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SAMEER KABUL

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KURZ VOR SONNENAUFGANG hat sich die Schlange noch gehäutet, dann ist sie eingegangen. Wie ein Geist zittert ihre abgestoßene Haut nun neben dem Kadaver in der Brise. Ein süßlicher Geruch hängt in der Hütte, die sich an den Berg im Norden der Stadt klammert. Der Tanz der Cobra sollte mein kaputtes Auge heilen, Mullah Usmeen und ich haben den ganzen Weg durch Kabul umsonst zurückgelegt. Der Mullah kräuselt seine Nase – sie ragt wie eine gebrochene Flöte aus seinem faltigen Gesicht – und spricht dem Schlangenbeschwörer Trost zu. Dann machen wir uns auf den Rückweg ins Waisenhaus.

Der rostige Ventilator hängt untätig von der Decke des Klassenzimmers, es ist unerträglich heiß diesen Sommer. Wir haben schon lange keinen Strom mehr. Unsere Stimmen verschmelzen beim Aufsagen der Sure, die besagt, dass nur Allah die Vögel in den Lüften hält. Wenn ich Flügel hätte, ich würde sie ausbreiten, den Wind durch die Federn wehen lassen und davonfliegen. Aber ich sitze hier am Boden fest.

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre unsichtbar und niemand könnte mein rotes Teufelshaar oder meine Sommersprossen sehen, niemand würde seinen Blick von meinen grünen Augen abwenden müssen. Ich wünschte, niemand könnte erkennen, dass ich der Sohn einer Hure bin, die sich von einem sowjetischen Dreckschwein hat nehmen lassen. Die Sünden meiner Mutter stehen in meinem Gesicht geschrieben. Jeden Tag muss ich dafür büßen. Einmal habe ich mir freiwillig eine widerliche Schnecke übers Gesicht kriechen lassen, in der Hoffnung, der Schleim würde die Punkte wegradieren, vergeblich. Früher wurde ich nur gehänselt, inzwischen haben sich alle gegen mich verschworen, und sobald die Erwachsenen wegsehen, bin ich fällig.

Irfahn wirft einen Kiesel auf meine takke, seinen Tritten habe ich das zugeschwollene Auge zu verdanken. Zu dritt haben sie mich verprügelt in jener Nacht, so schlimm war es noch nie. Ein andermal haben sie mir im Schlaf die Haare angezündet. Sie nutzen jede Gelegenheit, um mich zu quälen. Ich würde das Unheil anziehen, sagen sie. Langsam glaube ich es selbst.

Ich hätte schon lange abhauen sollen, weit weg von hier, aber am Ende traue ich mich doch nie. Die Bärtigen sammeln Buben von der Straße ein, bringen sie in die Berge und zwingen sie, schlimme Dinge zu tun, von denen nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Im Frühling sind sie im Hof der Schule vorgefahren und haben AliAli geholt, er war der Einzige, der mich in Ruhe ließ. AliAli hieß eigentlich Ali, aber weil er alles doppelt und dreifach sagte und sich immer hin und her bewegte, nannten ihn alle AliAli. Er litt unter Anfällen, bekam oft Krämpfe, einmal quoll sogar Schaum aus seinem Mund. Meistens schwebte er auf einer Wolke des Glücks. Ich beneidete ihn, trotz der Krämpfe. Die Bärtigen kitzelten AliAli, und er wirbelte im Kreis wie ein besessener Derwisch. Mullah Usmeen kam angerannt und bat sie, ihn in Ruhe zu lassen. Er appellierte an den Glauben der Männer. Sie stießen den Mullah in den Dreck und warfen AliAli auf die Ladefläche ihres Wagens, dort, wo das Maschinengewehr befestigt war. Als sie abfuhren, winkte AliAli vom Wagen, lachend. Selbst Irfahn wischte sich Tränen weg.

Seitdem weiß ich, dass wir auch hier nicht sicher sind und dass die Gelehrten uns nicht schützen können. Das Böse lauert überall.

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