Читать книгу Seltene Erde - Eva Raisig - Страница 11
Russland, vorher.
ОглавлениеLenka hatte den Tipp, dass es hier etwas zu holen geben könnte, von einem Historiker in Sibirien, und der hatte irgendwo mal was darüber gelesen. So erzählte sie es zumindest Therese. Ein Abstecher von knapp viertausend Kilometern brachte sie von ihrer Konferenz in St. Petersburg in das Naturkundemuseum von Krasnojarsk und als sie dort mit dem Historiker vor der Vitrine mit den Meteoritenresten stand, zog er einige der beschrifteten Holzschubladen unter dem Glaskasten heraus, legte Lenka einen pflaumengroßen Meteoritensplitter auf die Handfläche und erzählte ihr von jenem Ort in Südamerika, den er für aussichtsreicher hielt als diese Gefilde. Vermutlich erschien ihm alles aussichtsreicher als die sibirische Tundra.
Lecken Sie mal dran. Er deutete auf den Meteoritensplitter. Sie zögerte nicht einmal. Nicht nur mit der Zungenspitze, sondern einmal ordentlich von einem Ende bis zum anderen. Ein metallischer Geschmack, vertraut auf eine Weise, etwas aus der Kindheit vielleicht, und gleichzeitig sehr fremd, aber auch an irdischen Steinen leckt man selten. Später knirschte es zwischen den Zähnen.
Alles lang her, sagte der Historiker und betrachtete die Meteoritenbrocken in der Vitrine, als hätten sie etwas mit Lenkas Anliegen zu tun. Alles lang her und auch in den Archiven ist nur das Bemühen dokumentiert, kein Kontakt. Es sei nicht einmal mehr zu sagen, wer ursprünglich die Idee gehabt habe, die Intelligenz außerirdischer Zivilisationen an einem Fundamentalsatz der euklidischen Geometrie festmachen zu wollen oder als wesentliches Merkmal der Menschen und als Botschaft fürs All ausgerechnet den Satz des Pythagoras mit Abertausenden von Steckrüben auf die Erde zu pflanzen. Hier sind wir, sollte das heißen. Hier sind wir und wir sind intelligent. Aquadratplusbequadratgleichcequadrat in strahlendem Steckrübengelb. Und zugegeben, sagte der Historiker, die Idee war ja nicht schlecht. Nur, wo macht man das, in der Größe? Er wartete einen Moment, dann breitete er die Arme aus, vollführte eine Vierteldrehung mit dem Oberkörper und zurück: Voilà, sagte er mit russischem Akzent. Jemand sei von einer Forschungsreise zurückgekommen, die einen völlig anderen Gegenstand gehabt habe, sei über den Ural zurück nach Europa gereist, habe zufällig von der Suche nach einem geeigneten Ort für eine kosmische Botschaft gehört und feierlich gesagt: Freunde: Sibirien. Mutmaßlich erstaunte Mienen. Später habe der Reisende aufgeklärt: Riesige Flächen habe er dort drüben gesehen. Karge Landschaft. Wie lange haben die Extraterrestler auf farblose Tundra geblickt aus ihren fremden Welten. Da fällt es auf, wenn es plötzlich blütengelb in den Himmel leuchtet. Gut, man muss eingestehen, dass es wirklich sehr groß sein müsste, um aus solch einer Entfernung noch sichtbar zu sein. Gigantisch geradezu. Allein die Menge an Steckrübenpflanzen, man stelle sich das vor. Was kostet das. Wer beaufsichtigt das. Und am Ende, sagte der Historiker, sind die ganzen schönen Überlegungen in Vergessenheit geraten, aber wer will es ihnen verübeln? Es gibt auf der Welt wahrlich andere Probleme, als Kontakt mit dem kosmischen Nachbarn aufzunehmen, oder nicht?
Kurz darauf war Lenka zurück nach St. Petersburg geflogen, um auf der Konferenz ihren Vortrag zu halten, und kaum einen Tag später hatte sie auf der Bank am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite gesessen. Therese drehte sich um, und da war sie. Sie rauchten eine Zigarette, und Lenka erzählte von ihrer Suche. Von der Frage, ob die Erde selten sei und intelligentes Leben ein rares Phänomen im Universum. Von den Außerirdischen und von diesem Ort. Kurz schien so etwas wie ein Ausweg auf: Man erzählt dir am westlichen Ende Russlands von der Suche nach einer anderen Welt und für ein paar gemeinsame Tage rücken Berlin und der Rest in wohltuende Ferne. Doch kaum zurück in Deutschland, war alles wieder da. Bis Therese Lenka Monate später an einem Busbahnhof in Argentinien wiedertreffen würde, zogen sich die Dinge zunächst zäh und schmerzlich in die Länge. Die Großmutter musste beerdigt werden und Therese versuchte, mit allerlei praktischer Unterstützung behilflich zu sein. Sie schrieb Adressen auf Behördenbriefe und klebte Briefmarken auf Umschläge. Sie klickte sich durch Vorlesungsverzeichnisse, schrieb sich für das zulassungsfreie Fach Verkehrswesen ein, um das günstige Zimmer im Wohnheim behalten zu können, und verbrachte die Tage in Embryonalstellung auf dem Bett. Eine ganze Weile hörten Lenka und sie nichts voneinander, dann schrieb Therese: Ich komme mit. Den Eltern sagte sie erst Bescheid, als sie die Bordkarte ausgedruckt hatte.
Südamerika? fragte die Mutter ungläubig.
Edel geht die Welt zugrunde, meinte der Vater zu den Reiseplänen seiner Tochter, mehr aber nicht.
Die Mutter: Du kennst diese Lenka doch kaum!
Damit hatte sie im Grunde recht. Aber bitte schön, sagte die Mutter, wenn du meinst, das Geld von der Oma auf diese Weise durchbringen zu müssen, tu, was du nicht lassen kannst.
Nach einer kurzen Pause dann aber doch: Und woher kennst du sie? Aus dem Sprachkurs?
Ja. Das heißt: so ähnlich. Ja.
So ähnlich?
Ich hab mich dort mal mit ihr unterhalten. Sie ist Muttersprachlerin. Also Russisch.
Du hast russisch mit ihr gesprochen?
Nein, natürlich nicht. Es war ein Drei-Wochen-Kurs für Anfängerinnen. A1. Da unterhält man sich nicht. Konversation kommt viel später. Deutsch. Sie kann Deutsch.
Und woher kennst du sie, wenn nicht aus dem Sprachkurs?
Das war bei so einem … also, eigentlich war es Zufall.
Zufall, Vorsehung, Wink des Himmels, man kann es nennen, wie man will. Irgendetwas davon brachte Therese in die St. Petersburger Peripherie, an den Finnischen Meerbusen auf russischer Seite, just in dem Moment, als auch Lenka dort auftauchte. Und eines kam zum anderen.
Es geht damit los, dass man eine Reise unternimmt, etwa um einen Sprachkurs in St. Petersburg zu absolvieren, etwa um den Zudringlichkeiten zu Hause zu entkommen und gleichzeitig die freie Zeit sinnvoll zu überbrücken, bis – tja, Mutter, bis was eigentlich? Jedenfalls nicht herumhängen. Therese sitzt vier Stunden vormittags in der Sprachschule, durchbrochen nur von einer viertelstündigen Kaffeepause, sagt: Здравствуйте меня зовут Терезе я из Германии изучаю то и это, was offenbar bedeutet: Hallo ich heiße Therese ich komme aus Deutschland ich studiere dies und das, kann allerdings, da Vergangenheitsformen erst später behandelt werden, in der fremden Sprache nicht formulieren, dass sie im Grunde nicht studiert, vielmehr studiert hat, erst das eine angefangen, dann das andere und dazwischen eine Ausbildung begonnen, kann nicht sagen, dass sie alles abgebrochen hat und nicht weiß, wohin mit sich, lernt also zunächst einfache Präsenskonstruktionen und Redewendungen des Alltags, erfährt von sechs grammatischen Fällen und der Kategorie der Belebtheit, die man irgendwann erreichen wird, wenn man es ernst meint mit der Sprache, aber meint sie es tatsächlich ernst, war die Sprache nicht der geringste Grund, warum Therese aufgebrochen ist? Sie trudelt also auch hier vor sich hin und stromert nachmittagelang durch die fremde Stadt. Über die Prospekts, die sogenannten Prachtstraßen. Wie soll es weitergehen? Das hier kann wohl kaum die Lösung sein. An pastellenen Häusern und beinamputierten Soldaten am Straßenrand vorbei, durch die Betonsiedlungen an den Rändern und irgendwann, es ist ihr Geburtstag, auch über die Stadtgrenzen hinaus ans Wasser.