Читать книгу Seltene Erde - Eva Raisig - Страница 14
Faustkampf.
ОглавлениеLenka dagegen hat Verpflichtungen, sich diesen aber vorerst entzogen. Oder wurde freigestellt. Wobei das Furcht einflößender klingt, als es soll, man ist hier schließlich nicht in der freien Wirtschaft, sondern auf einer internationalen Fachtagung für Astrophysik und Astrobiologie, will sagen: Es wird hier niemand rausgeschmissen, nur weil er vor den Augen der versammelten akademischen Würdenträger des Fachs seine Emotionen nicht unter Kontrolle hat.
Lenkas Vortrag zur Modifikation des Faktors L* der Lebensdauer technologischer Zivilisationen bei Inklusion der Hypothese einer nichtorganischen Gestalt extraterrestrischer Intelligenzen war schon Monate vorher abgemacht und gerade erfolgreich präsentiert worden, die Anfrage zu der unglückseligen Podiumsdiskussion fiel ihr dagegen erst Stunden vor Veranstaltungsbeginn in den Schoß. Ein Kollege hatte kurzfristig abgesagt, irgendeine unschöne Magen-Darm-Geschichte, aber seien interstellare Botschaften im weitesten Sinn nicht auch Teil ihres Forschungsgebiets? Mit etwas mehr Bedenkzeit hätte sich Lenka gegen diese Veranstaltung entschieden und einen Weg gefunden, ebenso bestimmt wie höflich abzusagen, so aber sah sie sich im Auditorium II des Kongresszentrums von St. Petersburg wieder, zwischen den quietschenden Polstern einer ausladenden Bühnenbestuhlung in den Landesfarben. Lenka im roten, neben ihr die Moderatorin im weißen Sessel, der ukrainische Professor in seinem karierten Dreiteiler auf strahlendblauem Kunstleder.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten eine Nachricht an E. T. verfassen, sagte die Moderatorin, laut Faltblatt Postdoc der Exobiologie an einer großen amerikanischen Universität. Sie machte eine Pause und lächelte in die ersten Reihen des Auditoriums, die das erbarmungslos auf das Podium strahlende Scheinwerferlicht, anders als den hinteren Teil des Raums, nicht in völliger Dunkelheit verschwinden ließ. Was würden Sie E. T. von sich und von der Erde erzählen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten? Das sei, herzlich willkommen, die Frage dieses Podiums, um dann durch weitere Fragen unser topic für die verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer noch etwas weiter einzugrenzen, auch wenn sie dabei vor allem den Ankündigungstext wiedergab, der im Faltblatt des Kongresses in drei Zeilen angegeben war: Was wollen wir den Aliens erzählen, wie kann sich die Menschheit auf eine Geschichte einigen, können wir verstanden werden und vor allem: Wollen wir überhaupt etwas erzählen? Damit sei man im Grunde schon in medias res des heutigen Nachmittags angekommen. Die Moderatorin wandte sich Lenka und dem ukrainischen Professor zu, der während der Ausführungen vergeblich eine würdevolle Position auf der großzügigen Sitzfläche des Sessels gesucht hatte. Ein kleiner Showkampf, sagte die Moderatorin lächelnd. Darf ich vorstellen, in der blauen Ecke Prof. Wolkow, der der Idee einer Kontaktaufnahme mit einer extraterrestrischen Intelligenz von jeher kritisch gegenübersteht, und zu meiner Rechten, in der roten Ecke, die Kollegin Jelena Belenkaja, die freundlicherweise eingesprungen ist, um einen Einblick in die Frage zu geben, wie eine interstellare Botschaft beschaffen sein müsste, um das Interesse der Fremden zu wecken und gleichzeitig ein möglichst umfassendes Bild unserer Erde zu vermitteln. Sie deutete auf das weiße Polster unter ihrem Hintern: I am Switzerland.
Am Anfang lief es gut und dann ging irgendetwas schief. Eben noch war es ein in jeder Hinsicht korrektes Zusammentreffen, man ließ einander ausreden, die jeweilige Position darlegen, es ist Wissenschaft und keine Politik, aber dann kam der Punkt, an dem die Sache aus dem Ruder lief. Die Moderatorin hatte eine Nachfrage zu den eher formalen Aspekten einer interstellaren Botschaft formuliert – welche Gremien müssen eingebunden werden, welche technischen Voraussetzungen braucht es, wer hat Zugang zu den entsprechenden Gerätschaften, wie lässt sich Schindluder ausschließen – und Lenka war in ihrer Antwort zunächst auf einige grundsätzliche Überlegungen eingegangen, hatte von Biosignaturen und industriellen Schadstoffen in den Atmosphären fremder Planeten gesprochen, die sich als mögliche Zeichen extraterrestrischen Lebens nachweisen lassen könnten, um dann auszuführen, welche Fragen bei einer Botschaft an außerirdische Zivilisationen beachtet werden müssten. Sie hatte Beispiele für bisherige Versuche an Zeitkapseln und Radiosignalen nachgezeichnet, in einem Rahmen, der auch die weniger mit der Materie betrauten Kollegen an den Fallstricken teilhaben ließ, die ein solches Projekt mit sich bringt, und gerade gesagt, die Frage sei nicht nur, wie wir uns überhaupt verständlich machten, sondern welche Rolle wir selbst in der Erzählung der Aliens spielen wollten, als der ukrainische Professor die Nerven verlor.
Sie Sie Sie –! Er fuchtelte über die Armlehne hinweg in ihre Richtung. Haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass eine solche Botschaft zu unserem Nachteil sein wird? Dass wir uns gut überlegen sollten, ob wir sie hierherlocken, mit welcher Botschaft auch immer? Bevor Lenka antworten konnte, fuhr der Professor schon fort, zart schäumende Spucke in den Mundwinkeln. Wenn uns die Geschichte der Menschheit eines gelehrt hat, rief er aufgebracht, dann doch sicherlich, dass es noch keiner Zivilisation gut bekommen ist, auf eigenem Territorium Bekanntschaft mit einer anderen Zivilisation zu machen! Das endet immer böse! Und wissen Sie, warum?
Lenka war wiederum gerade im Begriff, eine Antwort zu formulieren, doch just in dem Moment schien der Moderatorin ihre Aufgabe vollends bewusst zu werden, das eigene Wissen zugunsten der Zuhörer zurückstellen, Anwältin des Publikums sein usw. Lassen Sie uns noch einmal einen Schritt zurückma–
Aber da platzte dem Professor endgültig der Kragen. Ein kariertes Paket, in einem ausladenden blauen Sessel explodierend.
ICH WILL IHNEN SAGEN, WARUM ES UNS NICHT BEKOMMEN WIRD! Spuckespritzer sprühten im Scheinwerferlicht des Podiums. Die Moderatorin blinzelte irritiert. WEIL DIEJENIGEN, DIE ZU EINER SOLCHEN REISE IMSTANDE SIND, ODER SAGEN WIR: ZU EINER KONTAKTAUFNAHME, HÖCHSTWAHRSCHEINLICH NICHT DARAUF AUS SIND, IN DER FREMDE NUR EIN PAAR FREUNDSCHAFTEN ZU SCHLIESSEN! DENKEN SIE DOCH MAL NACH! ENTDECKEN WOLLEN DIE UND UNTERWERFEN, DAS ERZÄHLT UNS DIE GESCHICHTE! Und dann – er senkte seine Stimme –, dann kommen SIE – er bohrte seinen krummen Zeigefinger durch die Luft in Lenkas Richtung –, dann kommen SIE und Ihre Kollegen und wollen austüfteln, was wir am besten von uns preisgeben?! Ein paar Bilder? Das Zweite Brandenburgische Konzert? Neulich hörte ich gar: das gesamte Internet? NICHTS, sage ich, NICHTS! dürfen wir preisgeben. Das muss ein Ende haben, ein für alle Mal! Unsere Geschichten gehen niemanden etwas an! Wir suchen eine fremde Zivilisation und verlieren dabei ohne Zweifel unsere eigene! Ich sag Ihnen was: Es gibt Fehler, die können sich die Menschen nur ein einziges Mal erlauben. Und das hier – er fuchtelte keuchend in Lenkas Richtung –, das hier ist so ein Fehler!
Danke, Herräh Professor. Die Augenlider der Moderatorin flatterten. Flatterten, flatterten. Zwischendrin ließ sich ein Schlitz weißen Augapfels erkennen. Der Professor saß lauernd auf der Sesselkante. Er klopfte mit der Kuppe des Zeigefingers vorsichtig gegen den Knopf in seinem Ohr, blickte hoch zu den Kabinen mit den Simultandolmetschern, die als Spielerei eigens für die Konferenz installiert worden waren, als wäre man hier beim UN-Sicherheitsrat, dann schien ihm sein Denkfehler bewusst zu werden: Es lag nicht an menschlichem Versagen oder an der Technik, es lag daran, dass Jelena B. nicht sprach. Beinah sanft wandte er sich nun in ihre Richtung. Werte Kollegin, was suchen Sie da eigentlich? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber das hier kann doch keine Erbauungsphilosophie sein, um schwache Gemüter zu trösten. Und wenn Sie es so sehen: Denken Sie, dass Sie hier richtig sind? Wissenschaft geht doch mit Verantwortung einher. Eine brüderliche Verpflichtung an die, die nach uns kommen, immer im Sinn einer gesellschaftlichen Praxis. Ich jedenfalls bin noch in diesem Geiste aufgewachsen. Und Sie doch auch, wenn ich mir Ihren Lebenslauf anschaue. Oder zumindest die ersten Jahre. Wissen, Tatkraft, Optimismus – wissen Sie noch? Er lächelte schief. Was also erhoffen Sie sich? Sie antwortete nicht. Der Professor stieß hörbar Luft aus und suchte Blickkontakt mit der Moderatorin, als wollte er sagen: Wie soll man so diskutieren? Oder: Himmelherrgott, sie ist doch Physikerin! Was ist denn mit der los?
Was ist mit unserem Kind los? Das hatten sich auch Lenkas Eltern immer wieder gefragt. Schon vor beinah vierzig Jahren hatten sie sich das gefragt, als sie noch nahe Moskau in einem durch und durch modernen Wohnblock saßen, der kurz zuvor aus der Erde gestampft worden war. Unser Kind scheint besessen. Seit diesem Abend vor dem Radio. Da ist unsere Tochter der Welt einfach abhandengekommen. Oder ihr die Welt. Vom Abendessen standen noch die sauren Gurken und die Reste des Salzfischs auf dem Tisch, Pastila für die Kinder, für die Erwachsenen ein Wässerchen. Die Eltern auf dem Sofa, der Sohn mit einem Buch in der Spielecke, Lenka in ihrer Strumpfhose auf dem Teppich, versammelt vor dem Radio, um den Grußworten zu lauschen, die der Amerikaner zusammen mit einer Auswahl an Bildern und Musik in einer Sonde ins All geschossen hatte. Saßen da nichts ahnend, nichts fürchtend, ein Abend von Tausenden anderen, und da befiel die Tochter eine Besessenheit. Sie war sechs, kann man da von einer Besessenheit sprechen? Etwas, was sie jedenfalls nicht mehr loswurde. Der Sohn hörte zu, fragte einmal nach, fand es kurz interessant und sich dann damit ab. Eine Botschaft für Außerirdische, warum auch nicht. Die Tochter gab keine Ruhe. Weckte die Eltern nachts und fragte nach Details, die sie nicht wissen konnten. War diese Phase der vielen Fragerei nicht längst vorbei? Und wer rechnete denn damit, dass derlei einen solchen Einfluss haben könnte? Grußworte in fünfundfünfzig Sprachen, ein Projekt der Amerikaner, das – ja, zugegebenermaßen! – reizvoll war. An dem sich auch Moskau gern beteiligt hatte. Von dem sich im abendlichen Radioprogramm allerdings nur ein Ausschnitt senden ließ. Zweiundzwanzig Sekunden als Gruß von zweihundert Millionen russischen Muttersprachlern, gesprochen von einer Maria Rubinowa über sanfte Musik hinweg, die irgendwer untergelegt hatte im Radio: Grüße! Ich heiße euch willkommen.
Durfte sie sich aussuchen, was sie sagt? Lenka vom Teppich aus hinauf zu ihrer Mutter.
Nein, das wird ein Gremium beschlossen haben.
Was ist ein Gremium?
Eine Gruppe von Leuten, die sich auskennt.
Warum durfte ausgerechnet diese Frau das sprechen?
Man wird sie ausgewählt haben.
Warum?
Man wird sie für die Richtige gehalten haben.
Warum?
Weil–
Warum sagt sie: Ich. Ich heiße euch willkommen.
Sie spricht trotzdem für uns alle.
Warum sagt sie dann nicht: Wir heißen euch willkommen.
Lenka, Liebling, es ist unwahrscheinlich, dass das jemand hören wird.
Aber–
Die Idee ist doch schön.
Diese Raumsonde war doch gar nicht das Problem, sagte Lenkas Vater später einmal. Nicht das originäre Problem jedenfalls. Die kam nur noch dazu. Elende Wissenschaftspopularisierung. Als sie das Ding hochgeschossen haben, war die Kleine doch schon monatelang nicht mehr wiederzuerkennen.
Was hast du denn dem Kind erzählt, hatte er seine Frau damals gefragt, sieh sie dir an, diese Augenringe! Himmel, sie ist gerade mal sechs, was hast du ihr denn erzählt!
Nichts. Gar nichts.
Gar nichts?
(Das Universum dehnt sich aus, Lenkaliebling, stell dir das vor. Wie ein immer größer werdender Luftballon. Alles entfernt sich voneinander in rasender Geschwindigkeit, und das immer noch schneller. Wir können es nicht sehen, aber so ist es. Die Galaxien fliegen einfach auseinander. Irgendwann sind die Abstände zwischen allem, was einmal war, so groß, dass an keiner Stelle mehr ein Blick ankommt, nichts wird mehr zu sehen sein. Schon viel früher bläht sich die Sonne auf und vernichtet ihre nähere Umgebung, die Erde und alle anderen Planeten, bis sie in einem letzten großen Gewaltakt erlischt und irgendwann ist auch der letzte Stern da draußen ausgebrannt, dann ist nichts mehr übrig, was leuchten könnte. Dunkel ist es dann und sehr, sehr leer. So leer, wie wir es uns nicht vorstellen können, das ist unser Glück. Nun schau nicht so, Lenkatäubchen, da sind wir doch alle schon lange tot.)
Ich habe ihr die Wahrheit erzählt, sagte die Mutter.
Die Wahrheit? Na fabelhaft, rief der Vater, und die wäre?
Für Lenkas Eltern stellte sich die Sache so dar: In den ersten sechs Jahren seines Lebens ist unserem Kind jede Sorge fern gewesen und dann kippt es durch ein paar wenige Sätze mitsamt der Welt hintenüber. Einfach so. Da hilft keine Hand und kein gutes Zureden. Dass so etwas möglich ist.
Sie hatte von Anfang an so eine Veranlagung, meinte Lenkas Mutter.
Red keinen Quatsch, sagte der Vater. Und Jahre später zu seiner Tochter in einem Anflug von Wut: Wir haben doch eine schöne Welt, Jelena, was bitte willst du denn noch?
Zwischendrin mochte man den Eindruck gewonnen haben, es ginge jetzt alles seinen Gang. So sah es der Vater. Die Verstörung des Lenkatäubchens schien abzunehmen, aber losgeworden war sie das Ganze im Grunde nie, das ließ sich später konstatieren. Im Nachhinein muss man sogar vermuten, dass es sich über die Jahre endgültig festgesetzt hat. Immer wieder war ihre Tochter darauf zurückgekommen, auch viel später, als sie ein Teenager war und längst der Entschluss stand, der Heimat den Rücken zu kehren. Noch einmal ganz von vorne anfangen. Ein neues Leben. Ein fremdes Land. Von null. Aber wird unsere Lenka das aushalten? fragten sich die Eltern. Wird sie die Sprache lernen und wie schnell? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass unsere Tochter eine Vorliebe für Zahlen hat wie alle in der Familie, über sprachliche Begabungen wissen wir nichts. Wir wissen nicht, ob wir zurechtkommen werden. Wir wissen nicht, ob unsere Tochter zurechtkommen wird. Der Sohn ist nicht das Problem, der Junge ist ein harter Hund, aber unsere Lenka: ungewiss. Besonders eingebunden ist sie ja auch hier nicht, das lässt sich nicht beschönigen. Die schlechten Augen verhindern einiges oder sind sie eine Ausrede? Ein Hobby bräuchte sie, hatte der Vater gesagt, irgendeinen Ausgleich. Wenn es schon nicht Eishockey ist, dann eben etwas anderes, eine Ballsportart, etwas in einer Gemeinschaft, Schach-AG, was weiß ich. Aber dazu kam es weder in der alten noch in der neuen Heimat. Trotzdem, einige Dinge entwickelten sich doch spürbar zum Guten. Nach einer zugegeben etwas haarigen Zeit begann jene Phase, die Lenkas Eltern im Nachhinein in all ihren Entscheidungen zu bestärken schien. Rückblickend ließ sich sagen: Es hatte sein Gutes. Wir wollten, dass ihr es einmal besser habt. Nach den vielen unschönen Episoden, von denen das Zwischenspiel mit diesem erbarmungswürdigen Nachbarn noch eine der geringsten war, den ständigen Sorgen, ging es doch untrüglich bergauf. Oder nicht? Es gab Zeiten, in denen die Eltern beruhigt waren. In denen Diplomurkunden überreicht wurden. Anerkennungen ausgesprochen. Unsere Tochter, das erzählte der Vater abends am Büdchen und am Telefon mit den Eltern in Russland, Jelena also, Lenka golubka, das Täubchen, unser Täubchen, meine Kleine, kostet die Vorzüge der neuen Ordnung aus. Reist durch die freie Welt. Sie macht Karriere. Sie hält Vorträge in den USA. An der Westküste, um genau zu sein! Unsere Tochter! Allein dafür hat sich das alles gelohnt. Wir sind hier glücklich und ihr seid dort glücklich und er bestellte noch einen.
Der Professor löste sich von Lenkas Gesicht, schnaufte ein paar Mal durch und ließ sich in die blauen Polster zurückfallen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, schlug er in größtmöglicher Liebenswürdigkeit vor und drehte seinen Oberkörper Richtung Auditorium. Ein Beispiel, um Ihnen die ganze Sache zu verdeutlichen. Dann wird sicherlich einiges klarer.
Bitte, sagte die Moderatorin, nur zu.
Vor nunmehr gut fünfhundert Jahren, hob der Professor an, zur Zeit der sogenannten europäischen Erkundungsreisen, konnten wir den Stein, der meiner These zugrunde liegt, nur allzu gut beobachten. Ja, die Geschehnisse damals bieten geradezu ein Paradebeispiel für das, was mich schon seit Jahrzehnten … Er holte unnötig weit aus, um nach allerlei Schlenkern und Abschweifungen zu der Geschichte jenes Inka-Herrschers zu gelangen, der die Eindringlinge, damals in Gestalt der spanischen Konquistadoren, völlig unbedarft!, zum Goldschatz seines Volks geführt hatte. Weil er geltungssüchtig war oder stolz oder schlicht: naiv, das lasse sich so genau nicht sagen. Der Professor deutete an, sich dunkel zu erinnern, dass der Inka-König sogar im Gefängnis gesessen und versucht haben könnte, sich durch seine enormen Goldvorräte freizukaufen, aber bis ins letzte Detail habe er die Geschichte gerade auch nicht mehr parat. Das sei aber auch unerheblich. Was auch immer den Inka-König getrieben hat, sagte der ukrainische Professor: Es ist ihm nicht bekommen. Über Wochen haben die Untertanen den Goldschmuck herangeschleppt und die Konquistadoren haben ihn eingeschmolzen bis auf den letzten Rest, eine Brosche nach der nächsten. Er beugte sich wieder vor. Und wissen Sie, was dann passiert ist? Seine Augen in schnellem Wechsel von Lenka zur Moderatorin. Ich sag es Ihnen: Sie haben ihn erwürgt! Und wissen Sie was: Damit hatte er noch Glück! Eigentlich sollte er auf dem Scheiterhaufen landen, der arme Teufel, das war der ursprüngliche Plan. Brennen sollte er, wenn es nach dem Willen der Spanier gegangen wäre, aber in letzter Sekunde ist er noch zum Glauben seiner Mörder konvertiert und hat sich so den Tod durch die Garotte erkauft. Er hat ihnen alles gegeben, und sie haben ihn erwürgt. Er-würgt! Der Professor ließ sich zurück in den Sessel sinken.
Uff, sagte die Moderatorin. Schlimme Geschichte.
Aber verstehen Sie, was ich damit sagen will? Kön-nen Sie mir fol-gen?! Wir geben unsere Schätze preis, unsere Geschichten, unsere Kultur, selbst wenn es der Fernsehschrott ist, den wir seit achtzig Jahren in den Äther blasen. Ich sage Ihnen: Es wird uns nicht bekommen, irgendwem da draußen von uns zu erzählen! Wir werden in jedem Fall die Schwächeren sein und wir werden in jedem Fall den Kürzeren ziehen. Wenn wir Glück haben, werden wir erwürgt, und das ist noch der beste Fall! Ich spreche im übertragenen Sinne, Sie verstehen schon. Die Moderatorin nickte vorsichtig, schaute bemüht in ihre Moderationskarten und dann Lenka an. Blickte beinah flehentlich.
Warten Sie, sagte sie, das kann doch jetzt nicht … Nein, bitte, warten Sie –
Aber da war Lenka schon aufgestanden und hatte das Podium verlassen.
Was war das denn gerade? fragte ihr Arbeitsgruppenleiter am Rand des Podiums. Hier, nimm mal einen Schluck Wasser. Scheiße, weinst du etwa? Er klopfte sich Hintern- und Brusttasche ab, fand ein Taschentuch, reichte es ihr. Vielleicht nimmst du dir mal etwas Zeit für dich, hm? Spannst bisschen aus und dann sehen wir weiter. War vielleicht alles etwas viel zuletzt.
Tags darauf findet Therese sie auf der Bank am Wasser in einem Industriegebiet in der St. Petersburger Vorstadt. So geht es los. So lernen sie sich kennen. Cape Canaveral am Finnischen Meerbusen. Es gibt da diesen Ort, sagt Lenka später im Bus, der sie zurück in die Stadt bringt. Ein Historiker in Sibirien habe ihr davon erzählt. Von diesem Ort in Argentinien, in dem der Kontakt zu außerirdischem Leben nicht als bloßes Hirngespinst abgetan werde. Lenka wirkt nicht wie eine Esoterikerin, aber was lässt sich nach der kurzen Zeit schon sagen. Bei manchen zeigen sich solche Tendenzen erst nach Jahren. Ein wenig Argwohn ist in jedem Fall angezeigt, eine gesunde Skepsis, aber deshalb kann man ja trotzdem mal zuhören. Lenka macht nicht den Eindruck, als sei sie wirr. Höchstens etwas entrückt von der Welt, aber das Gefühl kennt man.
Und dort willst du jetzt hin oder was?
Klar. (Zögern. Dann sehr schnell:) Kommstdumit?
Ha, nein! Was soll ich da? Und was willst du da?
Lenka sieht aus, als würde sie die Frage nicht verstehen. Weißt du, sagt sie langsam, ich denk mir manchmal: Auf die Menschen ist nicht zu setzen.
Hier entsteht eine Lücke. Sie sehen einander an. Der Bus schnauft. Ein Moment verstreicht, dann sagt Lenka: Vermutlich suche ich einfach einen Ausweg.
Therese betrachtet die dürre Gestalt an ihrer Seite und die Finger, die ein schmales Handgelenk umgreifen. Wie sie davon spricht: als würden all ihre Hoffnungen darauf ruhen. Wann trifft man schon einmal eine Person, die eine Sehnsucht hat, auf der all ihre Hoffnungen ruhen. Überhaupt: alle Hoffnungen! Therese lehnt sich langsam zurück, ohne Lenka aus den Augen zu lassen. Wahrscheinlich ist schon Abendessenszeit. Sie hätte längst zu Hause anrufen müssen, die Mutter wird ihr Vorwürfe machen. Sie muss sich bei der Großmutter melden. Überlegen, wie es weitergehen kann. Sie drückt die Schultern in die Rückenlehne. Einen Ausweg, ja, einen Ausweg müsste man haben.