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SAMEER KABUL

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MEIN AUGE IST SCHLIMMER GEWORDEN, immerhin pocht es nicht mehr so, vielleicht bin ich nur zu schwach, um noch etwas zu spüren. Ameisen klettern über mein Fladenbrot. Irfahn schnappt es sich. Es ist mir egal, ich bekomme ohnehin keinen Bissen herunter. Nachts schwitze ich fiebrig, als sei ich schon in der Hölle. Einmal kam AliAli mich besuchen, er schwebte, durchsichtig wie die abgestoßene Haut der Schlange, lächelte, dann drehte er sich weg und verschwand wieder im Dunkel.

Tagsüber fröstelt mich, obwohl dies ein besonders heißer Sommer sein soll. Ich schließe auch mein heiles Auge, die gleißende Sonne scheint mir auf die Lider und bringt die Adern, die sich darin fein wie die Triebe der Zedern verästeln, zum Glühen.

Draußen im Hof poltert plötzlich die Stimme Hasir-saybs. Ich wusste gar nicht, dass er kommt. »Wo ist der Junge? Ich will ihn sofort sehen!« Der Onkel aus Paris klingt verärgert.

»Hasir-sayb, welche Ehre! Wir sind auf Ihren Besuch nicht vorbereitet.« Mullah Usmeen versucht, den Onkel zu besänftigen. Vergeblich.

»Wo steckt er denn?«

Alle im Klassenzimmer halten den Atem an. Der Lehrer schaut mich besorgt an. So spricht man nicht mit Mullah Usmeen. Er wird dem Onkel alles erzählen. Er wird ihm sagen, dass ich den Streit mit Irfahn angefangen habe. Dass Irfahn mich als den Sohn eines sowjetischen Dreckschweins beschimpft hat, wird er verschweigen. Der Mullah wird ihm verraten, dass wir den Frauen im Nachbarhaus beim Baden zugesehen haben, durch den Spalt. Der mit dem verkrüppelten Arm und der Dicken, deren Bauch über ihren haarigen Schritt hing. Wahrscheinlich weiß der Mullah auch, dass ich mich nachts selbst anfasse, bis meine Schlange ihr weißes Gift speit.

Er wird ihm sagen, dass ich behauptet habe, der Onkel aus Paris sei wirklich mein Onkel. Obwohl jeder weiß, dass er nur ein guter Muslim ist, der die fünf Säulen des Islam beachtet und uns Waisen Almosen gibt. Der Lehrer wischt mir mit dem Ärmel übers Gesicht, rückt die Takke zurecht und zerrt mich in den Hof. Jetzt werde ich auch noch dem Onkel aus Paris Schande bringen. Gnade!

Hasir-sayb steht wie ein Kinoheld vor einem weißen Toyota. Er trägt westliche Kleidung und streicht sich selbstbewusst das Haar aus dem glatt rasierten Gesicht. Sein Begleiter Behrooz dagegen, ein Berg von einem Mann, trägt einen stolzen Bart, die Spitzen noch rot vom Henna der Hajj, und schnippt mit seiner Gebetskette.

Als der Onkel mich sieht, spricht er plötzlich ganz leise. »Was ist denn mit dem Auge passiert? Ist er verprügelt worden? Ich zahle jedes Jahr Millionen von Rupien, um den Jungen zu ernähren, einzukleiden und ihn in die Schule zu schicken, genug, um das ganze Waisenhaus zu betreiben. Da komme ich einmal unerwartet und finde den Bengel abgemagert, schmutzig und krank.«

Mullah Usmeen verbeugt sich nervös. »Wir haben Sameer zum Schlangenbeschwörer gebracht, aber das Tier war verstorben. Hier wird niemand geschlagen, das ist ein zivilisierter Ort.«

Der Onkel schnalzt verächtlich mit der Zunge. »Ich halte Schlangenbeschwören nicht für ein Zeichen von Zivilisation.«

»Hasir-sayb, die Buben sind ungestüm in diesem Alter«, sagt der Mullah. »Er muss ausgerutscht sein.«

Ich sollte diese Lüge bestätigen, behaupten, ich sei hingefallen. Sonst bekommt der Mullah nur Probleme. Es ist zwar gelogen, doch auch in der Wahrheit lauert Sünde.

Der Onkel beugt sich zu mir, ich erwarte eine Ohrfeige, aber er deutet nur auf mein Gesicht. »Das Auge ist total vereitert!« sagt er angewidert.

Mir wird schwindlig, der staubige Boden verschwimmt, als der Onkel mich an sich reißt und ganz fest in die Arme nimmt. Sein feines Hemd riecht wie frisch gehacktes Holz und die Berge nach dem Regen. »Ihr solltet euch schämen. Er ist doch noch ein Kind.«

»Hasir-sayb, ich bitte Sie. Wir tun, was wir können«, sagt der Mullah.

Ich versuche, mich so still wie möglich zu halten. Dann werden die Stimmen auf einmal leiser, und der Boden gibt nach. Fühlt sich so Sterben an?

Eine grelle Lampe blendet mich. »Da bist du ja wieder, Sameer-jan! Geht es dir besser?« Ein Doktor hilft mir beim Aufsetzen. Auf seiner Glatze sprießen nur wenige Haare. »Schau meinem Finger nach«, sagt er und bewegt diesen nach rechts. »Stillhalten.« Ein kurzes Stechen im linken Auge taucht alles in Rot. Erleichterung. Der Druck lässt nach, und es öffnet sich. Ich kann wieder mit beiden Augen sehen! Der Doktor tupft mit einem Wattebausch blutigen Eiter weg. Jemand streicht mir über den Rücken.

»Du bist sehr tapfer, Sameer-jan!«, sagt der Arzt. Wahrscheinlich will er sich nur bei Hasir-sayb einschmeicheln. »Wir werden dich wieder gesund machen. Wie alt bist du? Zehn?«

»Ich bin dreizehn«, sage ich wahrheitsgetreu.

Der Doktor seufzt. »Der Junge muss mehr essen, sein Körper braucht Kraft. Er ist noch im Wachstum.«

Hasir-sayb begutachtet Instrumente in einer Vitrine. »Sie haben keine Ahnung, wie wütend ich bin, Doktor. Primitivlinge!« Er muss die Sowjets meinen. Selbst der Doktor sieht, dass meine Mutter sich von einem hat nehmen lassen.

Der Doktor wischt den Rost von einer Tube mit Salbe und demonstriert Behrooz, wie mein Auge gesäubert werden soll. »Antibiotika«, sagt er überdeutlich und hält ihm eine Dose mit Tabletten hin. »Der Junge muss jede Einzelne davon nehmen. Morgens und abends nach dem Gebet. Er darf keine auslassen. Sehen Sie zu, dass ihm niemand diese Pillen wegnimmt.«

Behrooz lässt die Dose in seiner Weste verschwinden.

»Das sind die allerletzten Antibiotika«, lamentiert der Doktor. »Sehen Sie sich um, Hasir-sayb. Wir brauchen dringend Material, um das Hospital weiter zu führen. Medikamente, Aspirin, Spritzen, Impfstoffe, Verband. Jedes Pflaster zählt.«

»Behrooz wird sich darum kümmern«, sagt der Onkel.

»Die Route Islamabad–Kabul wird neuerdings geplündert«, sagt Behrooz. »Wir werden es über den Iran versuchen.«

»Ich kann immerhin Desinfektionsmittel herstellen hier.« Der Doktor tippt eine der Flaschen an, die im Regal aufgereiht stehen. »Heimlich natürlich, wegen des Alkohols. Die Taliban glauben nicht an die Wissenschaft. Alhamdulillah für mein Stipendium in Moskau, Hasir-sayb. Wenn es etwas gibt, wofür wir den Sowjets dankbar sein können, dann für den Fortschritt, den sie uns gebracht haben.«

Warum lässt Hasir-sayb zu, dass der Doktor so gut über die Sowjets spricht? Meinetwegen?

Feierlich befestigt der Doktor eine schwarze Klappe über meinem Auge und zieht den Gummi fest. »Du wirst dich bald besser fühlen, Sameer-jan.«

Als wir rausgehen, jagt mir mein Spiegelbild in der gebrochenen Fensterscheibe einen Schrecken ein. Ein abgemagerter Rothaariger in Lumpen. Der Onkel liest meine Gedanken. »Lass uns zum Bazaar fahren, etwas essen und ein paar Klamotten kaufen. Ärztliche Anordnung.« Er gibt mir einen freundschaftlichen Schubs.

Auf dem Pul-e-Khishti-Bazaar sorgt der Auftritt des berühmten Hasir Zaman aus Paris für Aufregung. Wildfremde Leute stürzen auf ihn zu und wünschen ihm Gesundheit, halten seine Hand. Dem Onkel scheint das alles unangenehm. Behrooz ist damit beschäftigt, ihm das Gedränge vom Leib zu halten. Ich wittere die Gelegenheit wegzulaufen, bevor sie mich wieder in die Schule zurückbringen. Als ich mich in Richtung der Teppichgasse schleiche, landet Behrooz’ schwere Hand in meinem Nacken. »Mach jetzt keinen Ärger, Sameer-jan. Dein Onkel ist ein guter Mann. Er wird für dich sorgen.«

In einem Restaurant setzen sie mir einen Berg gewürzten Reis mit einem ganzen Fleischspieß vor. Der Onkel raucht, während er mir beim Essen zusieht. Er ist ein wohlhabender Mann in feinem Tuch, zu dem die Leute aufsehen, aber in seinen Augen spiegelt sich Traurigkeit. Ich fürchte seine Wut, die ihn manchmal wie ein böser Jinn überfällt. Dabei hat er alles.

Behrooz zeigt mir, wie man den leuchtenden Saft von Orangen und Granatäpfeln durch einen Strohhalm trinkt, es schmeckt himmlisch. Inzwischen ist mir nicht mehr schwindlig. Als er zahlt, schnappe ich mir den Halm aus dem Müll und stecke ihn heimlich in den Ärmel.

Bei einem Kleiderhändler hält der Onkel Jeans hoch.

»Das erlauben die Mullahs nie«, sagt Behrooz.

Der Händler zeigt Hasir ein paar Hemden mit passenden Hosen, er faltet ein Kleidungsstück nach dem anderen auf. Der Onkel lehnt die meisten ab, nachdem er die Stoffe angefasst hat, schließlich hält er mir ein paar Sachen hin, zum Anprobieren. Mir stockt der Atem. Wir haben im Waisenhaus seit Ewigkeiten keine neue Unterwäsche mehr bekommen. Behrooz stellt sich vor mich, und ich schlüpfe verschämt in Hemden, Hosen, Westen, Jacken, sogar Pullover für den Winter. Der Onkel will die Kleider von allen Seiten sehen, er zupft an den Ärmeln und inspiziert die Nähte.

Der Händler ignoriert mich, ich bin seiner Ware unwürdig. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, schließt der Onkel die Augen, als würden ihm die Worte des Mannes Schmerzen bereiten. Wahrscheinlich ist er nur müde. Es dauert ewig, bis er zufrieden ist. Am Ende lässt er den halben Laden einpacken und fragt nach Unterwäsche. Zehn Paar würden genügen, vorerst. Meine Ohren werden heiß.

Ein Schuhverkäufer drängelt sich mit einem Turm aus Kartons herein. Er bietet Hasir-sayb Lederstiefel und Turnschuhe an.

»Welche gefallen dir besser?«, fragt der Onkel.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

»Also beide«, sagt er.

Der Verkäufer streift einen Turnschuh über meinen linken Fuß, einen Stiefel über den rechten und drückt an den Zehen herum.

Der Onkel starrt auf die Schuhe. »Die sind doch viel zu groß.«

Der Verkäufer knüllt Zeitungspapier zusammen und stopft es in die Spitze. »Das sollte die richtige Größe sein, Sayb. Für später.«

Alle warten auf Hasir-saybs Urteil. »Gib mir die großen Stiefel, ein Paar große Turnschuhe, und dazu je ein Paar, das ihm jetzt passt«, sagt er. »Und zwar ohne Papier. Ich kann Provisorien nicht ertragen. Das Leben findet heute statt.«

Das Leben findet heute statt. Ist das so?

Die Augen der Händler leuchten gierig, als sie Zahlen auf Karton krakeln. Noch bevor ein Preis genannt wird, beginnt Behrooz zu handeln. Das werde ich nie zurückzahlen können.

Hasir-sayb schiebt mich nach draußen in die goldenen Strahlen der Abendsonne. Er zündet sich eine Zigarette an. Den Ruf des Muezzins scheint er nicht zu hören.

Bald kommt auch Behrooz mit Taschen und Schachteln beladen heraus. »Willst du dich nicht bei Hasir-sayb bedanken, Sameer-jan? Hast du kein Benehmen?«

Mein Gesicht brennt schon wieder vor Scham. »Ich kann Ihre Großzügigkeit nicht annehmen, Hasir-sayb.«

»Keine Ursache, Junge. Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann.«

»Ich bin Ihrer Güte nicht würdig, Sayb.«

Der Onkel bleibt stehen. »Tu mir einen Gefallen und freu dich einfach. Es sind nur Anziehsachen. Ich kann diese falsche Bescheidenheit nicht leiden, die sie euch hier eintrichtern. Ein einfaches Dankeschön genügt.«

Falsche Bescheidenheit.

»Ich danke Ihnen. Allah wird Sie belohnen«, sage ich. »Friede sei mit Ihnen!«

Der Onkel schnippt die Zigarette weg. Ein Bettler schnappt sich den glühenden Stummel.

Auf der Rückfahrt halten wir vor dem eleganten Hotel Serena. Der Onkel steigt aus. »Im Winter komme ich wieder. Bis dahin wird Behrooz ab und zu nach dir sehen.« Er reicht mir eine kleine Karte mit fremden Buchstaben und Zahlen durchs Fenster. »Hier ist meine Nummer in Paris. Wenn es wieder Probleme gibt, ruf an. Wenn du irgendwas brauchst oder krank wirst, bin ich immer für dich da.« Er sieht mir an, dass ich das nie tun werde. »Du kannst Behrooz Bescheid geben.«

Ich nicke, aber er ist nicht überzeugt.

»Sag dem Mullah, dass er Behrooz anrufen soll, und er wird sich sofort mit mir in Verbindung setzen.« Aber er weiß doch, dass ich die Karte nicht lesen kann, dass ich weder ihn noch Behrooz anrufen werde. Weil ich noch nie jemanden angerufen habe. Weil ich niemanden kenne. Weil ich ein Niemand bin.

»Inshallah, Hasir-sayb.«

»Hör auf, mich Hasir-sayb zu nennen. Ich bin dein Onkel Hasir. Ich bin dein mamoon, verstehst du?« Er zeigt seine Zähne, die wie Perlen glänzen. »Ich werde dir einen Tutor besorgen, der wird dir Englisch beibringen. Privatunterricht. Es ist die Sprache der Zukunft. Ich möchte, dass du hier eines Tages weggehst, studierst, etwas aus dir machst.« Jeder weiß, dass das nie passieren wird.

»Vielen Dank, Hasir-sayb. Ich meine, Onkel Hasir. Friede sei mit Ihnen!«

Als der Onkel im Hoteleingang verschwindet, sagt er etwas in seiner Sprache, Französisch. Es klingt sanft und wird von kleinen Explosionen im Mund begleitet. Zwei Männer in Uniform salutieren ihm. Onkel Hasir. Ich habe keinen Onkel. Meine Mutter ist tot. Ich bin kein Zaman. Ich bin allein.

Ich muss bald verschwinden. Bald.

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