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HASIR ZAMAN PARIS

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VON DER CHAISELONGUE AUS ist nur ein Ausschnitt des Him-mels zu sehen, ein unregelmäßiges Pentagon, eingerahmt vom Fenster, der Jalousie und dem Giebel auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Heute sind die Wolken dunkler, beinahe violett, ein Unwetter kündigt sich an. Du legst den Kopf zur Seite, jede Woche versuchst du, in Gedanken an den fünf Seiten dieser Form zu zerren. Als ob du geheilt wärst, sobald der Ausschnitt sich zu einer ansprechenden Form fügen würde. Geheilt vom Trauma, wie es Doktor Céleste Cohen nennt. Einmal hat sie dich als stillen Zeugen des Konflikts in Afghanistan bezeichnet. Du hast ihr nicht widersprochen. Inzwischen hast du dich an die wöchentliche Beichte gewöhnt, empfindest das Ritual sogar als angenehm und absolvierst es liegend, obwohl es dir anfangs affektiert erschien.

Du hättest eine Frau kennengelernt, sagst du und wünschst dir, du könntest deine Therapeutin jetzt sehen.

Dr. Cohen wartet, nicht zu lange, sie weiß, dass du Führung brauchst.

»Was mögen Sie an ihr?«

Sie sei nur eine Kellnerin, unklar, woher sie stamme. Geheimnisvoll und vertraut zugleich.

»Eine Projektionsfläche. Ist es das, was Sie attraktiv an ihr finden?«

Eher die Art und Weise, wie sie spreche und sich bewege. Du beschreibst, wie sie in deiner Wohnung tanzte, nur für sich. Sie habe nicht einmal versucht, dich damit zu verführen. Du hättest zum ers-ten Mal dein Unvermögen überwunden.

Dr. Cohen hält den Atem an, dein andauerndes Versagen steht, wenn auch indirekt, immer im Zentrum der Analyse.

Inès’ Geruch erwähnst du nicht, ein olfaktorisches Echo, eine gestohlene Erinnerung. Noten von Hölzern und Moschus. Du erwähnst auch nicht, dass der Ring deines Vaters am nächsten Morgen nicht aufzufinden war, der mit dem Halbmond. Ein Rätsel, wie sie ihn abbekommen hat. Du verschweigst die irrationale Angst, sie nicht wiederzusehen. Die Befürchtung, dass sie und nur sie den Schlüssel zu deinem Verlangen in der Hand hat. Du wirst ins Chez Farida gehen heute Abend. Sie wird da sein. Mit oder ohne den Ring, der dir egal ist. Sie hätte die Uhr nehmen können, selbst die alberne Geldklammer ist mehr wert.

Das Geräusch eines heranfliegenden Hubschraubers reißt dich aus den Gedanken. Das ganze Gebäude vibriert, dein Herzschlag poltert. Du schließt die Augen und presst deine Faust auf die Brust, eine nutzlose Geste, medizinisch gesehen wirkungslos gegen Bluthochdruck und Arrhythmie. Die einhergehenden Panikattacken und die Schlaflosigkeit haben den Zustand verschlimmert, vielleicht ist es auch andersherum. Impotenz ist eine demütigende Nebenwirkung dieser Herzbeschwerden. Du kannst kaum atmen.

»Alles in Ordnung, Monsieur Zaman?« Dr. Cohens rostbraunes Ensemble – es war dir angenehm auf gefallen – raschelt. Sie schlägt wahrscheinlich gerade ein seidenbe strumpftes Bein über das andere oder öffnet den Knopf der Jacke. »Ist es der Hubschrauber?«

Selbst wenn du madame le docteur nicht sehen kannst, ist ihre Präsenz immer spürbar. Gebildet, schick, diskret parfümiert und mit der rauchigen Stimme einer Jazzsängerin, ist sie trotz ihres Alters eine anziehende Frau, eine parisienne.

Das Grollen wird lauter, und du siehst einen Sanitätshubschrauber durch das graue Pentagon fliegen. Der Druck in der Brust nimmt zu. Dr. Cohen reicht dir ein Glas Wasser über die Schulter. »Trinken Sie einen Schluck.«

Es gehe schon wieder. Du presst die Worte durch die Lippen.

»Es ist das Geräusch, das Sie irritiert, nicht wahr? Was assoziieren Sie damit?«

Die Entführung deiner Schwester, sagst du.

»Uzma?«

Uzma.

»Ihre Schwester wurde entführt? Das haben Sie mir nie erzählt.«

Es sei eine lange Geschichte.

»Jede Geschichte ist eine lange Geschichte.«

Als das Dröhnen nachlässt, wird dein Herzschlag ruhiger.

Du hättest nie herausgefunden, was wirklich geschehen ist. Du hättest mit unzureichenden Informationen arbeiten müssen. Damals, es sei Mitte der Achtzigerjahre gewesen, hättest du dir ihr Verschwinden selbst erklären müssen. Hättest dir eine Geschichte herbeiphantasiert, komplett mit dramaturgischem Bogen, dir Ursache und Wirkung zusammengereimt. Nichts davon habe mit der Wahrheit zu tun. Nichts.

»Dieses Nichts löst aber immer noch sehr starke Reaktionen aus. Da ist etwas, und es scheint eine große Wirkung auf Sie zu haben. Wir werden den roten Faden vielleicht nicht gleich finden, aber das muss auch nicht in einer Sitzung geschehen.« Es gelingt ihr immer, dich in die dunklen Gassen des Unterbewusstseins zu locken. Du glaubst nicht an die kathartische Kraft von Worten, aber du wirst versuchen, diese Geschichte zu rekonstruieren.

Du seist gerade nach Paris gezogen und hättest dich an der Sorbonne eingeschrieben.

»Ihre Eltern müssen stolz auf Sie gewesen sein.«

Ja, sie glaubten, du würdest Geologie an der ParisTech studieren.

»Sie haben gelogen.«

Du hättest gelogen.

Schweigend siehst du eine Zeit lang durch das Fünfeck in den tief verhangenen Himmel. Deine ersten Wochen in Paris. Die Stadt schillerte von Möglichkeiten. Dein weltgewandter Vater aber hätte deine Ambitionen – Kunst, Philosophie und Film – nie akzeptiert. Du solltest ein Geschäftsmann werden und sein Unternehmen weiterführen.

Du hättest nicht nur deinem Vater etwas vorgespielt, sondern auch den anderen Filmstudenten und deinen neuen französischen Freunden. Du hättest ihnen ein Phantasie-Afghanistan beschrieben und die Rückständigkeit des Landes heruntergespielt. Du hast die Hippie-Legenden vom Karakorum Highway wiederaufleben lassen und vom Hasch geschwärmt, obwohl all dies nichts mit deiner Realität dort zu tun hatte. Die exotischen Geschichten kamen gut an bei den jungen Cineasten mit ihren Cahiers du Cinema, die sie wie die Mitgliedskarte zu einem geheimen Club mit sich herumtrugen, während sie das Ende des Kinos heraufbeschworen.

Am meisten hast du dir selbst vorgemacht, aber das verschweigst du. Du wolltest jemand anderes sein, eine bessere Variante von Hasir. Du warst besessen von Alain Delon, nachdem ein Mädchen, das du auf einer Party kennengelernt hast, behauptete, du sähest ihm ähnlich. Du hast dich leidenschaftlich in die neue Rolle geworfen, schamlos seinen Stil kopiert. Du hast Anzüge nachschneidern lassen, trugst die gleiche Armbanduhr wie Delon in Le Samuraï, auf der Innenseite des Handgelenks, und selbst im tiefsten Winter Maß-schuhe ohne Socken. Du hast dir seine Gesten abgeschaut, den unterkühlten Duktus imitiert und den unergründlichen Gesichtsausdruck. Socken trägst du bis heute nicht.

»Was haben Sie Ihren Freunden von Ihrer Schwester erzählt?«

Wenig. Später, nach dem Vorfall, habest du immer behauptet, deine Schwester hätte sich den Autorenfilmern Hollywoods angeschlossen.

»Sicherlich Wunschdenken. Erzählen Sie mir von der Entführung.«

Es muss kurz vor Weihnachten gewesen sein, die Diskussion um Godards Je vous salue, Marie war in der Presse wieder aufgeflammt. Der Papst hatte sich in Le Monde oder Figaro darüber empört, dass der Film die Jungfrau Maria herabwürdige. Beim Frühstück in einem Café machten sich deine Freunde über den Katho lizismus lustig. In derselben Zeitung war ein Foto aus Afghanistan abgebildet, ein Panzer mit sowjetischen Soldaten, gut gelaunt, einer von ihnen hatte eine Tulpe im Knopfloch stecken, als wäre er auf Klassenfahrt. In dem Artikel stand, sowjetische Soldaten hätten afghanische Frauen verschleppt.

Ein paar Wochen später rief dein Vater an, du warst mitten in den Prüfungen, Filmtheorie. Er sagte, deine Schwester sei nach der Schule von Soldaten gekidnappt worden. Sie hätten Uzma inzwischen wieder freigelassen. Dein Vater war kein Mann großer Worte. Es war völlig unklar, ob es sich um einen oder mehrere Männer handelte, wo Uzma überfallen wurde oder wie lange sie in deren Händen war. Uzma gab seitdem keinen Ton mehr von sich. Dein Vater wollte, dass du umgehend nach Kabul kommst, um sie zu trösten und aufzumuntern. Du musstest ihm versprechen, sie nicht mit der Erinnerung an den Übergriff zu quälen. Bevor du auch nur eine klärende Frage stellen konntest, legte er auf.

»Er hat Ihnen nicht gesagt, was während der Entführung passierte?«

Ein hübsches Mädchen aus gutem Hause in den Händen junger Soldaten, die seit Wochen oder Monaten keine Frau mehr gesehen haben. Was könnte das wohl heißen?

Du siehst in den auberginefarbenen Himmel. Vierzehn lange Jahre ist das her. Damals hast du zum ersten Mal das Stechen in der Brust gespürt. Es war der Beginn deines Versagens als Mann. Vierzehn Jahre des Versagens.

»Sind Sie dem Wunsch Ihres Vaters nachgekommen?«

Dein Vater habe ein Flugticket hinterlegen lassen. In den zweiundsiebzig Stunden zwischen dem Anruf und deiner Ankunft in Kabul hättest du versucht, aus den Versatzstücken ein mögliches Szenario zu entwickeln, eine plausible Sequenz. Weil sich damals alles in deinem Leben um Filmtheorie und Produktionstechnik drehte, hättest du die Entführung vor deinem inneren Auge als Spielfilm inszeniert, als imaginäre Hollywood-Produktion, erklärst du.

Das dunkle Fünfeck am Pariser Himmel blickt geduldig auf dich herab.

»Beschreiben Sie mir diese Filmversion.«

Es sei absolut lächerliches Theater gewesen und der Ernsthaftigkeit der wahren Ereignisse nicht gerecht geworden. Heute würdest du dich dafür schämen.

»Die Scham, am Leben zu sein, macht uns zum Menschen.«

Du erzählst deiner Therapeutin, dass die Geschichte von zwei Hitchcock-Klassikern inspiriert war, mit denen ihr euch damals an der Uni beschäftigt habt. Der unsichtbare Dritte und Die Vögel. Special Effects, Projektionsverfahren und Semiotik.

Du hättest dir deine Schwester in einem blassen Kostüm vorgestellt, ähnlich wie das von Tippi Hedren in Die Vögel, obwohl das überhaupt nicht ihr Stil war. Uzma spaziert in deiner fiktiven Ver sion durch eine Parkanlage in Kabul, die Haare unter einem Seidentuch hochgesteckt, eine Handtasche an ihrem Arm baumelnd. Ein Springbrunnen plätschert, alles ist grün. Als plötzlich ein Doppeldecker über die Berge heranfliegt und sich der Stadt nähert. Darin läge aber bereits die erste Ungereimtheit. Doppeldecker seien schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr militärisch eingesetzt worden.

Uzma, die Hand über die Augen haltend, sieht sich in einem Low Angle Shot nach dem Flugzeug um. Es fliegt direkt auf sie zu. Uzma beschleunigt ihre Schritte. Das Geräusch des Fliegers wird lauter, er braust ganz dicht über sie hinweg, wirbelt ihre Haare auf, zieht wieder hoch, und als er fast hinter den Bergen verschwunden ist, wendet er, um erneut anzugreifen. Uzma läuft in die entgegengesetzte Richtung, das Knattern des Motors verfolgt sie, sie lässt sich ins Gras fallen, der Doppeldecker dröhnt wieder über sie hinweg, rosa Kirschblüten flattern um ihr Close-up. Sie rappelt sich auf und rennt weiter, so schnell der enge Rock und die Absätze es erlauben.

Wie geschmacklos, den Übergriff auf deine Schwester in ein buntes Abenteuer zu verwandeln.

»Erzählen Sie ruhig weiter, das ist ein interessanter Ansatz, mit Erinnerung umzugehen, Monsieur Zaman.«

Du beschreibst genau, wie du dir den Aufbau der Studioaufnahmen überlegt hast, mit aufwendigen Rückprojektionen des Himmels und der anderen Flieger, so wie das zu Hitchcocks Blütezeit üblich war. Uzma sei auf einem Laufband geflohen, rasender Stillstand. Ein Studioventilator habe die Luft und die Blüten zum kinotaug lichen Sturm aufgewirbelt. Als der Doppeldecker zum dritten Mal angegriffen habe, sei der Motor verstummt, das Flugzeug lautlos da-hingeglitten, Uzmas Augen vor Angst geweitet, lose Haarsträhnen um ihr Gesicht, zitternde behandschuhte Hände. Eine stilisierte Unterwerfung.

»Uzma wurde sozusagen nicht nur vom Flugzeug und dem Piloten, sondern auch vom Auge der Kamera bedroht.«

In deiner Filmversion sei die Unausweichlichkeit ihres Schicksals durch den Studioaufbau noch verstärkt worden. Das Flugzeug im Himmel sei als Projektion schließlich bereits wesentlich früher in der Produktionsphase in der Raum-Zeit-Achse verankert worden. In Gedanken versuchst du, noch einmal die verschiedenen Schichten der Repräsentation, der Deutungshoheit von Wahrheit, Kunst und Erinnerung auseinanderzunehmen.

Uzmas dramatischer Nahaufnahme sei dann ein Gegenschnitt auf den anfliegenden sowjetischen Piloten gefolgt. Seine blasse Haut von Sommersprossen gezeichnet, leuchtend grüne Augen und rotes Haar unter der Pilotenkappe.

»Wie sind Sie denn auf diese Details gekommen?«

Du antwortest beinahe, dann fällt dir ein, dass du damals noch nicht wissen konntest, dass Uzma schwanger war und dass ihr Sohn so aussehen würde.

Das hättest du dir alles ausgedacht, behauptest du. Der Pilot habe sich aus dem Flugzeug gelehnt, Uzma an der Taille ergriffen und in die Lüfte gehoben. Uzmas Schreie hätten über Kabul gehallt, die ganze Stadt wäre Zeuge ihres petite mort geworden.

Die Motorengeräusche von Flugzeugen bereiteten dir seitdem Panikattacken, egal ob es sich um Helikopter oder die Concorde handele. Überraschenderweise hättest du nie Angst vorm Fliegen entwickelt, eher das, was Chris Marker als Schwindel der Zeit bezeichnet hat. Ein Schwindel der Erinnerung. Dabei wäre Marguerite Duras’ Hiroshima mon amour eigentlich ein viel besseres Beispiel gewesen. Niemand habe virtuoser mit dem Trugbild der Erinnerung gespielt, die Facetten so unwiderstehlich beleuchtet, fügst du hinzu. Du hörst, dass Dr. Cohen sich bei dieser Erkenntnis Notizen macht.

»So wie Sie sich erinnern: Was passierte, als Ihre Schwester in der Gewalt des Piloten war?«

Hier sei deine Geschichte zu Ende. Du hättest nie gewagt, weiterzudenken. Die Entführung deiner Schwester sei ein unfertiges Œuvre geblieben.

»Was sagte Uzma dazu? «

Du hättest ihr nie von der Filmversion erzählt.

Du verengst die Augen, um noch einmal das Pentagon in Form zu bringen. Ein dämliches, unreifes Unterfangen. Sinnlos.

Oder sind es Sterne

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