Читать книгу Oder sind es Sterne - Eva Munz - Страница 13

LEUTNANT RYDER NEW MEXICO

Оглавление

DIE HERUNTERGEKOMMENE RANCH liegt verlassen in der Prärie New Mexicos. Nichts verrät, dass sich hier das Trainingslager einer Eliteeinheit verbirgt. Ein überwucherter Mähdrescher und eine wackelige Windturbine ragen in das Brachland. Insekten surren, die Luft riecht faulig.

Als Ryder und Kellogg wortlos aus dem Wagen steigen, taucht ein schmächtiger Mann in eng anliegendem roten Samtanzug auf und begrüßt die beiden enthusiastisch. »Willkommen! Ich bin Sakchin, euer Coach, Manager, Ernährungsberater, Trainer, alles in einem.« Er spricht mit indischem Akzent, seine Augen leuchten neugierig über dem wilden Bart, das Hemd ist bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, die Haare fallen bis auf die Schultern. Auf der knochigen Brust baumelt ein Amulett mit dem Schwarz-Weiß-Porträt eines bärtigen Weihnachtsmannes. »Seht euch um, bis die anderen kommen. Haviland baut in der Scheune die Schlafplätze auf, er kann ein paar helfende Hände brauchen.«

Kellogg bedient den quietschenden Pumphebel eines altertümlichen Brunnens. »Wann ist Appell, Sir?«

Sakchin schmunzelt. »Heute Abend gibt es ein großes Lagerfeuer, da werden wir uns alle kennenlernen.«

Kellogg sieht Ryder fragend an.

In der Scheune treffen sie auf ein Muskelpaket im Unterhemd, auf dessen Schulter ein Tattoo prangt: Alle haben etwas gegeben, manche haben alles gegeben. Er stellt sich mit überraschend sanfter Stimme als Haviland vor. »Ihr seid die Joker aus San Diego«, sagt er kryptisch und gibt ihnen Matten und Baumwolllaken.

Nach und nach finden sich fast zwanzig Soldaten ein, die wie zufällig aus Army, Luftwaffe, Marines und Küstenwache zusammengewürfelt scheinen. Kellogg und Ryder sind die einzigen Marines.

Jamie, ein schlaksiger Bastler, installiert bedächtig Moskitonetze im Raum. »Soll fiese Insekten hier geben, kenn ich aus der Karibik. Ich hab vorsichtshalber Netze für alle gekauft.«

Der gut aussehende Anwar mit scharfen, dunklen Zügen strahlt Kellogg an. »Du musst Kellogg Shaikh sein«, sagt er. Selbst seine Zähne sind perfekt. »Ich bin der andere Mossie, meine Großeltern stammen aus Ägypten.«

Santiago Morales, eher klein und bullig, entdeckt beim Auspacken einen Skorpion am Boden. Das Tier hebt seinen Stachel. Morales tritt genüsslich drauf, es knirscht unter seinem Stiefel.

»War das nötig?« Haviland verzieht das Gesicht. »Das war ein Geißelskorpion, genau genommen eine ungiftige Spinne.«

»Auf die Viecher kann ich verzichten.« Morales bekreuzigt sich. »Ich gehe keine Risiken ein. Weder für mich noch für einen von euch.«

Ein nervöser Typ im Overall und mit randloser Brille räuspert sich. Er wendet sich Morales in einer seltsamen Sprache zu. Der antwortet auf Englisch. »Nicht schlecht, hast dir den Namen Zulu verdient. Den Dialekt sprechen höchstens noch ein paar Tausend von uns.« Fragt sich nur, was er damit in New Mexico anfangen soll, denkt Ryder.

Brook ist schon etwas älter, er hat ein riesiges, himbeerfarbenes Feuermal im Gesicht. Er war bei der Navy und ist später mit dem Geheimdienst auf der Welt herumgekommen. »Spezialgebiet Charakterstudien.« Er mustert Ryder. »Du bist das Ass der Aztecs.« Ryder und er stoßen die Fäuste gegeneinander.

»Respekt, Mann«, sagt der einzige Schwarze im Raum.

»Das ist Tyrone, ein legendärer Scharfschütze«, ergänzt Brook mit einem entwaffnenden Grinsen, das sein Feuermal zum Leuchten bringt. »Ich sehe schon, das wird ein Spaß mit euch.«

Als der General abends vor dem offenen Feuer aufmarschiert, wird nicht einmal salutiert. Alle sitzen entspannt auf dem Boden herum.

»Unsere Spezialeinheit hat den Codenamen Drishti. Weiß je-mand, was das Wort bedeutet, Drishti?«, fragt der General.

Ryder spielt Kopf-Bingo und lässt die einzelnen Buchstaben in Gedanken wie auf einer Anzeigetafel flattern.

Shritid. Thrisid. Ithrisd.

Ihm fällt nichts Brauchbares ein. Es muss eine Abkürzung sein.

Der General zeigt auf ihn. »Was meinen Sie, Ryder? Drishti?«

Ryder spürt, wie er rot wird.

»In Ihnen rattert es doch, Leutnant. Spucken Sie’s aus!«

Ryder steht auf. »Sir, ich glaube es ist ein Akronym.«

»Interessant. Wofür sollen die Buchstaben stehen?«

»Akronym?«, flüstert Kellogg von unten herauf und kitzelt ihn mit einem Strohhalm an der Wade. Ryder stampft auf, aber das Kitzeln wird stärker. Er wird sich mit dem Akronym lächerlich machen. »Sir, Drishti steht für Delegation radikal intelligenter Soldaten mit hervorragendem und totalem Insiderwissen.« Ryder hat es ausgesprochen. Laut. Er kann es nicht mehr zurücknehmen.

Der General nimmt ihn mit seinem stählernen Blick auseinander. »Delegation intelligenter Soldaten mit hervorragendem was, bitte?«

»Delegation radikal intelligenter Soldaten mit hervorragendem und totalem Insiderwissen, Sir.«

Der General klatscht. »Falsch, aber genial.«

Ein Raunen geht durch die Gruppe, Santiago pfeift anerkennend. Anwar grinst Ryder mit seinen perfekten Zähnen an, und Ryder erschrickt, als Zulu ihm auf die Schulter klopft. »Drishti ist kein Akronym. Es ist ein Wort aus dem Sanskrit.«

»Korrekt, Zulu.« Der General deutet zwischen seine Augen. »Es bedeutet so viel wie drittes oder allsehendes Auge. Sie werden hier lernen, Ihre Wahrnehmung zu schärfen. Drishti ist ein völlig neues Militär-Programm, ein Labor, ein Thinktank. Wir experimentieren mit neuen, innovativen Techniken psychologischer Kriegsführung. Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben wir es mit einem neuen Feind zu tun, Terrorismus. Terrorvereinigungen wie Al-Qaida arbeiten in dezentralisierten Splittergruppen, die zu einem Netzwerk gehören. Was hält sie zusammen?«

Keiner antwortet. Brook meldet sich gelangweilt, aber der General übergeht ihn.

»Morales, was hält diese Kämpfer zusammen?«

Morales steht langsam auf und sieht sich um. »Ein starker Anführer?«

»Genauer, Morales! Wer ist dieser Anführer? Wie heißt er?«

»Es ist keine Person, keine richtige.« Morales faltet die Hände zum Gebet und blickt nach oben. »Es ist Gott. Ihr Gott, Allah.«

»Korrekt, Morales. Moderne Terrorgruppen kann man nicht an ihrer Arbeitsweise erkennen. Moderner Terror definiert sich über eine Art zu denken, über den Glauben an etwas. Wir werden hier versuchen, uns in andere hineinzudenken. Dazu müssen wir zuerst uns selbst verstehen lernen. Sakchin wird Ihnen dabei helfen.«

Am nächsten Tag werden die Arbeitsaufgaben der Kommune, wie Sakchin es nennt, verteilt. Ryder wird beauftragt, abends das Lagerfeuer in Gang zu bringen. Brook zaubert im Dämmerlicht VHS-Kassetten, einen Videorekorder und einen alten Fernseher hervor. »Ich hab ein paar alte Lehrfilmchen aus dem CIA-Archiv hier«, sagt er verschmitzt. »Eher alte Schule.«

Auf der Ranch gibt es kaum Elektrizität, nur das wenige, was die alte Windmühle generiert. Jamie bringt das improvisierte Kino mit einer Autobatterie in Gang.

Der General stellt sich vor den Monitor. »Was Sie hier sehen werden, ist das genaue Gegenteil von dem, wie wir arbeiten wollen. Damals verließ man sich auf technische Geräte. Geheimagenten, die im Auftrag ihrer Regierungen die Welt unsicher machen. Aber sowas überlassen wir dem CIA. Wir suchen nach Glaubenskriegern, nach Männern, die ihren Kampf spirituell verstehen, die ihr Leben dafür lassen würden, unabhängig von ihrer Nation. Uns interessieren flexible Splittergruppen von Jakarta bis Algier. Wir haben es mit einem Vexierbild zu tun. Amüsieren Sie sich.«

In den unfreiwillig unterhaltsamen Filmen werden alte Geheimdienstmanöver nachgestellt. Männer in Hawaiihemden, das Mikrofon in der verspiegelten Pilotenbrille versteckt, flanieren durch tropische Parkanlagen und flüstern sich hinter Eiskugeln Geheimcodes zu. Verführerische Agenten-Fräuleins lassen vergiftete Maraschino-Kirschen in feindliche Cocktails plumpsen. Baupläne von Nuklearsprengköpfen werden mit Spionkameras abgelichtet, Tresortüren in die Luft gesprengt, Wolgas jagen durch einsame Schneelandschaften.

»Diese Bilder erinnern mich an etwas«, sagt der General, als die Show vorüber ist, »an etwas, an das ich mich gar nicht erinnern kann. Hollywood und die Medienberichterstattung haben so viel von dem geprägt, was wir zu wissen glauben. Unser Ziel ist es, diese Vorstellungen, dieses kollektive Bewusstsein gezielt wieder zu verlernen. Die Bilder haben riesige tote Winkel in unseren Köpfen produziert, welche die Terrororganisationen ausnutzen. Ich glaube sogar, dass die Extremisten uns etwas voraushaben mit ihrem Bilderverbot. Die Bilderflut des westlichen Kapitalismus hat uns blind gemacht. Ich sehe das gerade ganz deutlich.« Der General starrt mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. »Wir müssen anders sehen lernen, damit wir Attentate im Vorfeld stoppen können. Hellseherisch. Mit unserem dritten Auge.«

Als die Drishtis später in ihren Laken in der Scheune liegen, fragt Kellogg vorsichtig ins Dunkel: »Wie ernst meint der General das eigentlich mit dem Hellsehen?«

Jamie setzt sich auf. »Wenn der General so begeistert vom Bilderverbot ist, warum trägt dann Sakchin das Porträt von diesem indischen Sektenführer um den Hals? Das ist doch Idolatrie.«

»Ehemaliger Sektenführer. Osho hieß der, ist inzwischen tot«, sagt Haviland. »Hatte in Oregon eine Sex-Kommune aufgezogen. Rajneeshpuram. Ich bin ein paar Meilen weiter nördlich aufgewachsen.«

Ryder wird hellhörig. »Sex-Kommune? Wie bei den Mansons?«

»Auch durchgeknallt, aber anders«, sagt Haviland. »Wir sind oft mit dem Moped nach Antelope gefahren, nur um uns diese Irren in ihren roten Roben anzuschauen. Dort habe ich auch den General zum ersten Mal gesehen.«

»Im Ernst?« Auch Tyrone wird aufmerksam.

Ryder knipst seine Taschenlampe an und leuchtet Haviland damit ins Gesicht. »Du wusstest das und bist trotzdem hierhergekommen?«

»Der General weiß, dass ich es weiß. Er weiß auch, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich von Rajneeshpuram weiß. Ich dachte, ich sehe mir das mit meinen eigenen drei Augen an.«

»Sie haben ihn deswegen beim Militär nicht rausgeschmissen?«, fragt Zulu ungläubig.

»Im Gegenteil«, sagt Haviland. »Sie haben ihn ins Stargate-Projekt aufgenommen und sich dort von Oshos Ideen inspirieren lassen.«

»Was ist denn Stargate?«, fragt Kellogg.

»Ein progressives Militärprojekt der Siebziger- und Achtzigerjahre«, sagt Brook und malt jetzt mit seinem Lampenschein Kreise an die Scheunendecke, »bei dem New-Age-Techniken zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt wurden. Hypnose, Fernwahrnehmung, Hellsehen. Alles schön vom Senat bewilligt. Da muss verrücktes Zeug passiert sein. Die Stargate-Typen haben angeblich Ziegen hypnotisiert, bis sie umgekippt sind. Herzstillstand.«

Ryder beißt sich in die Wange, plötzlich unsicher, auf was er sich mit Drishti eingelassen hat.

»Ein paar Marines haben bei Stargate immerhin versucht, mit neuen Trainingsmethoden zu arbeiten und anders an die verkrusteten Feindbilder heranzugehen«, sagt Brook. »Beim CIA sind wir wirklich zu lange dem verstaubten Hollywood-Drehbuch gefolgt. Ich hab noch in Schlaghosen sowjetische Atomwissenschaftler zum Überlaufen gebracht. Plötzlich war der Kalte Krieg vorbei. Unter Clinton wurde ich nach Tansania versetzt, es sollte ein langweiliger Strafposten werden. Als in Daressalam dann die Botschaft in die Luft flog, saß ich in einer Hotelbar bei meinem zweiten Manhattan. Es war halb elf am Vormittag. Al-Qaida hat uns kalt erwischt. Wir wussten gar nicht, nach wem wir suchen sollten, weil von den meisten Leuten keine Fotos existieren.«

»An dem toten Winkel ist schon etwas dran«, sagt Anwar. »Der Islam ist kaum in Bildern kanonisiert, wir haben unseren Glauben ganz anders verinnerlicht. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke, aber bei uns entwickelt jeder seine eigene Vorstellung, ganz individuell. Deshalb sind wir, was den Glauben anbetrifft, vielleicht nicht so leicht manipulierbar. Was meinst du, Kellogg?«

»Oder genau umgekehrt«, sagt der, »leichter manipulierbar? Beides?«

»Jedenfalls verausgabt sich der Westen beim Schattenboxen.« Zulu stößt ein paar Fäuste in Ryders Lichtkegel.

»Ich glaube, der General will es noch einmal wissen, bevor er pensioniert wird«, sagt Haviland. »Er will den Leuten im Pentagon et was beweisen. Drishti ist sein letzter Versuch, Geschichte zu schreiben.«

»Wenn die uns mit Ziegen oder sonstigem Tierzeugs kommen, bin ich raus.« Morales zieht sich das Laken über den Kopf. »Und jetzt haltet endlich das Maul.«

Das Kommunenleben auf der Ranch, Sakchins sonderbares Trai-ningsprogramm und sein Hippie-Vokabular sind gewöhnungsbe-dürftig, aber im Prinzip harmlos.

Sakchin spricht viel von Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. Das Ego sei der größte Feind einer erfolgreichen Organisation, Einsicht in die eigenen Schwächen fundamental. Menschen hätten bei Drishti einen viel höheren Stellenwert als Maschinen, geistige Stärke sei wichtiger als körperliche, unreflektiertes Gruppendenken bedeute den Tod. Er wird ihnen das Denken neu beibringen, sie von Konventionen und Vorurteilen befreien.

Atmen ist Sakchins Lieblingsthema. Schöner, besser, lauter, gleichmäßiger atmen! Atmen wie die Brandung des Ozeans. Atmen und meditieren, an nichts denken oder, besser noch, überhaupt nicht denken. Ryder machen das Nichtstun und Nichtsdenken nervös. Außerdem nörgelt Sakchin ständig an seinem Körper herum. Er behauptet, die Muskelmasse würde ihn schwerfällig machen. Es hat Ryder Jahre gekostet, seinen Panzer aufzubauen. Laut Sakchins blumiger Doktrin bräuchten Drishtis die Ausdauer eines Kamels, die Geschwindigkeit einer Gazelle und die Flexibilität einer Schlange.

Zum Abnehmen scheucht der General ihn im Morgengrauen raus, für ein paar Meilen sogenannter bewegter Meditation, während die anderen noch gemütlich in der Scheune träumen. Bei einem dieser Läufe beobachtet Ryder, wie Anwar und Kellogg gemeinsam ihre Gebetsteppiche aufrollen, lachend. Sie sehen ihn nicht.

Nach wenigen Wochen ist Sakchin einigermaßen zufrieden. Sie würden sich endlich bewegen wie exotische Katzen, die den großen Diamanten aus dem Palast stehlen wollten. Als Krönung will er jedem ein geheimes Mantra geben. Eine Art Gebet, das sie immer dann einsetzen sollen, wenn sie unter Druck stehen, wenn das Adrenalin steigt und die Fluchtreflexe überhandnehmen. Das Mantra würde für Klarheit, Ruhe und innere Stärke sorgen. Sakchin hat es auf die persona eines jeden zugeschnitten. Warum kann der Typ nicht einfach Person sagen?

Sakchin geht vom einen zum anderen, hält Hände, schaut in Augen und atmet mit jedem eine Runde, bevor er jedem dieses Mantra zuflüstert. Morales’ scheint kurz zu sein. Warum stellt Brook bei seinem so viele Fragen? Jamie ist zuerst skeptisch, scheint dann aber amüsiert. Zulu ist so ergriffen, dass er sich Tränen unter der Brille wegwischt. Kellogg lehnt seinen rasierten Kopf zu Sakchin und jault dann mit kindischer Begeisterung. Er gibt Sakchin und Anwar ein High-Five und streift Ryder mit einem komischen Seitenblick.

Ryder wird das nicht an sich heranlassen, das Mantra nicht und keines dieser ungebetenen Gefühle. Er wird sich nicht von einem Irren aus einem Sex-Kult sein Motto vorbeten lassen. Er wird sich einfach ein neues ausdenken.

»Für dich habe ich was ganz Spezielles, Ryder«, sagt Sakchin. »Du strahlst so einen intensiven Lebenswillen aus.« Sakchin hält den Atem an, lange, lässt ihn wieder ausströmen und reinigt dabei seinen Körper von allem Übel der Welt, wie er zu sagen pflegt. Ryder macht es ihm halbherzig nach.

»Dein Mantra ist relativ komplex. Du musst es an deine Atmung koppeln. Du wirst es lieben.«

Ryder spürt die Aufmerksamkeit der anderen.

»Bereit?« Ein harziger Geruch geht von Sakchin aus, intensiv, aber nicht unangenehm. Er flüstert Ryder ins Ohr, und es ist, als würde er ihm direkt in die Seele hauchen. »Einatmen: Wieso? Luft anhalten: Weshalb? Ausatmen: Warum? Was soll’s? Versuch dir die Worte vorzustellen.«

Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?

Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?

Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?

Ryder atmet mit den Worten, er atmet im Rhythmus der Silben tief ins Zwerchfell. Gelassenheit breitet sich in ihm aus. Ruhe.

Sein Mantra ist genial!

Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?

Als Ryder später wie gewohnt das Lagerfeuer vorbereitet, kündigt der General eine spirituelle Zeremonie an. Ein peruanischer Schamane fährt in einem klapprigen Ford Mustang vor. Mit seinen ausgetretenen Flip-Flops, der chullo-Mütze und dem T-Shirt mit der Aufschrift pura vida sieht er eher wie die verwahrlosten Gangster aus Ryders alter Nachbarschaft San Ysidro aus. In einem Kessel über dem Feuer kocht der Schamane Kräuter und murmelt dabei einen Sprechgesang.

»Der Tee hier öffnet den präfrontalen Kortex«, sagt der General. »Dort sitzt einer der primitiveren Bereiche unseres Gehirns, die Psyche, das Unterbewusstsein. Es werden starke Gefühle hervorbrechen. Wir schicken Vergangenheit und Zukunft auf Kollisionskurs, und da kommen oft Erinnerungen hoch, die Sie vielleicht lieber vergessen wollen. Aber ich verspreche Ihnen, Sie werden ein tieferes Verständnis für sich und andere erlangen.« Der General bleibt mit seinem Blick an Ryder hängen. Vielleicht bildet er sich es auch nur ein. »Dieses Erlebnis wird Sie von den negativen Erfahrungen befreien, die Sie in Ihrer Entwicklung hemmen. Gute Reise!«

Nacheinander trinken die Männer von der verbeulten Blechtasse des Schamanen.

Plötzlich lässt sich Kellogg neben Ryder auf den Boden fallen, ist schon eine Weile her, dass sie sich unterhalten haben. Er nimmt einen großen Schluck und zieht eine Grimasse. Ryder benetzt nur die Lippen, der beißende Geruch steigt ihm in die Nase, der Geschmack ist widerlich. Für ihn ist die Vergangenheit recht gut aufgehoben, dort, wo sie ist. In der Vergangenheit.

»Stell dich nicht so an«, lacht Kellogg. »Zu Hause gibt’s wieder Margaritas.«

Die Drishtis schauen erwartungsvoll in die Runde.

Grillen zirpen. Der Schamane singt. Moskitos stechen. Feuer knistert.

Sonst nichts.

Tyrone greift nach einem brennenden Ast, schwingt ihn über dem Kopf. Dann steht der General auf und hüpft schwer atmend auf der Stelle. Das Lagerfeuer wärmt. Der Vollmond scheint herab. Kellogg nuschelt vor sich hin, die Lider auf einmal schwer, als hätte er gekifft. »Sarahs kleine Katze, überfahren. Kopf war noch intakt. Wusste gar nicht, dass es ihre Katze war. Seidiges Fell. So weich.« Er streicht sich über den kahlen Kopf. »Weiche Katze. Ich mochte Sarah. Dann ist sie weggezogen. Weg.« Eine Träne rollt Kelloggs Wange hinunter, glitzernd wie ein Diamant. Er wischt sie weg, strampelt sich aus seinen Kleidern und wirft sie ins Feuer. Ein goldenes Amulett blitzt auf seiner Brust.

Zulu faselt von seinem Papa, überglücklich, und knöpft sich den Overall auf.

Ryder will nicht an seinen Alten denken. Als die Tasse wieder an ihm vorbeikommt, nimmt er doch einen richtigen Schluck. Diesmal schleicht der Tee angenehm durch seinen Körper. Zuerst kitzelt es an Hals und Ohren, dann explodiert es scheinbar in ihm, als hätte jemand Wunderkerzen in seinem Kopf angezündet.

Ryder dreht sich vom Feuer weg, sieht hinaus in die Weite. Eine Schlange schlängelt auf ihn zu, richtet sich auf und spreizt ihren Hals. »Bist du bereit?«, zischt sie.

Ryder meint zu nicken, und schon verschwindet sie in der Wüste.

Das Gesicht des Generals, die Pupillen seiner drei Augen zu Stecknadeln verkleinert, schwebt nun vor ihm und saugt die Worte auf, die aus Ryders Mund lodern.

Erinnerungen. Ryders Alter im Badezimmer. Der Rauch seiner Zigarette im Neonlicht. Der Duschvorhang kreischt über die Stange.

Zzzwwwiiirrrschhhhh!

Wasser spritzt. Giftiger Atem. Schwielige Hände auf Kinderbeinen. Vaseline.

Ryder spürt nichts. Er sieht nur zu. Kaum anwesend.

Wut fährt in die zitternde Kinderhand, sie reckt sich nach dem Vorhang, zieht ihn vor dem Alten zu. Die Ringe kreischen.

Zzzwwwiiirrrschhhhh!

Schon ist die Fratze weg. Verschwunden. Licht.

Zurück am Lagerfeuer, richtet Ryder sich auf, wächst zu Kellogg empor. Sie wirbeln wie Funken ums Feuer. Draußen in der Wüste locken wabernde Regenbogenfarben, und die beiden werfen sich der bunten Ferne entgegen, dorthin, wo der Himmel auf die Erde trifft, bis die Ranch am Horizont abgleitet. Kelloggs Grinsen taucht in Ryders Lippen. Endlich!

Der Wind weht ein wundersames Lied herbei. Ein Chor nähert sich, in blaue Seide gehüllt.

Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?

Whiskey India Echo Sierra Oscar?

Whiskey Echo Sierra Hotel Alpha Lima Beta?

Whiskey Alpha Romeo Uniform Mike?

Violinen schwellen, die Seide wogt wie die Tränen in einem gigantischen Auge. Ein kolossales Drishti, das dritte und allsehende Auge. Blau.

DRISHTI!

Oder sind es Sterne

Подняться наверх