Читать книгу Oder sind es Sterne - Eva Munz - Страница 8

HASIR ZAMAN PARIS

Оглавление

DU STELLST DICH MIT DEINEM französischen Namen vor, Henri.

»Inès?«, sagt die Kellnerin, als sei sie sich nicht ganz sicher. Ihre großen Augen schwimmen unter schweren Lidern, die Wimpern werfen Schatten auf die hohen Wangenknochen, ein leichter Überbiss ragt zwischen den vollen Lippen hervor. Die Haut schimmert oliv. Das eigensinnige Haar ist mit einem dieser roten Haushaltsgummis halbherzig zum Chignon gezähmt. Die Nase war offenbar einmal gebrochen. Jeder Chirurg könnte das wahrscheinlich ambulant wieder in Ordnung bringen. Ihrer Stimme gibt es immerhin ein charmantes Timbre, als sei sie erkältet. Die dünnen Arme scheinen achtlos am mageren Körper angebracht. Als klassische Schönheit kann man sie nicht bezeichnen.

Aber sobald sie sich bewegt, fügt sich alles zu einer eigenwilligen, betörenden Choreografie. Es ist, als würde man durch die Schlitze eines Zoetrops blinzeln und das Pferd zum ersten Mal im Flackern des Lichts galoppieren sehen. Etwas Unheimliches und zugleich Vertrautes geht von ihr aus. Du hast auf einmal Sehnsucht. Heimweh. Ein körperliches Verlangen, das du seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hast.

Sie muss ziemlich verzweifelt sein, wenn sie im Chez Farida arbeitet, dem marokkanischen Restaurant, welches dein Freund Ziad geerbt hat. Ziad ist ein Ausbeuter und nicht gerade dafür bekannt, sein Personal fair zu behandeln. Du kennst ihn seit Studienzeiten, ein Playboy, der mit Baseballkappe und zerrissenen Jeans versucht, von Haarausfall und Midlife-Crisis abzulenken.

Das Restaurant ist wie immer voll, aber heute nimmst du die bobos und Touristen, die sich vom Marais hierher verlaufen haben, kaum wahr. Deine Aufmerksamkeit gilt nur ihr. Als sie wieder an deinen Tisch kommt, hinten am Fenster, fragst du, ob sie den Bordeaux oder den Wein aus dem Rhone-Tal empfehlen würde.

»Möchten Sie probieren?«, fragt sie angespannt, sie muss spüren, dass Ziad sie beobachtet.

Ziad sehe nicht her, behauptest du. Gelogen.

»Bouf! Bei dem weiß man nie. Ich bin neu hier. Haben Sie schon ein Gericht gewählt?« Auf ihrer Bluse zittern Fettspritzer, knapp über der Brust, ein krummes Ausrufezeichen, wie von einem Kind gezeichnet.

Die Speisekarte, geografisch unverbindlich, kennst du auswendig: Soupe à l’Oignon, Couscous Marocain, Boeuf Bourguignon. Die Tajine Farida ist nach Ziads Mutter benannt, die dafür Kalbfleisch statt Lamm verwendet hat. Angeblich soll die Matriarchin die Kälber eigenhändig geschlachtet haben. Du nimmst die Tajine, und Inès verschwindet in der Küche.

Ziad schlendert an deinem Tisch vorbei. »Eine manouche, keine Papiere, Zigeunerpack. Legasthenikerin, ein Wunder, dass sie überhaupt eine Bestellung aufnehmen kann. Unzuverlässig, kein Zeitgefühl. Sei bloß vorsichtig. Die kommen und gehen, können nicht anders. Sie hat es auf dein Geld abgesehen.« Trotz seiner abfälligen Worte scheint auch er fasziniert. Aber ihre Blicke gelten dir.

Später räumt sie den schweren Tontopf ab, die Tajine hast du kaum angerührt. »Nicht hungrig?«

Nicht besonders. Du fragst Inès, ob sie hungrig sei. Du willst, dass sie stehen bleibt, willst ihre heisere Stimme hören. Sie überlegt einen Moment.

»Immer, nur nicht nach Essen.« Melancholie schwingt in ihrer Antwort mit.

Ob sie Lust hätte, nach der Arbeit auszugehen, ihr könntet gemeinsam hungrig sein.

Sie schnalzt mit der Zunge und wendet sich ab.

Vor dem Restaurant zündest du dir eine Filterlose an und wartest trotzdem. Der Nieselregen verschleiert die Straßenbeleuchtung. Als Inès endlich herauskommt, zerrt sie den Gummi aus den Haaren, und ihre wilden Locken springen in der Feuchtigkeit auf. Sie nimmt einen Zug von deiner Zigarette, pflückt Tabakkrümel von ihren Lippen und bläst perfekt geformte Rauchringe in die Herbstluft.

»Wo willst du hin?«

In eine Bar?

Sie zuckt mit den Schultern, enttäuscht.

Les Bains?

»Ich sehe verboten aus.«

Sie könnte sich umziehen. Wo sie wohne?

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich jemals in diese Gegend verläufst.«

Du bietest an, sie zur Metro zu begleiten.

»Wie, das war’s jetzt? Wo wohnst du denn?«

In der Nähe. Drüben im 11. Arrondissement.

»Warum gehen wir nicht zu dir? Das Wetter ist grässlich.«

Das vorzuschlagen hättest du nicht gewagt, zu dieser Uhrzeit.

»Du bist zu höflich, um mich anzuspringen.« Sie zittert in der Kälte.

Dass es Unvermögen, nicht Höflichkeit sei, verkneifst du dir zu sagen.

Auf dem Weg hältst du den Schirm über ihren zerschlissenen Trenchcoat. Dein Maßanzug wird nass.

»Ist Ziad ein Freund von dir?«

Ihr habt beide an der Sorbonne studiert. Film, lange her.

Sie schweigt, und du überlegst, was eure Freundschaft wirklich ausmacht.

Im Aufzug schlägst du vor, ein paar Platten aufzulegen, obwohl dein Musikgeschmack dein Alter verraten wird. Wie alt Inès wohl ist?

»Ja! Tanzen.« Ein Lächeln erhellt ihre Züge. Es erstirbt, als sie aus dem Aufzug ins Penthouse tritt. Selbst höhere Töchter, die du früher oft in Clubs aufgegabelt hast, waren eingeschüchtert, wenn sie in die Wohnung kamen, obwohl sie weder besonders groß noch teuer eingerichtet ist. Keine Kunst an den Wänden. Manche loben die Aussicht über Paris, den offenen Kamin, andere das Zusammenspiel verschiedener Design epochen oder die ungewöhnliche Farbgebung. Letztes Jahr hast du die Sessel eines obskuren italienischen Möbelmachers in staubigem Lila neu beziehen und die Wände in der Farbe des Vergessens streichen lassen. Die Beleuchtung ist dir gelungen, sie verleiht den Räumen eine gelassene Eleganz. Das Filmstudium war nicht völlig umsonst.

Inès reagiert auf etwas anderes. »Was ist das für ein Geruch?«

Oud, erklärst du und zündest ein brüchiges Stück Agarholz an, das du einem Gauner aus den Emiraten für eine obszöne Summe abgekauft hast.

Sie atmet den Rauch ein und schließt die Augen. »Es riecht magisch!«

Du streifst die Schuhe ab und hängst ihren nassen Mantel auf, das Ausrufezeichen auf der billigen Bluse ist nun verlaufen, der Nagellack an ihren Zehen abgeblättert. Vor dem Bücherregal legt sie den Kopf zur Seite und zieht das kommentierte Drehbuch von Antonionis Il deserto rosso heraus.

Du fragst sie, ob sie gerne lese.

»Ich mag Geschichten, die mich an andere Orte transportieren, zu fremden Kulturen und Menschen. Ich bin aber eher ein langsamer Leser.« Es klingt, als würde sie sich eines Verbrechens bekennen.

Geschichten. Orte. Menschen.

Du überlässt sie den Büchern und setzt in der Küche Tee mit Nelken und Zimt auf. Im Schlafzimmer schlüpfst du in trockene Sachen. Dein Herz rast.

Als du zurückkommst, sitzt sie auf dem Teppich und ist in das Fotoalbum deiner Kindheit vertieft. Das lose Foto von einer Schulklasse in Kabul rutscht heraus.

»Wo ist das?«

Afghanistan.

Sie fährt mit dem Finger über das Foto.

Es sei ein Waisenhaus, das du finanziell unterstützt. Das klingt viel großzügiger, als es ist, denkst du und bist froh, dass sie nicht nachhakt. Du erwähnst nicht, dass der Junge mit den roten Haaren und den Sommersprossen auf dem Bild dein Neffe ist.

Die Personen auf den eingeklebten Bildern stellst du vor. Deine Eltern neben einem Sportwagen vor der Villa in Kabul, bei den Pyramiden in Ägypten, vor der Freiheitsstatue in New York. Andere Bilder zeigen deinen Vater in seinem Arbeitszimmer neben einer Godrej-Schreibmaschine, Bekannte aus LA und Beirut, die Lkw-Flotte des Familienunternehmens, Zaman Logistics, blühende Mohnfelder. Ein größeres deiner Eltern, auf einem Sofa mit König Zahir Shah in dessen Exil in Rom. Die Augen von allen dreien rot angeblitzt.

»Sie sehen aus wie Aliens.« Inès erkennt den Monarchen nicht.

Bei den Aufnahmen eines buzkashi-Turniers hält sie inne. Reiter jagen über ein offenes Feld, die weiß gepuderten Gipfel des Hindukusch dahinter ragen in den Technicolor-Himmel. Dein Vater hatte deine Schwester und dich mitgenommen, du warst noch ein kleiner Junge.

»Was ist das? Ein Pferderennen?«

So ähnlich. Ein Sport aus Zentralasien, erklärst du.

In der Handschrift deiner Mutter steht darunter: Uzma et Hasir 1976.

»Wer sind Uzma und Asir?«

Uzma sei deine Schwester. Hasir mit H, betonst du, das H werde ausgesprochen, wie bei den Arabern. Es sei dein afghanischer Name.

»Hhhhasir mit hasch. Ich mag den Namen.« Sie runzelt nachdenklich die Stirn.

Du seist aber kein Araber.

»Dann musst du etwas Besseres als Tee im Haus haben. Cognac? Mir ist kalt.«

Du holst eine Flasche alten Armagnac aus dem Küchenschrank, schenkst ihr ein und überlegst, selbst ein Glas zu trinken. Auf das bisschen Alkohol kommt es jetzt auch nicht mehr an. Du wirst wie immer versagen.

»Wolltest du nicht Musik auflegen?«

Grace Jones’ »Walking in the Rain« scheint dem Wetter angemessen.

Das Album auf dem Schoß, bewegt sich Inès zum Rhythmus und summt eine jazzige Gegenmelodie.

»Erzähl mir von dem Sport.«

Buzkashi sei Afghanistans Antwort auf Polo, sagst du. Zwei Mannschaften sogenannter chapandaz-Reiter versuchten, sich gegenseitig einen kopflosen Schafsbock abzujagen, den sie über ein Spielfeld zerren. Ziel sei es, den Kadaver vor dem Preisrichter abzulegen. Manchmal ginge so ein Turnier tagelang. Buzkashi sei in Zentralasien einmal sehr prestigeträchtig gewesen, doch Tadschiken, Usbeken und selbst Pakistanis hätten das primitive Spiel längst für modernere Sportarten aufgegeben. Nur die Afghanen hielten noch daran fest. Aus dir unerklärlichen Gründen.

»Beeindruckend, diese Bilder!«

Du hast sie seit Jahren nicht mehr angesehen. Die Fotos wirken wie eine Reportage aus dem Life-Magazine, dabei hat sie ein Teenager, Murtaza Sabari, aufgenommen. Murtazas Teleobjektiv ist ganz nah an die angestrengten Gesichter der Chapandaz herangekommen, die Mähnen der Pferde wie stürmische Pinselstriche, das Gebirge samtig in der Ferne. Dein Vater hat das Wunderkind der Sabari Studios oft beschäftigt, nachdem dessen Clan bei einem sowjetischen Luftangriff ausgelöscht wurde. Murtaza überlebte, verlor allerdings ein Bein. Du fragst dich, was wohl unter den Taliban aus dem Studio geworden ist.

»Das bist du, oder?« Inès zeigt auf das Bild eines Jungen, der aus einem roten Skianorak hervorgrinst. Deine kleine Schwester Uzma verzieht keine Miene. Dein Vater wollte sie zuerst nicht mitnehmen, es sei ein Männersport, aber Uzma konnte sich schon als Kind immer durchsetzen. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Er trägt den Siegelring mit dem eingravierten Halbmond, den du nach seinem Tod in einer Schachtel gefunden und dir an den Finger gesteckt hast. Inès blickt auf deine Hand, die an dem Ring herumspielt.

»Buzkashi klingt eher japanisch.«

Buzkashi sei ein primitiver Sport, das Gegenteil japanischen Feinsinns. Japaner würden sogar Sterben zur Kunstform stilisieren. Melancholie, Verfall und Vergänglichkeit würden dort als wesent licher Bestandteil des kreativen Schaffens und der Wahrnehmung von Kunst verstanden. Afghanistan hingegen serviere einem Leben und Tod mit der rohen Axt eines Schlachters, alles sei der Brutalität der Natur und den endlosen Kriegen unterworfen. Afghanistans Erde ist mit Blut getränkt. Sogar die Äpfel schmecken nach Fleisch.

Du spürst ein Pulsieren an der Stelle, wo sich eure Schultern berühren. Ihre Augen so nah, ihr Atem auf deiner Haut. Unerreichbar. Du wünschtest, sie würde aufhören, in deiner Vergangenheit her umzuwühlen, und fürchtest zugleich, sie würde sich mit dem Hasir der Gegenwart langweilen.

Wo sie herkäme?

»Herkunft ist nicht alles.«

Sie hat keine Ahnung von der Last eines Vaterlandes, beneidenswert.

»Warum hast du Afghanistan verlassen?«

Du hättest eine andere Kultur gesucht, um dich zu entfalten. Du hast dich mit den französischen Modegöttern befasst, mit den Künsten, der Politik, der Philosophie und dich vor allem im Dunkel der Kinos verzaubern lassen. Du genießt die Küche und bist sogar ihrer Akzent-, Zirkumflex-, und Cédille-befallenen Sprache Herr ge worden.

»Du bist lustig, Hasir.«

Zum ersten Mal in deinem Leben gibst du zu, dass du fast geweint hast, als du endlich den Pass der Grande Nation in deinen Händen gehalten hast. Die Arabesken des Stils, der Klasse und Verführung hättest du trotzdem nie ganz gemeistert. Obwohl du es lange versucht hast. Du wolltest französischer werden als die Franzosen.

Bei Gott, und wie du es versucht hast!

»Sssccchhhh! Hasir mit Hhhaasssccchhh!«

Inès’ Hände schlängeln sich durch die Oud-Schwaden, bis ein Finger auf deinen Lippen landet.

Eine einzige Geste, ein Sssccchhhh, und der Fluch des Unvermögens ist gebrochen.

Oder sind es Sterne

Подняться наверх