöhnte. Keine Ahnung, warum das Hochschulpräsidium ihn als Begleitung für die Studenten auserkoren hatte. Wahrscheinlich, weil sich dort eisern das Gerücht hielt, dass er alpine Erfahrung habe. So ein Quatsch. Nur weil er einmal bis auf das Breithorn mit seinen über viertausend Metern Höhe gestiegen war. Natürlich zusammen mit einem erfahrenen Bergführer, ohne den er nicht mal die halbe Strecke geschafft hätte. Das war das dumme Geburtstagsgeschenk seiner Ex gewesen. Wahrscheinlich ahnte sie damals schon, dass ihre Nachfolgerin bereits feststand. Eine einzige Strafe war die Tour gewesen, und Berger hatte sich geschworen, nie mehr so einen Blödsinn zu machen. Auf Berge steigen. Nee, was Dämlicheres gab es nicht.

Brauchte man überhaupt für den Brocken Bergsteigererfahrung? Berger wusste es nicht, konnte es sich aber nicht vorstellen. Wahrscheinlich suchten die anderen Professoren nur eine Ausrede, um nicht selbst gehen zu müssen. Typisch. Aber was half es? Er hatte zugesagt. Was anderes war ihm auch nicht übrig geblieben.

»Also los, Leute. Genug geraucht und genug gefahren. Von jetzt an geht’s zu Fuß weiter.«

Alle holten ihre prall gefüllten Ruck- und Schlafsäcke aus dem Transit und liefen los über die alte Grenze.

Am Abend erreichten sie Schierke. Das Wetter war garstig und kalt, wenigstens lag noch kein Schnee. Der Blick in Richtung Brocken bestätigte seine Befürchtung, dass sie auf dem Berg ganz andere Temperaturen erwarteten. Die Tannenwipfel oberhalb von ihnen waren weiß gefärbt vom Frost und Schnee. Den Gipfel des Brocken konnte er vom Ort aus nicht sehen.

Berger wusste, dass Schierke bis vor Kurzem der Lieblingsskiort der DDR-Bonzen gewesen war. Deswegen wunderte ihn die Häufung prächtiger Hotels nicht, an denen sie vorbeizogen. Für seine Gruppe waren sie zu teuer. Sie gingen weiter, bis sie eine gemütliche holzverschalte Herberge mit weihnachtlichen Lichterdreiecken in den Fenstern gefunden hatten.

Der Wirt vom Stadel erlaubte ihnen, im Garten ihre Zelte aufzuschlagen. Nach dem Aufbau kehrten sie ein, um sich für die eisige Nacht aufzuwärmen und eine warme Suppe zu essen.

Berger verzichtete aus Solidarität auf das Bett im Gasthof und schlug sein Zelt ebenfalls im Garten des Stadels auf. Am nächsten Morgen bereute er die Entscheidung bitter. Sein Rücken tobte, und er war bis auf die Knochen durchgefroren. Natürlich hatte auch noch leichter Schneefall eingesetzt. Es war bitterkalt. Viel kälter als am Vortag. Das Außenthermometer am Gasthaus zeigte minus fünf Grad an. Es schüttelte ihn.

Nach einem kurzen Frühstück im Hotel, das er den Studenten spendiert hatte, zogen sie los. Vorbei an einem Wasserhäuschen auf eine steinige Piste, übersät mit aus dem Boden wachsenden Felsbrocken, die nach ihren Knöcheln zu packen schienen. Dort lang seien auch die Brockenbefreier marschiert, hatte der Stadelwirt erklärt. Kurz vor Mittag erreichten sie das Brockenplateau. Die über drei Meter hohe Betonmauer wurde noch immer von Soldaten der Deutschen Volksarmee bewacht. Hatten die nicht mitbekommen, dass es nichts mehr zu bewachen gab, wunderte sich Berger. Sollten sie eben weiterwachen. Auf seine Frage, ob der Grenzer am Tor etwas über die verschwundene Gruppe wisse, erntete er nur verständnislose Blicke. Als würde er eine andere Sprache sprechen.

Sie zogen es vor, außerhalb des Militärgeländes ihre belegten Brote, spendiert vom Stadelwirt, zu essen. Natürlich hätten Berger die Abhöranlagen interessiert. Man hatte ja viel von ihnen gehört. Aber selbst wenn er nicht dieses innere Vibrieren des ganzen Körpers und das Rumoren im Magen gespürt hätte, das ihn zur weiteren Suche antrieb, hätte ein Blick auf seine Suchmannschaft völlig ausgereicht, seine Meinung zu ändern. Alle aßen im Stehen und drängten die anderen, schneller zu essen. Nein, das war nicht der Tag für eine Besichtigung.

Gerade wollten sie mit dem Abstieg hinter der alten Grenzmauer, die inzwischen einige Löcher aufwies, beginnen, als ihnen ein aufgeregt winkender junger Mann, ein Student aus Halle-Wittenberg namens Dieter, wie sich herausstellte, entgegeneilte.

»Seid ihr der Suchtrupp aus Clausthal-Zellerfeld?«

Berger bestätigte es.

»Wir haben das Zelt gefunden, keine zwei Kilometer von hier entfernt.«

Ein Aufschrei ging durch die Weststudentengruppe. Angst oder Freude, Hoffnung oder Verzweiflung? Berger ahnte, dass von allem etwas dabei war.

»Was ist mit unseren Leuten?«, hakte Berger ein, nachdem er seine Studenten zum Verstummen gebracht hatte. Was nicht so einfach gewesen war. Ihm war klar, dass der junge Mann, wüsste er etwas, das sicherlich als Erstes gesagt hätte. Doch auch er konnte sich nicht bremsen.

»Da waren nur Fußspuren, die bergab führen. Wie es aussieht, sind die barfuß gelaufen«, ergänzte er so leise, dass nur Berger es hören konnte.

»Was?«, entfuhr es Berger. Der Brocken war mit dreißig Zentimeter hohem Schnee bedeckt.

»Wir verstehen das auch nicht. Das Zelt wurde an der Seite aufgeschnitten, und die Klamotten samt Schuhen liegen noch drin. Das Ganze sieht ziemlich unheimlich aus. Aber kommt erst mal mit. Meine Kommilitonen wollten schon anfangen, eure Leute zu suchen. Vielleicht sind sie in der Zwischenzeit fündig geworden.«

Für die Strecke brauchten sie nur zwanzig Minuten. Alle waren im Laufschritt losgerannt. Der Student aus Halle-Wittenberg hatte kaum mithalten können. Sprachlos verharrten sie vor den Resten eines knapp vier Meter langen Zeltes, das teilweise unter Schnee versteckt war. In der Mitte zusammengesackt, stand es auf einer einsamen, baumlosen Anhöhe mit Blick gen Osten. Die nächsten Nadelbäume wuchsen einen guten Kilometer unterhalb. Einige wiesen wie abgebrochene Zähne in den Himmel. Wohl vom letzten Sturm, schoss es Berger durch den Kopf.

Er ging in die Hocke, um das Zelt genauer betrachten zu können. Es war völlig zerfetzt. Bodentiefe senkrechte Schnitte öffneten den Blick hinein. Schon von außen konnte man in dem nicht zusammengesackten Bereich die Ausrüstung der Studenten erkennen. Schuhe, Jacken, Töpfe, sogar ein kleiner Ofen, der umgestürzt war, lagen auf dem Zeltboden verstreut. Berger schüttelte ratlos den Kopf.

»Dort drüben gehen die Fußspuren los«, berichtete Dieter.

Sie stapften durch den tiefen Schnee, der sich stellenweise durch den orkanartigen Wind der letzten Tage aufgetürmt hatte, wie Berger vermutete. In einer Senke, gute hundert Meter unterhalb des Zeltes, entdeckte er kleine, regelmäßige Erhöhungen.

»Das sind die Fußabdrücke«, erklärte Dieter.

»Aber die stehen ja hoch?«, wunderte sich Berger.

Dieter zuckte mit den Schultern.

»Das sind ja richtige Abdrücke von Füßen«, staunte eine dunkelhaarige Studentin, die sich zusammen mit zwei Kommilitonen um den ersten Abdruck geschart hatte. Zwei weitere junge Männer knieten sich daneben nieder.

»Man sieht da nackte Zehen …«, verkündete einer von ihnen mit weit aufgerissenen Augen. Wieder ein Aufschrei in der Gruppe, und drei weitere Studenten eilten zu den Spuren.

Dieter nickte. »Ja, offenbar sind sie zumindest teilweise barfuß runtergegangen. Das bei dem Wetter ist ganz schlecht.«

Ein Schluchzen war zu hören, ein leiser Aufschrei und ein Jammerlaut.

Noch bevor Berger etwas zur Beruhigung sagen konnte, hörten sie aufgeregte Rufe von weiter unten.

»Das sind meine Freunde«, sagte Dieter. »Wir sollten hingehen.«

Alle liefen parallel zu den Spuren weiter den Berg hinunter. Tannen und Fichten rückten näher. An manchen Stellen konnten sie die Fußabdrücke noch erkennen, aber sie führten in keine eindeutige Richtung mehr. Endlich, gut anderthalb Kilometer vom Zelt entfernt, näherten sie sich einer Zeder, die alle anderen Bäume überragte. Unter ihr beugte sich ein Trupp aus sechs jungen Leuten, nicht älter als seine Studenten, über etwas, das sie in helle Aufregung versetzte.

Berger erreichte als Erster den Baum und registrierte die Reste eines Lagerfeuers, teilweise vom Schnee bedeckt. Die jungen Oststudenten stocherten mit Stöcken darin herum, als könnten sie aus den Resten wie aus Kaffeesatz lesen.

Das Feuer war schon vor langer Zeit erloschen. Es war nicht sehr groß gewesen. Und ausgegangen, bevor es komplett abgebrannt war. Schwarz angekokelte dünne wie dicke Äste ragten aus dem Schnee.

Doch wo waren die Menschen, die es entzündet hatten? Er drehte sich im Kreis, suchte mit seinen Blicken den Boden ab. Nach weiteren Fußspuren oder was auch immer. Und tatsächlich, keine vier Meter entfernt auf der anderen Seite der Zeder entdeckte er eine kleine Erhebung. Das war nichts Besonderes, davon gab es hier mehr als genug. Aber das Blau, das durch den Schnee schimmerte, gehörte eindeutig nicht hierher.

Der Teufel vom Brocken

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