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2.

Ein Tag davor, wartete im Hauptbahnhof Zürich eine Reisende in einem olivgrünen Regenmantel, das praktische Rollköfferchen neben ihren Füßen abgestellt. Amüsiert verfolgte sie das geschäftige Treiben um sie herum. Die einen Züge, abgefertigt wegfuhren oder die anderen, die mit quietschenden Eisenrädern bremsten. Kaum, dass sich die Türen geöffneten hatten, ergoss sich eine Woge von Menschen auf die Bahnsteige.

Die Passagiere schlenderten gemächlich, aber die Mehrheit eilte zur Bahnhofshalle, durchquerte sie und strömte ins Freie. Es wimmelte von Leuten, laufend und drängelnd oder gemütlich bummelnd. Die einen blickten hoch zur Anzeigetafel und suchten ihren Anschlusszug, die anderen steuerten den gewünschten Ausgang an.

Die Frau im Regenmantel war eben mit dem Nachtzug aus Hamburg angekommen und soll hier ihren Kontaktmann treffen, der sie abholen kam. Um ihren Mund lag ein verlorenes Lächeln, das jedoch nicht ihre eisig blickenden Augen erreichte. Ihre schwarzen Haare waren zu einem gescheitelten Bopp frisiert und verdeckten eine Hälfte ihres blassen Gesichtes. Sie schaute wie die Menschen vorbeihasteten und an der Vorderfrau vorbei preschten, wie eine Horde Lemminge, die auf einen Abgrund zustürzte.

Nur, dass Beste daran war, dass die Leute nicht wussten, worauf sie zu liefen. Nämlich einen Abgrund, in den alle diese Ungläubigen stürzen werden, bevor der Monat zu Ende war. Ihr Führer und Prophet hatte sie informiert.

Grinsend dachte sie an die Bombenattentate in London. Dies war ein klares Zeichen, dass das Ende der Menschheit nicht mehr lange auf sich warten ließ. Nur sie, die Auserwählten des Phalaenopsis-Ordens würden verschont bleiben.

Die Zeit würde stillstehen; die Luft trächtig vor Unheil; ein einziger Schmerz würde alle umfangen; die Opfer vom Schock wie gelähmt; Krankenwagen mit quietschenden Reifen eintreffen; Sirenen heulen; Massen würden in Panik flüchten. Doch unentrinnbar würde das Ende nahen.

Einzig die Brüder und Schwestern vom Phalaeonopsis-Orden in ihrem Bunker, zwei Stockwerke unter der Erde sollten den Weltuntergang überleben. Danach würden sie als Auserwählte von reinem Blut die Welt neu bevölkern. Sie und mit ihnen, zahlreiche andere Gruppen, die sich im Glauben zu Gemeinschaften zusammengeschlossen hatten und über den ganzen Erdball verstreut waren.

Süffisant spitzte sie ihren Mund. Sie schaute sich um. Ihr Blick blieb an einer jungen Frau hängen, die ihren Kaffee, das Handy und die Handtasche balancierend, auf einen der Ausgänge zuging. Sie sah sie und dann doch wieder nicht. Sie war ein Teil einer Masse, die durch den Bahnhof strömte.

Nicht mehr lange, dann werden sie erlöst sein, dachte die Reisende. Die Menschen waren zu einfältig, um die Zeichen zu deuten, darum hatten sie nichts anderes verdient. Sie freute sich auf ihren Auftrag. Er war die Chance für einen Neuanfang. »Oh du Fröhliche«, summte sie vor sich hin, während sie zum vereinbarten Treffpunkt bummelte.

Kurze Zeit später trat ein elegant gekleideter Mann zu ihr. »Guten Tag. Sie sind bestimmt eine Phalaenopsistin. Ich erkenne Sie an ihrer wunderschön gearbeiteten Anstecknadel.« Das besagte Schmuckstück war aus Emaille und mit winzigen Brillanten verziert.

Thaddäus van Hohenstett verbeugte sich andeutungsweise: »Sind Sie mit dem Zug aus Hamburg angereist?«

Ihr Blick taxierte den Juwelier. Er war mittelgroß, trug einen dünnen Oberlippenbart und machte eine gute Figur.

»Von Hamburg. Ja.«, antwortete sie leise. Sie nickte dabei mit dem Kopf, worauf ihre Haare zurückfielen und den Blick auf eine gezackte Narbe frei gaben, die vom Auge bis zum Kiefer reichte. Überrascht sog van Hohenstett die Luft ein. Sich räuspernd, streckte er ihr seine Hand zur Begrüßung hin: »Willkommen in Zürich.«

Doch sie übersah die Geste und legte stattdessen ihre Hand auf ihr Herz: »Sehr erfreut.«

Leicht irritiert, hob er eine Braue und ließ seine Hand fallen. »Die Freude ist ganz auf unserer Seite. Nun denn, darf ich Sie zu ihrem Hotel nach Winterthur bringen. Dort können Sie sich frisch machen. Am frühen Abend begleite ich Sie dann zu unserem Tempel. Zu Ehren ihres Besuches findet ein Empfang statt. Wir erwarten, dass alle unsere Brüder und Schwestern kommen.«

Hilfsbereit fasste er nach ihrem Rollkoffer. Doch sie legte besitzergreifend ihre Hand beziehungsweise ihre Handprothese auf den Bügel. Er zuckte zurück und wandte sich mit einem mulmigen Gefühl dem Ausgang zu. Offensichtlich gezeichnet von einer Explosion, erschien ihm die gelobte Spezialistin für Bomben, Soeur Detonation nicht mehr sehr vertrauenerweckend. Ohne weitere Worte ging er voraus in Richtung der Parkplätze und sie folgte.

Am Abend wurde zur Begrüßung der Soeur Detonation eine große Zeremonie im Glaubenstempel der Phalaeonopsisten abgehalten.

Dazu trat man durch eine Tür aus Stahlbeton, die mit einer großen Orchideenblüte bemalt war. Von da aus begab man sich in eine Bunkeranlage ins zweite Untergeschoss, deren Raumaufteilung einer Orchideenblüte nachempfunden worden war. Der geräumige Tempelraum, wo die Zeremonien stattfanden, bildete den Blütenkelch, von dem drei ovale Räume, die Blütenblättern nachempfunden waren, abgingen.

Die Ausstattung war in weißer Farbe gehalten und an den Wänden prangten große, in naiver Malerei abgebildete Szenen der Entstehungsgeschichte der Glaubensgemeinschaft. Sie zeigten, wie die weiße Orchideenblüte vom Gründer entdeckt wurde und wie er durch deren Kraft eine Erleuchtung erlebte.

Im geräumigen, halbrunden Tempelraum war die Decke bemalt mit den Visionen für den Eintritt ins Paradies. Der Weg dahin bedingte jedoch, dass vorher die Menschheit ausgelöscht wurde.

Die Soeur Detonation hatte den heiligen Auftrag, den Ungläubigen die Unabwendbarkeit des Weltunterganges vor Augen zu führen.

An diesem Abend kamen die Gläubigen wie erwartet zahlreich, so dass der Tempel bis zum letzten Platz besetzt war. Sie warteten ergeben in ihren langen Gewändern aus glänzender weißer Seide. Die eigentümliche Bekleidung am Rücken geschlitzt, ähnlich wie ein Krankenhaushemd.

Als der Führer und Prophet begleitet von seinem Gast eintrat, ging ein Raunen durch den Saal. Er begrüßte die Phalaenopsisten, stellte ihnen die Soeur Detonation. Sie beteten gemeinsam und baten um Erlösung von ihren irdischen Sorgen. Zur Messe kamen die Ordensmitglieder mit nüchternem Magen und reinigten sich in den nach Geschlechtern aufgeteilten Räumen, abwechselnd mit Dampfbädern und kalten Abgüssen. Gesäubert wurde wiederum um Erleuchtung gebeten, mit deren Hilfe sie ins Paradies eingelassen wurden.

»Meine lieben Brüder und Schwestern, bald ist es soweit, dass wir erlöst in unser Paradies eintreten können. Darum rufe ich euch auf: Entbindet euch von euren irdischen Gütern und Verpflichtungen. Denkt daran: Der Samen der heiligen Orchidee hat einen mühseligen Weg hinter sich, bis er bei uns eintrifft. Um unseren Bedarf decken zu können, benötigen wir Spenden von jedem von euch. Besonders hervorgetan dabei hat sich unser Bruder Thaddäus, dem wir herzlich für seine Großzügigkeit danken. Nehmt euch ein Beispiel an ihm. Mit seiner großzügigen Spende wurde es unserem Orden erst möglich, uns die Unterstützung der Soeur Detonation zu sichern. Mit ihrer Hilfe werden wir dem Paradies einen entscheidenden Schritt näherkommen.«

»Denn denkt daran, wenn wir euch zu wenig Samen der Phalaeonpsis abgeben können, wird der Übertritt in die neue Welt sehr viel schmerzlicher sein. Darum nehmt den Samen, lasset ihn in euch wachsen und betet um Erleuchtung.«

Die Gläubigen murmelten einen Dank. Anschließend löste sich einer nach dem anderen aus der Reihe, zog die Enden seines Gewandes auseinander, kniete nieder und ließ sich den Samen einführen. Derart bereichert, mit einem sanften Lächeln begaben sie sich dann in einen der Räume. Dort im dezenten Licht legten sie sich auf Liegestühle und oder Matten und gaben sich ihren Träumen hin, wie es sein wird, wenn sie das Paradies gelangen würden.

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