Читать книгу ATEMZUG - Eveline Keller - Страница 14
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Arnie wartete wie verabredet bei der leerstehenden Fabrikruine am Rande des Industriegebietes. Das baufällige Gebäude lag abgelegen. Auch unter der Woche verirrte sich selten jemand hierher. Es diente spielenden Kindern als Mutprobe, oder sie veranstalteten Zielschießen auf die kaputten Fenster.
Das ehemalige Metallveredelungswerk stammte aus dem Jahr 1943 und hatte seine Blütezeit in den fünfziger und sechziger Jahren gehabt. Damals wusste man noch wenig über mögliche Folgeschäden, die durch die krebserregenden Substanzen, die bei der Metallveredelung verwendet wurden, entstehen konnten. Entsprechend sorglos ging man im Werk damit um und schützten sich nur mangelhaft.
Irgendwann in den Achtzigern war die Produktion aufgrund neuer Sicherheitsverordnungen und Umweltgesetze in den Osten nach Polen verlagert worden. Das Gebäude und der Vorplatz wurde danach an Kleingewerbe weitervermietet, an einen Autospengler, eine Transportfirma und einen Getränkehändler. Dann als der Eigentümer starb, vererbte er das Fabrik-Areal der Stadt Winterthur. Die Freude über dieses Geschenk währte nicht lange.
Später vermutete man, dass der Besitzer um die Giftfässer wusste, die jahrelang in den Boden neben der Fabrik entsorgt worden waren. Erst Jahre später, in den Neunzigern, entdeckte man als man eine Umnutzung des Areals plante, die unsachgemäß eingelagerten Fässer. Der Skandal ging durch die Presse und auch die letzten Mieter suchten das Weite.
Eine Untersuchung der Bodenbeschaffenheit hatte ergeben, dass alles in und um die Hallen herum derart mit Giftstoffen belastet war, dass Abbau und Entsorgung sehr teuer werden würden. Also schob man das Projekt auf, und seither dämmerte das Areal vor sich hin und war dem Zerfall und der wuchernden Natur ausgeliefert.
Arnie war überpünktlich, eigentlich zu früh. Er wollte abkassieren, da war immer hundertprozentig Verlass auf ihn. Diesem Gedanken hing er für einen Augenblick nach und grinste, sodass sich sein Doppelkinn faltete. Er hätte Steuereintreiber werden sollen, dachte er. Am nötigen Biss dazu würde es ihm nicht fehlen.
Die Sonne sank immer tiefer und tauchte die Umgebung in rötlich braunes Licht. Arnie drückte seine Zigarette aus und steckte sich gleich die nächste an. Er sollte das Rauchen aufgeben. Es war ungesund und überall wurde es verboten. Aber so vieles, was Spaß machte war ungesund. Gesund zu leben war etwas für Langweiler. Er jedenfalls hatte dazu keine Lust. Wozu auch? Um gesund zu sterben?
Seine Gedanken wanderten weiter und er dachte lieber an die Zukunft. Was würde er mit dem ganzen Geld machen, wenn er es geschafft hatte? Es war der Superknüller seiner ganzen Verbrecherkarriere, sozusagen sein persönlicher Höhepunkt. Und das Beste war: Er hatte Glitter-Glamy die Beute vor der Nase weggeschnappt.
Ach, Schadenfreude war die schönste Freude. Diese bescheuerte alte Tante, mit ihrer Besessenheit für Diamanten. Sie wird sich vor Wut in den Stiefel gebissen haben, als sie vor dem leeren Safe stand. Sie und ihre Ganovenehre waren sowieso Relikte aus vergangenen Zeiten. Heute lief alles schneller ab, war unpersönlicher und die meisten Kriminellen hielten nichts von dem alten Schmäh.
Und wenn die Safeknackerin erfuhr, wer sie reingelegt hatte, dann… Ha! Arnie klopfte sich auf die Schenkel und zerdrückte vor Lachen eine Träne. Was würde er darum geben, ihre dumme Visage dabei zu sehen. Das war der beste Witz, den er je gehört hatte. Er hatte immer schon Sinn für Humor. Und er, Arnie hatte den Witz erfunden. Ha!
In seinen goldenen Hirnzellen war er entstanden. Man konnte vieles über ihn behaupten, aber er war nicht unintelligent. Zufrieden mit dieser Selbsterkenntnis rutschte er etwas tiefer in seinen Sitz.
Die Idee war ihm bei einem Besuch in einem Swinger-Club gekommen. Er hatte sich mit einer gutgebauten Dame, undefinierbaren Alters für ein Nümmerchen ins Separee zurückgezogen. Ihr unersättlicher Appetit erforderte all seine Energie. Endlich schien sie zufrieden, ließ von ihm ab und so lagen sie nebeneinander, satt und matt. Da begann sie zu plaudern, über sich, ihr Leben und ihren Mann. Arnie döste gelangweilt weiter. Als sie jedoch erwähnte, dass ihr Mann ein Juwelier war, klingelte es bei ihm wie in einer Registrierkasse. Nun, hellwach, mimte er weiter gequälte Höflichkeit beim Zuhören. Eine unverfängliche Frage hier, und eine da, bescherten ihm wertvolle Informationen.
Die kleinen Zahnrädchen in seinem Kopf begannen emsig ineinander zu greifen und formten einen Plan. Offenbar hatte der Juwelier einen Tick, ja fast schon eine Manie, was die Sicherheit seiner Edelsteine betraf. Trotz Alarmanlage und topaktuellem Sicherheitssystem für den Safe, traute er der Sache nicht und war krankhaft vorsichtig. Wenn er zum Beispiel vor einer Auktion eine größere Menge Diamanten aufbewahrte, und er befürchtete, dass eingebrochen werden könnte, schien ihm der Safe zu unsicher. Dann räumte er die Juwelen um, und zwar in den Tresor in seinem Büro. Er hoffte, so den Ganoven ein Schnippchen zu schlagen.
Nur, diesmal war es umgekehrt gelaufen. Arnie hatte den Juwelier ausgetrickst. Er musste lachen. Dass er ausgerechnet auf die Frau des Bijoutier traf, war pures Glück gewesen. Sie konnten beide voneinander profitieren, war quasi eine klassische Win-win-Situation.
Er summte gut gelaunt vor sich hin. Nur noch wenige Minuten, dann war er in Winterthur Geschichte. Er würde sich nie mehr die blöden Gesichter von seinem Bewährungshelfer, der Sozialtante und dem Stadtrat ansehen müssen. Diese Gutmenschen, die sich für die Resozialisierung von Straffälligen einsetzten. Die einen, um ihren Hang zur selbstlosen Liebe zu kultivieren, hoffend einen Platz im Himmel zu sichern, und die anderen, um sich für die Wiederwahl in Szene zu setzen. Er und seinesgleichen diente ihnen da lediglich als Steigbügelhalter.
Er würde den selbstgefälligen Verein nicht vermissen. Obwohl, die eine Sozialarbeiterin hatte ein Figürchen zum Träumen. Arnie leckte sich die Lippen. Seine Fantasien wurden vom Brummen eines sich nähernden Autos unterbrochen.
Aha, da kam Liz.
Der Fiat hüpfte wie ein aufgeblasener Floh über die Landstraße. In eine Staubwolke gehüllt brauste sie über den Platz und hielt in sicherer Distanz an. Sie stieg aus, warf die Tür zu und kam auf ihn zu.
Erwartungsvoll schaute er sie an. »Hallo, Schätzchen«, grüßte er.
»Hallo Arnie«, schnappte sie.
»Na, wie geht’s, wie stehts? Die Kinder gesund und munter?«
Wie sie es hasste, wenn er das Bild des besorgten Familienvaters gab. »Das geht dich nichts an. Ich konnte dein geheucheltes Interesse noch nie ausstehen. Du wirst nie als liebender Vater in die Annalen der Geschichte eingehen. Aber das weißt du besser als ich. Also lass die Kinder aus dem Spiel.« Sie griff entschlossen in ihre Handtasche. »Bringen wir es hinter uns.«
»Das wollte ich auch gerade sagen. Sowie du mir die Kohle rüberschiebst, werde ich – Simsalabim - verschwinden, wie der Geist aus der Flasche.« Er schnippte mit den Fingern. »Auf Nimmerwiedersehen«. Er hatte es nun eilig.
»Ich werde dir keine Träne nachweinen, sondern tanzen vor Glück«, bemerkte Liz.
War es der Ton, wie sie es sagte, oder eine Vorahnung, die ihn aufhorchen ließ. Im nächsten Augenblick wurden seine Augen kugelrund und er blinzelte, als könne er nicht glauben, was er sah. Sie hatte ihre Hand aus der Tasche gezogen und hielt ihm statt des erwarteten Geldbündels einen Revolver vor die Nase. Er schluckte und schluckte, plötzlich lag ihm ein Kloss im Hals. Seine liebliche, kleine Ex-Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, würde ihn abknallen. Und an der Art, wie sie die Schusswaffe handhabte, war sie darin nicht ungeübt.
»Du hast die Wahl: Verschwinde für immer aus meinem Leben und dem der Kinder. Solltest du dich noch einmal blicken lassen, werde ich dich mit dem Ding hier in die ewigen Jagdgründe befördern. Und stell mich nicht auf die Probe, es juckt mich eh in den Fingern. Hast du verstanden?«
»Was? Natürlich! Kein Problem!« Händeringend kam er einen Schritt auf sie zu. »Das ist doch kein Grund die Nerven zu verlieren. Ich verschwinde spurlos. Darauf kannst du wetten. Bin so zusagen auf dem Sprung und schon fast in einem anderen Leben.« Leicht melancholisch und gekränkt, über ihr knallhartes Ultimatum, deutete er vor sich auf den Boden. »Du siehst mich heute hier zum letzten Mal.«
In Liz' Gesicht regte sich äußerlich kein Muskel, während sie abwägte, ob sie ihm glauben konnte. Sie zweifelte nicht unbegründet an seinem Versprechen. »Hm, ich überlege gerade. Was, wenn du mich wie immer belügst? Wieso sollte ich dir diesmal glauben? Besser ich erschieße dich gleich hier und jetzt. Das ist sicherer.« Liz legte an. »Früher oder später wird dich dein krimineller Lebenswandel sowieso umbringen. Das hättest du dann schon hinter dir. Eigentlich erweise ich dir damit einen Gefallen. Du, das geht ruck, zuck. Ich mach es so, dass es gar nicht wehtut. Das ist viel schmerzfreier, als wenn du einem deiner Widersacher in die Hände fällst. Die würden dich genüsslich zu Tode quälen. Es spricht also alles dafür.« Sie zielte über Kimme und Korn.
»Nein, nein!« Arnies Hände schossen zum Stoppzeichen hoch. Die dumme Kuh kapierte aber auch gar nichts! Seine Zunge fuhr nervös über seine Lippen. »Das ist keine gute Idee. Gar keine! Das belastet nur unnötig dein Gewissen. Tu es nicht! Ich bleibe ganz sicher weg. Bedenke: Mord! Das ist keine gute Basis für den Beginn eines neuen Lebens. Das bringt Unglück!« Er verhaspelte sich vor Aufregung. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. »Stell dir vor, was das für ein schlechtes Karma ergäbe. Ein Mörderleben, das du sieben Leben lang abbüßen müsstest. Das ist nicht gut. Glaub mir. Gar nicht!«
Arnie schüttelte den Kopf wie ein Autodackel. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich über die Stirn. »Schau Kleines. Liz! Ich bin doch so gut wie weg!« Mit den Händen abwinkend bewegte er sich rückwärts auf sein Fahrzeug zu.
»Halt! Wir sind noch nicht fertig. Ich sag, wenn du gehen kannst!« Sie hob drohend den Revolver und Arnie stoppte.
»Vielleicht ist es wirklich besser den Vater meiner Kinder nicht zu erschießen«, überlegte sie laut. »Wegen des Karmas.« Dann legte sie den Kopf zur Seite und fragte: »Hast du nicht etwas vergessen?« Sie griff erneut in ihre Tasche und brachte ein Bündel Geldnoten zum Vorschein. Verächtlich warf sie es Arnie vor die Füße. »Ich will doch sicher gehen, dass du hier wegkommst. Na los, heb es auf!«
Arnie bückte sich umständlich ohne Liz aus den Augen zu lassen. Er hob das Bündel auf und wägte es in seiner Hand ab. »Das sind keine zehn Riesen. Willst du mich verscheißern? Du Nu…!« Doch als er sah, dass sie den Revolver anlegte, verstummte er wütend.
Sie zielte: »Ich kann ja noch ein paar Kugeln drauflegen.«
»Nein, nein. Lass das! Aber, das ist Betrug. Das wirst du mir büßen!«
Nun geschah genau das, was Liz befürchtet hatte. Ihr platzte der Kragen. Sie drückte ab. Die Kugeln schlugen einen halben Meter vor Arnies Füssen ein. Er machte erschrocken einen Satz auf die Seite. »Als Gedächtnisstütze, du Mückenhirn! Wenn ich dich noch einmal hier sehe, lege ich dich um. Dasselbe gilt für die Jungs. Wenn Du noch einmal in ihre Nähe kommst, lege ich dich um. Und wenn Du noch einmal im Warenhaus auftauchst, lege ich dich auch um. Ist das jetzt bei dir angekommen?«
»Klar. Meine Güte bist Du stur.«, brummte er und wies auf den Revolver:« Pass auf mit der Waffe. Damit könntest du jemanden verletzen.«
»Kein Problem. Dich könnte ich jederzeit verletzen, ohne Reue. Im Gegenteil, ich würde der Welt einen Gefallen tun. Alle würden mir dankbar die Hand schütteln. Ich wäre geradezu eine Heldin. Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich dich doch besser erschießen. Ist ein schneller Tod. Kurz und schmerzlos!« Liz hob den Revolver fragend in seine Richtung.
»Komm, mach keinen Scheiß! Ich bin es, Arnie! Dein dich liebender Ex-Mann. Weißt du, ich habe nie so richtig begriffen, warum du mich nicht mehr liebst. Ich meine, echte Liebe kann man doch nicht einfach ausknipsen wie einen Lichtschalter? Hast du kein Herz in deiner Brust? Du bist so hart geworden.« Beschwörend zu Beginn, schwenkte sein Ton um auf vorwurfsvoll.
Liz blinzelte. Hörte sie da richtig? Das konnte nicht sein Ernst sein! Mit dieser alten Platte bei ihr punkten zu wollen. Das war typisch für ihn. Wenn er nicht mehr weiterwusste, legte er die Sülze ganz dick auf. Er berührte sie damit schon lange nicht mehr. Bittere Enttäuschungen hatten sie gestählt gegen seine schmachtenden Augen. Genug! Für wie einfältig hielt er sie denn? Ruhig Blut! Sich nur nicht provozieren lassen! »Hau einfach ab bevor ich dich aus Wut mit Kugeln vollpumpe!«
Sie war der friedlichste Mensch auf Erden, überzeugte Pazifistin und praktizierende Nächstenliebe-Vertreterin. Aber genug war genug. Sie hatte es so satt!
Ihre Botschaft war angekommen. Arnie trollte sich und schlug die Autotür zu. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und bewegte sich rückwärts zu ihrem Fiat. Sie warf ihre Tasche auf den Nebensitz, ließ kurz den Motor aufheulen, wendete schwungvoll und verschwand in einer Staubwolke.
Arnie sah ihr nach, bis der Kleinwagen die Anhöhe erklommen hatte. So, dachte er: Sein fleißiges Bienchen hatte sich einen Stachel zugelegt. Man lernt nie aus! Soll einer die Menschen verstehen. Sie sind von Grund auf hinterlistig und schlecht. Es gab keine Nächstenliebe mehr. Sogar Liz wollte ihm nicht mehr helfen. Kalt und herzlos sind die Menschen geworden! Als sie sich kennenlernten, hatte sie ihm geraten, einem ehrlichen Gelderwerb nachzugehen und etwas aus sich zu machen. Sie war beim Versuch ihn zu überzeugen genauso hartnäckig wie er, stur geblieben war, kein redliches Leben zu beginnen. Ihr Hauptargument war, dass man nicht Gauner bleiben konnte bis ins Pensionsalter, da würde er am Ende verarmen. Aber das sah nur von ihrem Blickwinkel so aus. Er dagegen rechnete sowieso nicht mit einer Rente, sondern mit dem Superding, das ihn zum Millionär machte.
Die ewige Weltverbesserin Liz, auch sie war Geschichte. Scheiß drauf! Er war kurz vor dem Sprung in ein neues Leben. Er hatte alles, was er brauchte. Sein Ex hatte ihm soeben das Reisegeld gebracht. Aber, was war das? Plötzlich alarmiert betastete er das zusammengerollte und mit einem Gummi gesicherte Notenbündel. Da hatte ihm sein Schätzchen doch tatsächlich Blüten untergejubelt. Und so Billige, dass er es gleich in den ersten fünf Minuten herausfand.
»Scheiße aber auch!« Hastig sortierte er was echte und was billige Kopien von den Scheinen waren und zählte. Er kam immerhin auf dreitausend Franken echte, dazwischen lagen einfache Farbkopien. Baff vor Erstaunen saß er da und starrte sie an. Liz hatte ihn tatsächlich zum Abschied reingelegt. Miststück! Er verschaffte sich fluchend Luft.
Doch es war nicht zu ändern. Ein Rückschlag. Aber er würde sich zu helfen wissen. Sein Flug ging heute Nacht, um 23: 00 Uhr nach Antwerpen, und von da aus, vielleicht nach Brasilien oder lieber Bali. Wo immer es ihn hinzog. Er dachte an endlose Sandstrände vor tiefblauem Meer, und er mit einem Drink in der Hand, matt in die Sonne blinzelnd. Genüsslich zündete er sich eine Zigarette an und ließ das Fenster runter. Irgendwie würde er das mit dem Geld schon hinkriegen. Schließlich war er Gauner von Beruf. Entschlossen schnippte er die heruntergebrannte Zigarette weg und griff nach dem Anlasser. Als ihn eine tiefe, rauchige Stimme aus den Gedanken riss. »Na, Arnie? Hast du denn richtig nachgezählt? Fehlt auch nichts?«