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3.

Nach der düsteren, dumpfen Nacht strahlte die Sonne triumphierend vom tiefblauen Himmel, als wollte sie alle dunklen Ecken und üblen Machenschaften ausleuchten. Ihre Verbündete war die Putzmaschine, die sich durch die verzweigten Straßen arbeitete und eine saubere, dampfende Kriechspur zurückließ. Ein sommerliches Lüftchen säuselte um die Häuserzeilen und es roch irgendwie nach Ferien, Meer und Strand in Rimini.

Harry war wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit und pfiff von der Stimmung mitgerissen eine muntere Melodie. Ach Urlaub! Es war ewig her, seit er das letzte Mal in der Sonne gefaulenzt hatte? Aus einem Impuls heraus, schaute er sich um, und war für einen Moment von dem Anblick gefangen, der sich ihm bot. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite stand eine Frau und zog an ihren Strümpfen. Dabei schien die Sonne durch ihr Kleid, sodass ihre Silhouette und ihre perfekten Rundungen im Gegenlicht sichtbar geworden waren.

Venus lebt! Dachte er und sog fasziniert das Bild in sich auf. Mit den Augen der Fremden zugewandt, lief er weiter und geradewegs gegen eine Verkehrstafel. Es schepperte. Derart unsanft gestoppt, rieb er sich den schmerzenden Teil, wo sich eine Beule entwickelte.

Die Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite hob nervös den Kopf. Verbissen zerrte sie an einem Strumpf, um ihn festzumachen. »Geschieht dem Spanner recht!«, zischte sie. Liz Bardi hatte es an diesem Morgen eilig. Doch die verflixten Nylons hielten sie immer wieder auf. Die hochgepriesenen, festsitzenden, superkomfortablen Wunderdinger, mit dem unsichtbaren Haftband, das garantiert klebt, erfüllten die windigen Werbeversprechen nicht und rutschten bei jedem Schritt etwas tiefer. Sie befürchtete, dass sie, wenn sie mal die Mitte ihres Oberschenkels überschritten hatten, haltlos zu Boden segelten. Sie stände da wie Pippi-Langstrumpf. Das wäre peinlich für eine Leiterin der Unterwäscheabteilung und ging gar nicht.

Genervt zog sie an der Gummihaftverstärkung und griff diesmal durch den Kleiderstoff hindurch, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. Sie schwor dem Strumpfvertreter bei seinem nächsten Besuch, die Strümpfe mit Doppelknoten, um den Hals zu knüpfen, bis er blau anlief.

Hoffend, dass die Dinger für die nächste halbe Meile hielten, richtete sie sich eilig auf und griff nach ihrer Handtasche. Sie fasste ins Leere. Sie war weg! Suchend schaute sie sich um, aber sie war nirgends zu entdecken. Ohnmacht schnürte ihr den Hals zu. Tränen schossen ihr in die Augen. Das durfte nicht sein! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Und der doofe Typ auf der anderen Seite grinste auch noch.

Wütend setzte sie über die Straße. Harry hatte sich inzwischen gefasst und war stehengeblieben, als er sah, dass die Frau auf ihn zukam. Doch anstelle eines zuckersüßen Hallos verpasste sie ihm eine Ohrfeige.

»Sie blöder Kerl! Ihretwegen ist mir die Tasche geklaut worden«.

Harry war sekundenlang sprachlos. Ein für ihn ungewohnter Zustand. Dann brüllte er: »Sind sie nicht ganz dicht? Sie - Exhibitionistin. Bin ich schuld, wenn sie auf offener Straße ihre Show abziehen?«

Das war so unerhört laut, Liz hatte Ohrensausen. Geschockt zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Und auf ihrem Gesicht macht sich Verzweiflung breit. »Haben sie wenigstens gesehen, wer es war?«

»Natürlich. Ein flinker Kerl stahl sie, während ihrer Vorstellung«, zischte er.

»Warum haben Sie mich nicht gewarnt?«

Harry hielt sich leicht verlegen an der Verkehrstafel: »Die da hat mich abgehalten.«

Er zeigte in die Richtung, in die der Dieb verschwunden war. »Wenn sie sich beeilen, holen sie ihn vielleicht noch ein.« Sein Blick glitt ihren langen Beinen entlang und blieb an ihren Stöckelschuhen hängen. Damit dürfte eine Verfolgung schwierig werden.

»Vielleicht hat er nur das Portemonnaie ausgeräumt und sie finden die Handtasche im nächsten Mülleimer wieder.«

Doch statt sie zu motivieren, dämpfte diese Bemerkung Liz' Enthusiasmus. Wenn der Dieb Geld suchte, hatte er bestimmt auch die sechs Tausender, die sie ihrem Ex-Mann bringen sollte, aus der Tasche gemopst. Was für eine Katastrophe! Ausgerechnet heute. Als hätte er gewusst, was sich darin befand. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst?

Für sie war es unmöglich, eine solche Summe ein zweites Mal zu beschaffen. Würden ihre Kinder trotzdem sicher sein? Fragen über Fragen stürzten auf sie ein. Alles begann sich um sie herum zu drehen, und wirkte seltsam verzerrt.

Besorgt sah Harry, wie Liz aufgeregt nach Luft schnappte und japste. Er versuchte sie zu beruhigen. »Langsam! Nicht so hastig. Immer mit der Ruhe. Nicht so schnell, laangsssaaam!«

Zu spät! Schon verdrehte sie die Augen und kippte auf ihn zu. Warum er? Die Undankbare! Eigentlich sollte er sie fallen lassen. Ihr Schlag brannte immer noch auf seiner Wange. Kein Mensch konnte von ihm verlangen, diese Ziege aufzufangen. Außerdem käme sie durch den Aufschlag sicher zur Besinnung, in jeder Hinsicht.

Er mochte zwar böse Gedanken hegen, aber er würde es nicht über sein Pfadfinderherz bringen, jemanden, der offensichtlich in Not war, fallen zu lassen. Er fing Liz auf und legte sie sachte auf den Boden. Dann knüllte er seine Jacke zusammen und schob sie ihr unter den Kopf. Nun da sie dalag, konnte er sie ungestört betrachten.

Sie hatte braune, schulterlange Locken und einen leicht geschwungenen Mund. Entgegen ihrem temperamentvollen Ausbruch von vorhin waren ihre funkelnden Augen geschlossen und ihre römische Nase entspannt. Die Sorgenfältchen waren verschwunden und ihre Haut sah aus wie aus Samt. Nun war er froh, dass er sie nicht fallen gelassen hatte und ihr ebenmäßiges Gesicht nicht verletzt wurde.

Harry schaute sich unschlüssig um. Was nun? Zaghaft tätschelte er ihr die Wange, worauf ihre Augenlider zu flattern begannen.

Liz kam langsam zu sich und sah erst eine große Nase vor sich, dann ein Paar besorgt blickende goldbraune Augen, darunter nervös verkniffene Lippen in einem kantigen Unterkiefer.

Benommen bewegte sie ihren Kopf. Was war geschehen? Warum lag sie auf dem Boden? Und weshalb hielt ihr der Typ eine Hundekot-Sammeltüte hin? Wollte er sie mit Kacke beschmieren, weil sie ihn geschlagen hatte? Sie blickte ihn fragend an.

»Halten Sie sich den Beutel an den Mund und atmen sie langsam ein und aus. Keine Angst, er ist unbenutzt.«

Sie sah ihn mit großen Augen an, während sie folgsam in den Sack blies. Und sie sich Stück für Stück erinnerte: Ihre Handtasche! Das Geld! Die Abteilungskasse! Ihre Welt stürzte ein! Entsetzt ließ sie die Tüte sinken und schnappte mehrfach nach Luft.

»Hallo? Nicht so schnell. Langsam! Und atmen sie aus dem Beutel.« Harry hob ihn ihr aufmunternd wieder an den Mund. »Na los.«

Liz Augen hingen traurig an ihm, während sie seine Anweisung befolgte: Ein – und – aus. Alles war verloren! Ihre kleine, heile Welt zerbarst in tausend Stücke. Ein – und – aus. Ausgerechnet heute hatte sie sechstausend Franken eingesteckt, um das Schutzgeld für ihre Kinder zu bezahlen. Ein – und – aus. Der Betrag war diesmal ungewöhnlich hoch, mehr als sie in einem Monat verdiente. In der Not hatte sie die Hälfte davon aus der Abteilungskasse genommen, und jetzt war alles weg! Ein – und – aus. Woher sollte sie so schnell so viel Geld hernehmen? Es gab nur eines: Sie musste die Handtasche wiederfinden. Wenn herauskam, dass sie in die Kasse gegriffen hatte, verlor sie ihren Job. Tränen schossen ihr in die Augen.

Harry legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern: »Na, kommen sie. Ich helfe ihnen.« Er zog sie auf die Beine und lief mit ihr in die Richtung, in die der Dieb verschwunden war. »Nur Mut, sie schaffen das schon. Schauen sie nur: Es ist so ein herrlicher Tag heute.«

Widerstrebend ließ sie sich mitziehen. Der hatte Nerven! Dachte Liz. Meine Welt ist gerade in die Brüche gegangen.

Das ungleiche Paar machte sich an die Verfolgung des Diebes. Harry stürmte voraus und sie eilte hinterher.

»Wenn wir den Gauner nicht finden, erstatten sie am Besten Anzeige beim nächsten Polizeiposten. Ihre Bankkarten oder Kreditkarten sollten sie unverzüglich sperren lassen. Das Bargeld ist ziemlich sicher futsch.«

Liz hörte nur halb zu, während sie sich suchend umschaute. »Können Sie beschreiben, wie er aussah?«

»Er war mittelgroß, von schlanker Statur«

»Kleider: Was trug er?«

»Etwas Dunkles, Hose und T-Shirt.«

»Haare?«

»Sandfarben.«

Liz sah ihn verblüfft an, all das hatte er sich in der kurzen Zeit gemerkt. Tief beeindruckt musterte sie ihn: Er war einen Kopf größer als sie, war gut proportioniert, sie tippte auf regelmäßiges Training. Er hatte den Gang eines Sportschwimmers, ausgreifenden Schritte, rollende Schultern mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und sein Kopf schien dem Körper vorauszueilen.

Harry hastete weiter und zog sie nun an der Hand mit. Sie musste aufpassen, nicht zu stolpern, sonst würde sie bei dem Tempo mitgeschleift werden. Zwei Häuserblocks weiter vorne, hatten sie den Stehler eingeholt. Er schien es nicht besonders eilig zu haben. Harry ließ ihre Hand los und rannte zu ihm. Im Nu hatte er ihn eingeholt, zerrte ihn herum und griff nach der Handtasche. »Her damit!«

Der Mann schrie: »Hilfe – Diebe! Hilfe!«

Eine wilde Rangelei entstand. Harry wollte dem Langfinger die Tasche entreißen, doch der klammerte sich daran fest. Er wehrte sich geschickt, obwohl das Kräfteverhältnis zugunsten Harrys war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Oberhand gewinnen würde, hatte jedoch alle Hände voll zu tun, um nicht ausgetrickst zu werden. Erleichterung überkam ihn, als er hörte, wie einige Passanten herbeieilten. Endlich. Gleich hatten sie den Spitzbuben gefasst.

Da wurden ihm die Arme auf den Rücken gerissen. Überrascht wollte er sich umdrehen und fragen, was das soll. Als ein Schmerz in der Schulter ihn zwang die Tasche loszulassen. Ehe er sich versah, drückten ihn mehrere starke Hände auf den Boden, bis er sich nicht mehr rühren konnte.

»Was soll das?«, schrie er. »Der andere ist der Gauner! Er hat die Handtasche gestohlen!«

Einer der Bezwinger schnaubte empört. »Ha! Das könnte jeder behaupten!« Ein anderer: «Was für eine Unverschämtheit!«

Zu Harrys Verblüffung glaubte ihm keiner. »Ruft die Polizei!«, schlug einer vor. Ein Mann in Dreiteiler und Krawatte zückte das Handy.

»Sie machen einen riesigen Fehler. Hören Sie: Er hat der Dame da drüben die Tasche gemopst«, erklärte Harry und wies zu der Stelle hin, wo die Frau zu sah. Doch der Gehsteig war leer. »Aber, sie war eben noch da!«

Von Männern umstellt wurde er weiter festgehalten. Ein paar Neugierige waren stehen geblieben und beobachteten das Treiben. Doch die schöne Fremde blieb verschwunden.

Bald darauf kam die Polizei und übernahm den Gefangenen. Obwohl er ihnen schwor, dass alles ein Missverständnis sei und er selbst für die Justiz arbeitete, zweifelten sie. Sie verlangten, dass er sich auswies. Nachdem er eine Hand befreit hatte, griff er selbstsicher in die Gesäßtasche, doch die war leer. Seine Brieftasche war auch weg. »Sie muss mir beim Kampf herausgefallen sein.« Suchend schauten sich alle um, aber da war nichts. »Der Dieb, bestimm hat er sie geklaut!«

Doch statt ihm zu glauben, verdüsterte sich der Blick der umstehenden Männer. Ein junger Polizist, frisch ausgebildet und übermotiviert, legte ihm die Hand auf die Schulter: »Andere Leute zu beschuldigen, rettet Sie auch nicht mehr. Sie sind verhaftet.« In Handschellen wurde Harry in den bereitstehenden Einsatzwagen geschoben. All seine Proteste und Argumente nützten nichts, oder verpufften ungehört.

Was für ein Alptraum lief hier? Fragte er sich. Er wurde für einen Gauner gehalten. Die fremde Frau hatte sich aus dem Staub gemacht. Und anstatt im Reisebüro Ferien zu buchen, kam er in eine Zelle. Und all das geschah ihm am helllichten Tag, mit den Augen weit offen. Was die Sache geradezu gespenstisch machte. Dabei hatte für ihn der Morgen so gut begonnen.

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