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An einer russischen Bar.

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Die letzten Stunden ihres alten Lebensjahres, die ersten des neuen hatte Therese auf einem Barhocker an der Theke des einzigen Gayclubs von St. Petersburg verbracht, den sie ohne nennenswerte Russischkenntnisse ausfindig machen konnte. Zwei Jungs aus ihrem Sprachkurs, die beide Felix hießen, ein Blonder und ein langer Schmaler, so ein Argloser, ließen sich sofort von der Idee erwärmen, gerade dort in Thereses Geburtstag hineinzufeiern. Man kannte sich kaum, aber Sympathien waren da, noch dazu im fremden Land. Zunächst standen sie allerdings bei strömendem Regen zwischen geparkten Autos in einem Wohnviertel und waren beinah so weit, die ganze Sache abzublasen, denn wo sollte hier, in dieser fabelhaft bruchfreien Stille, auch ein Club sein? Aber dann öffnete sich neben ihnen die Tür eines Wohnhauses, in der dahinterliegenden Stahltür mit Sichtschlitz stand ein glatzköpfiger Türsteher mit Wikingerbart und scheuchte sie, dawai dawai, über ohrenbetäubendes Eurodancegewummer hinweg ins Innere. Schlug beide Türen hinter ihnen zu. Drinnen: sehr laut, taghell, leer. Die einzigen anderen beiden Gäste hinten in der Sofaecke wieder einmal nur Männer, aber in so einer Situation nimmt man, was man kriegen kann. Salzstangen, Nüsschen. An der Bar bestellten sie erst Bier, dann Wodka, während Thereses feuchte Jeans an den Oberschenkeln klebte und zu jucken begann. Nach der ersten Runde schob der Barmann ein Tellerchen mit Zitronenscheiben über den Tresen und zwei Salzstreuer: Let me show you. Die Tequilaabstürze aus der Oberstufe vergessen und sich den Gepflogenheiten des Gastgebers hingeben, und sei es mit ungewohnten Zutaten. Eine Mischung aus Zitronensaft, Spucke und Salzresten trocknete den Abend über wieder und wieder zwischen Daumen und Zeigefinger ein. Die Haut spannte. Irgendwann ließ der Barmann die Flasche vor ihnen auf der Theke stehen.

Die Stunden bis Mitternacht zogen sich dahin, der blonde Felix redete und redete. Trotz der Autoscooteratmosphäre ließ sich jede seiner Bewegungen und Gefühlsäußerungen deutlich hören. Alles, was er machte, machte er laut. Sich auf den Stuhl setzen, Wodka trinken, reden, atmen, alles war laut. Während er von allerlei Mundgeräuschen begleitet über die russische Sprache und das Wesen der Bevölkerung fachsimpelte, knackte er seine Finger an der Kante des Tresens, einen nach dem anderen. Dann war es kurz vor zwölf. Der Lange gab ihm ein Zeichen und fing an, in seinem Rucksack zu kramen.

Dreh dich mal weg, sagte er zu Therese, nicht gucken!

Hinten in der Sitzecke sah sie die beiden Einzelnen einander zunicken, zaghaft zuprosten, dann gleichzeitig einen Schluck nehmen, während in ihrem Rücken etwas auf dem Tresen drapiert wurde. Ein Feuerzeug war zu hören, dann der schiefe Klang von elektronischem Happy Birthday.

Jetzt! rief der lange Felix. Umdrehen! Herzlichen Glückwunsch, Therese!

Wow, was sagt man dazu. Das ist aber ein …, sagte Therese, ein schönes …

Eine Geburtstagsfontäne! rief der Blonde.

Eine Geburtstags… ja, wirklich. Auf der Theke stand ein pinkfarbenes Plastikgestell in der Form eines Wagenrads. In seiner Mitte flackerte eine weiß-rosa geringelte Kerze und fiel jetzt in sieben einzelne Kerzen auseinander. Sieben dünne brennende Kerzen, kaum dicker als ihre Dochte, bogen sich zum Rand des Wagenrads und entzündeten dort sieben weitere Kerzen. Heller Feuerschein. Die Wodkaflasche auf der Theke leuchtete. Absicht oder nicht, womöglich eine nicht vollständig bedachte Beschichtung des Plastikgestells, jedenfalls fing nun auch der äußere Ring der Konstruktion Feuer. Eine Stichflamme erleuchtete einmal den gesamten Kreis in tiefem Blau, dann schmolzen die in Blütenform gestalteten Einfassungen der Kerzen zusammen, warfen Blasen und fielen in zähen, dunklen Tropfen auf den spiegelnden Tresen. Grauschwarze Qualmwölkchen zogen über die Theke hinweg. Über allem der schneidende Ton des Geburtstagsständchens. Therese hustete.

Was soll ich … Soll ich pusten?

Der Blonde nickte begeistert. Therese pustete, aber es war nichts zu machen, sie fachte die Flammen nur umso mehr an, die ganze Konstruktion brannte nun lichterloh: eine Instant-Apokalypse.

Das gehört so, rief der blonde Felix. Genau! So!

Mittlerweile hatte das Feuer auf den Serviettenuntersetzer der Wodkaflasche übergegriffen. Jetzt pustete auch der blonde Felix. Wünsch dir was, rief er zwischen zwei Atemzügen, wünsch dir was! Aber ihr fiel nichts ein, was sollte sie sich auch wünschen. Dass es ein Ende hat?

Auftritt des Barkeepers, nun in Gummihandschuhen, russische Wörter hervorstoßend, mutmaßlich Entschuldigungen, denn Geburtstag hin oder her, das hier ging nun wirklich nicht. Er schnappte sich die schmelzende, qualmende, quäkende Geburtstagsfontäne und schmiss sie, unter lautem Fluchen, ins Waschbecken. Den angesengten Gummihandschuh hinterher. Mit einem Zischen versank beides im Spülschaum.

Nicht schlecht, sagte der blonde Felix, als es vorbei war. Und so was kann man hier einfach auf dem Markt kaufen.

Das war der aufregende Teil des Abends. Später, gerade als Therese überlegte, ob der lange Felix eine Option für die Nacht wäre, wurde er weinerlich, der kleine Blonde anhänglich. Mit tief hängenden Lidern sinnierte er über das Leben, die Liebe, Gott und die Welt, sagte er und patschte seine klebrige Hand auf Thereses Unterarm, die andere landete auf der Schulter des Langen. Dazu musste er sich strecken. Wodka! rief der Blonde in seiner Schieflage hängend über den Tresen. Therese zog ihren Arm weg. Mit einem Ziepen lösten sich seine Finger von den Unterarmhärchen. Sie half mit einem Ruck nach und brachte sich, schummerig wie ihr war, dabei selbst zum Schwanken. Vom Barhocker aus ließ sich der Fuß nicht auf den Boden stellen, also hielt sie sich am Tresen fest und versuchte, irgendwer hatte ihr das mal empfohlen, einen Punkt in der Ferne zu fixieren. Hier: eine mit langhaarigem pinkfarbenem Plüsch bezogene Wand. Dabei das nicht zu unterdrückende Gefühl, auf einer Schiffschaukel zu sitzen. Alle Gedärme hingen einen Moment in der Luft, dann sackten sie zurück. Therese schluckte Flüssigkeit. Schluckte noch einmal. Und dann: noch einmal. Als es sich nicht mehr vermeiden ließ, kletterte sie vom Barhocker und wankte zum Klo, schaffte es aber nur bis in den Vorraum mit den Pissoirs. Während sie Pelmeni hervorwürgte, versuchte sie, trotz der tränenden Augen das Fadenkreuz zu treffen, das in den Spritzschutz im Keramikbecken gedruckt war. Danach hatte sie den Eindruck, es ginge ihr besser. Sie machte sich auf den Weg zurück zur Bar und warf dabei einen Blick in den Darkroom, das schwarze Rechteck am Ende des Gangs. Ein einziger Typ stand dort in der Ecke mit nacktem, soweit es sich sehen ließ, magerem Oberkörper, der Gürtel hielt die Hose irgendwo über dem Nabel, unten warf sie Wellen. Er starrte auf den winzigen, flimmernden Bildschirm an der Wand, der für wahrscheinlich jeden Besucher des Darkrooms etwas zu niedrig hing. Kaum hörbares, blechernes Klatschen und Stöhnen. Der Typ machte einen Schritt auf den Bildschirm zu und krümmte den Rücken, um etwas erkennen zu können. Therese blieb einen Moment in der Tür stehen, leckte sich über den salzigen Handrücken. Dann ließ sie die beiden Felixe an der Bar zurück und machte sich auf den Weg zur Wohnung der Gastmutter. Schlangenlinien auf feuchtem Asphalt. Das war der Anfang des neuen Lebensjahres.

Seltene Erde

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