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Im Funicolare wurden sie von zwei Kellnerinnen begrüßt. Die eine war sehr jung, hatte brünette Haare und eine kräftige Statur. Sie stand hinter der Theke und polierte mit einem Geschirrhandtuch die Weingläser. Wenn sie mit einem Glas fertig war, hielt sie es kurz in die Luft und nahm sich dann das nächste vor. Die zweite Bedienung war schon etwas älter, Mitte fünfzig vielleicht. Sie war gertenschlank, hatte blond gefärbte Haare und musste in jungen Jahren einmal sehr hübsch gewesen sein. Sie ging auf Frau Hengartner zu, reichte ihr die Hand und brachte mit einigen netten Worten ihre Freude über ihren Besuch zum Ausdruck. Sie sprachen gleich deutsch miteinander, natürlich bis auf das obligatorische buongiorno. Anschließend nickte sie Bessell mit einem freundlichen Lächeln zu, ohne ihm jedoch die Hand zu geben. Frau Hengartner musste schon häufiger im Ristorante Funicolare verkehrt haben. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes war ganz offenbar noch nicht bis hierher vorgedrungen. Es war auch keine Verwunderung in den Gesichtern der Kellnerinnen darüber zu erkennen, dass Frau Hengartner das Restaurant mit einem fremden Mann besuchte. Sie waren die ersten Gäste an diesem späten Nachmittag. In einem großen Kamin knisterte ein wärmendes Feuer. Die Tische mit ihren orangefarbenen Tischdecken waren bereits alle für die Abendgäste eingedeckt. Neben den gefalteten hellgelben Servietten standen geschmackvolle Stilgläser für Wasser und für Wein. Die Bestecke für mehrere Gänge lagen wohlgeordnet daneben. Gegenüber dem Kamin, ganz am anderen Ende des Raumes, war eine Fensterfront, die auf die Aussichtsterrasse hinausging. Auch vor diesen Fenstern standen eingedeckte Tische und von dort musste die Aussicht sehr schön sein.

»Wo wollen wir sitzen, direkt beim Kamin oder lieber dort vorne, wo wir die Aussicht auf den See haben«, fragte Frau Hengartner. Bessell zögerte. Der Kamin strahlte eine angenehme Wärme aus und er hatte geschwitzt, andererseits war es draußen noch hell genug, um hinauszusehen. Außerdem konnte er ihrem Gesicht ansehen, dass sie viel lieber den Tisch am Fenster nehmen würde.

»Ach, lassen Sie uns ruhig noch eine Weile die Aussicht genießen.« Er nahm Frau Hengartner die Jacke ab und brachte sie zusammen mit seiner zur Garderobe. Als sie saßen, kam die ältere von den beiden Kellnerinnen mit den Speisekarten. Sie bedauerte, dass es um diese Uhrzeit nur Lasagne und eine Gemüsebrühe gab. Beide hatten sie vom Wandern Hunger bekommen. Sie bestellten jeder die Lasagne und dazu einen Insalata Mista. Bessell wollte Mineralwasser dazu trinken. Frau Hengartner wählte für sich einen trockenen Weißwein aus und orderte gleich eine große Flasche Mineralwasser dazu. Nachdem sie bestellt hatten, blickte Frau Hengartner gedankenverloren aus dem Fenster. Die Ellbogen hatte sie auf den Tisch aufgestützt und die Hände wie zum Gebet zusammengelegt. Ihre Fingerspitzen berührten dabei ihr Kinn. Sie trug ein langärmeliges hellblaues Shirt. Es lag sehr eng an und Bessell konnte sehen, dass sich darunter ein Top abzeichnete. Auch sie hatte sich beim Wandern warm gelaufen. Unter ihren Achseln hatte sie geschwitzt.

»Ich komme hier so gerne her«, sagte sie ganz unvermittelt und in einem sanften Ton, »weil ich den Anblick der Madonna del Sasso sehr mag.« Bessell nahm seinen Blick von ihrem Gesicht und sah ebenfalls hinaus. Gleich hinter der Terrasse des Ristorante Funicolare lag eine steil abfallende Parkanlage mit hochaufragenden Palmen, deren mächtige Fächerkronen den Winter bisher gut überstanden hatten. Etwas tiefer gelegen prunkte auf einem Felsplateau im dämmrigen Licht des Spätnachmittags die ockergelbe Klosterkirche, mit ihrer Arkadengalerie, dem langgezogenen erdig roten Dach und dem etwas zu klein geratenen Glockenturm. Dahinter lag in dunstiger Luft der milchig schimmernde See. Auf der gegenüberliegenden Uferseite stieg der mächtige Monte Tamaro steil empor.

»Eigentlich hat die Kirche den Namen Santa Maria Assunta, doch die Menschen hier nennen sie nur Madonna del Sasso, die Felsenmadonna.« Frau Hengartner lächelte träumerisch, ohne ihren Blick von der Wallfahrtskirche zu nehmen. Dann legte sie ihre Unterarme auf den Tisch, so dass ihre Hände beinahe auf Bessells Tischseite lagen und sah ihn an. Die junge Bedienung trat an ihren Tisch. Sie hatte ihre brünetten Haare mittlerweile zu einem Zopf zusammengebunden und servierte das Mineralwasser und die gläserne Weinkaraffe. Während sie einschenkte, sagte sie einige Worte auf Italienisch. Sie sprach über das gute Wetter und die leider sehr schlechten Aussichten für die nächsten Tage. Dabei sah sie hin und wieder aus dem Fenster. Bessell antwortete auf Italienisch. Er bemängelte mehr zum Spaß, die unzuverlässigen Wettervorhersagen und versicherte ihr, dass es kein schlechtes Wetter gäbe, sondern nur die unpassende Kleidung dazu. Als sie wieder allein waren, fragte ihn Frau Hengartner erstaunt.

»Woher können Sie so gut Italienisch sprechen?«

»Meine Mutter ist Italienerin. Ich bin in Deutschland zweisprachig aufgewachsen.«

»Seitdem wir das Haus im Tessin haben, habe ich immer mal wieder versucht mein Italienisch zu verbessern. Doch da hier so viele Deutsch sprechen, ist es bei den wenigen Worten geblieben«, sagte Nicole Hengartner.

»Ja, die meisten können ganz passabel Deutsch sprechen« stimmte Bessell ihr zu.

»Und Ihre Eltern, leben sie noch in Deutschland?«

»Meine Mutter, ... mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben.« Frau Hengartner machte ein betroffenes Gesicht.

»Das tut mir leid. Hat Ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters nie die Absicht gehabt, wieder zurück nach Italien zu gehen?«

»Doch, sie hatte mit dem Gedanken gespielt.«

»Und warum hat sie es nicht getan?«

»Meine Mutter hat viele Freunde in Deutschland und lebt alles andere als zurückgezogen. Auch nach dem Tod meines Vaters hat sie sich nicht eingeigelt, obwohl es unmittelbar danach sehr schwer für sie war.«

»Woher stammt Ihre Mutter?«

»Aus Latisana, einem kleinen Städtchen im Friaul, das liegt in Norditalien.« Frau Hengartner nickte nur und ihr war anzusehen, dass sie zwar das Friaul kannte, aber von der Stadt Latisana noch nie etwas gehört hatte. Für einen Augenblick schwiegen sie sich an. Frau Hengartner sah vor sich auf den Tisch und betrachtete ihre Fingernägel. Dann sah sie zu Bessell auf.

»Finden Sie nicht auch, dass es albern ist, wenn wir uns die ganze Zeit mit Sie anreden? Ich heiße Nicole.« Sie nahm ihr Glas zur Hand, hielt es hoch und wartete mit einem Lächeln darauf, dass Bessell mit ihr anstieß.

»Einverstanden, ich heiße Marco.«

»Marco mit c geschrieben?«

»Ja, bei einer italienischen Mutter gab es darüber keine Diskussion.« Bessell musste ganz unverhofft lachen und Nicole Hengartner sah ihn fragend an.

»Ich habe noch einen zweiten Vornamen und mit dem spricht meine Mutter mich auch heute noch an.«

»Und der wäre?«

»Mein zweiter Vorname ist Andrea, ach was rede ich, es ist eigentlich mein Erster, so steht es zumindest auf meiner Geburtsurkunde und in meinen Ausweisen.«

»Ja, ich verstehe.«

»Als ich geboren wurde, da war Andrea in Deutschland ein sehr beliebter und weitverbreiteter Mädchenname. Meine Mutter konnte es gar nicht begreifen und wollte mich trotzdem unbedingt Andrea nennen. Doch mein Vater war etwas vorausschauender und schlug gleich als zweiten Vornamen Marco vor. Ich bin davon überzeugt, dass die deutschen Behörden den Vornamen Andrea allein nicht akzeptiert hätten. Als ich in die Schule kam, war ich froh darüber und habe mich natürlich von allen Mitschülern nur Marco nennen lassen.«

Nicole nippte an ihrem Weinglas und sah Marco dabei an. Das Essen wurde gebracht. Diesmal kam wieder die Kellnerin, die Nicole so herzlich begrüßt hatte.

»Vorsicht«, sagte sie auf Deutsch, »die Lasagne ist noch ganz heiß.« Sie stellte die Teller auf den Tisch.

»Meine Kollegin bringt sofort den Salat. Möchten Sie noch etwas Brot dazu?« Nicole und Marco nickten.

»Sehr gern.«

Der Salat wurde gebracht und gleich darauf ein Körbchen mit geschnittenem Weißbrot.

»Buon appetito.«

»Grazie«, antworteten sie im Duett. Die Lasagne war tatsächlich noch sehr heiß und Nicole pustete mit geschürzten Lippen, während Marco den Salat probierte.

»Ich glaube mit der Lasagne müssen wir noch einen Augenblick warten, sie ist noch viel zu heiß. Erzähl mir noch etwas von deinem Leben als Schriftsteller.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen und ich weiß noch nicht einmal, ob es am Ende mit der Schriftstellerei klappt. Woher weißt du eigentlich davon?«

»Ich kenne deine Vermieterin.«

»Ach ja. Übrigens ist sie eine sehr gute Freundin meiner Mutter, sonst könnte ich mir die Wohnung hier nicht leisten.«

»Woran schreibst du gerade?«

»Darüber möchte ich noch nicht sprechen. Ich will nur soviel verraten, dass es ein Roman wird und auch etwas mit dem Lago Maggiore zu tun hat.«

Bessell wunderte sich über die Fragen. Er hatte eigentlich gehofft, mehr über Nicole Hengartner zu erfahren und jetzt fragte sie ihn aus. Was war sie bloß für eine Frau. Vielleicht hatte Sie ihren Mann tatsächlich auf dem Gewissen.

»Aber einen Roman hast du schon veröffentlicht?«

»Ja, aber er hat sich nicht gut verkauft.«

»Wie bist du überhaupt zur Schriftstellerei gekommen?«

Bessell erzählte ihr mit wenigen Worten, dass er Lehrer werden wollte, dann Germanistik studiert hatte und am Ende doch nichts von beidem zum Abschluss gebracht hatte. Dann die Arbeit im Zeitschriftenverlag, auf Empfehlung seiner erfolgreichen Frau. Die albernen Artikel über Architektur, Designermöbel und Luxusuhren und schließlich die Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und als freier Schriftsteller zu arbeiten.

»Und was macht deine Frau beruflich?«

»Sie ist Journalistin und viel auf Reisen.« Bessell probierte die Lasagne. Sie schmeckte ihm.

»Ach, ich glaube, dass deine Frau Journalistin ist, hattest du mir schon an dem Abend in San Nazzaro erzählt. Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass wir beide gescheiterte Ehen hinter uns haben.« Sie wirkte auf einmal sehr nachdenklich, spießte ebenfalls ein Stück Lasagne auf die Gabel und schob es sich vorsichtig in den Mund. Die Lasagne war nicht mehr so heiß wie zu Beginn.

»Nicole, wir müssen noch über dich und deinen Mann sprechen. Ich glaube Favalli hat es auf uns beide abgesehen. Er verdächtigt uns.«

Sie wurde blass, sah Bessell kurz in die Augen und dann wieder auf ihren Teller. Mit der Gabel stocherte sie in ihrer Lasagne herum. Dann legte sie das Besteck an den Tellerrand und lehnte sich zurück.

»Du hast recht, das müssen wir.«

Bessell überlegte, sah noch einmal hinaus in die schon fortgeschrittene Dämmerung. Der See war kaum noch zu erkennen und aus der ockergelben Felsenmadonna war ein graues Gebäude mit Türmchen geworden. In den Fensterscheiben spiegelte sich bereits zart das Innere des Restaurants, allen voran Bessell, zurückgelehnt in seinem Stuhl und Nicole, die etwas in sich zusammengesunken darauf wartete, von ihm befragt zu werden.

»Wie du schon richtig erkannt hast«, fing Bessell an, »hat der Zufall es alles andere als gut mit mir gemeint.« murmelte er kopfschüttelnd und ließ ein leises spöttisches Lachen folgen.

»Eigentlich bin ich hier ins Tessin gekommen, um in der Beschaulichkeit dieser Landschaft konzentriert an meinem Roman zu arbeiten. Jetzt im Winter war ich davon überzeugt, dass es gelingen könnte. Und dann gerate ich mitten in solch eine Sache hinein.«

»Das tut mir schrecklich leid für dich«, sagte Nicole und legte ihre Hand auf seine. Bessell empfand die Berührung als sehr angenehm, dennoch zog er seine Hand nach einem kurzen Augenblick zurück und trank von seinem Glas. Nachdem er das Glas zurückgestellt hatte, legte er seine Hand nicht wieder auf den Tisch.

»Favalli und Caroni haben sich bereits eine Meinung über mich gebildet, die unumstößlich zu sein scheint und offenbar durch Gerüchte genährt wird.« Bessell klang sehr ärgerlich.

»Irgendwer im Ort hat ihnen erzählt, dass ich mit dir gut befreundet bin. Doch wenn man genau hinhört, dann meinten sie mit befreundet, dass wir etwas miteinander haben.«

Nicole lachte kurz und spitz auf, verdrehte die Augen und griff nach ihrem Weinglas.

»Die spinnen doch«, sagte sie und kippte den letzten Rest aus dem Glas hinunter.

»Das mag sein, aber die meinen es ganz ernst. Favalli hat mir heute Morgen ziemlich unverblümt zu verstehen gegeben, dass er mich verdächtigt, deinen Mann umgebracht zu haben.«

Bessell hatte etwas lauter gesprochen und sah hinüber zum Tresen. Sie waren noch immer die einzigen Gäste im Lokal. Die junge Bedienung polierte wieder die Gläser, die Ältere war nirgendwo zu sehen.

»Dieser Vollidiot«, warf Nicole scharf dazwischen.

»Er sprach übrigens davon, dass du bei der Scheidung ziemlich leer ausgegangen wärst, weil ihr keine Kinder habt und dein Mann das Geld verdient hat.«

Nicole sah empört zur Seite und biss sich auf die Unterlippe. Bessell wartete darauf, dass sie sich verteidigte. Doch es kam nichts. Schließlich ergriff er wieder das Wort.

»Und da ich als mittelloser Schriftsteller und dein vermeintlicher Geliebter ebenfalls vom Tod deines Mannes profitieren würde, verdächtigen sie mich eben. So einfach ist das.«

Nicole schüttelte den Kopf.

»Das ist alles so krank. Diesem Favalli habe ich gleich angemerkt, dass er mich nicht mag und ganz offenbar Vorurteile gegen mich hat. So in der Art, verwöhnte Frau, die selbst nichts zustande gebracht hat und sich von ihrem Mann aushalten lässt.« Sie sah sehr zornig aus, während sie es sagte.

Bessell wartete ab, ob sie noch etwas hinzufügen wollte, doch sie beugte sich nach vorn, nahm die Glaskaraffe und schenkte sich den letzten Rest Wein ein.

»Übrigens«, sagte Bessell, »was die ganze Sache nicht leichter macht, Favalli hat mir heute Morgen ebenfalls mitgeteilt, dass ein Raubmord definitiv ausscheidet. Dein Mann soll Bargeld und Kreditkarten bei sich gehabt haben und nichts von dem wurde angerührt.«

Nicole hatte ihr Weinglas zum Mund führen wollen, dann aber mitten in der Bewegung abgebrochen.

»Davon hat er mir nichts erzählt«, sagte sie nachdenklich.

Obwohl Bessell schon keinen Appetit mehr hatte, aß er wieder von seiner Lasagne und dem Salat.

»Sage mir noch einmal, aus welchen Fragen du heraushören konntest, dass der Kommissar dich verdächtigt?«, wollte Bessell wissen. Nicole überlegte einen Augenblick.

»Na ja, er fragte mich, ob wir uns an dem Abend gestritten haben, was ich noch für meinen Mann empfunden habe und ob ich ebenfalls unten am Strand war. Außerdem wollte er wissen, ob ich schon einen anderen Mann kennengelernt habe.«

»Und, was hast du geantwortet?«

»Nein, habe ich nicht. Dass er den Gedanken hatte, du könntest der Mann sein, darauf wäre ich nie gekommen.« Sie nahm wieder ihre Gabel in die Hand, konnte sich dann aber doch nicht entscheiden, weiter zu essen.

Jetzt lachte Bessell spöttisch und wackelte mit dem Kopf.

»Wenn ich hier nicht mit dir sitzen und sich das nicht alles verdammt echt anfühlen würde, dann könnte ich ernsthaft glauben, es wäre alles nur ein böser Traum. Ich bin mit deinem Auto hierher gefahren, wir sind zusammen gewandert, wir duzen uns mittlerweile und jetzt sitzen wir hier beim Essen, dabei bist du im Grunde genommen eine vollkommen fremde Frau für mich. Ich weiß so ziemlich nichts über dich. Wer sagt mir denn, dass du deinen Mann nicht doch umgebracht hast.«

Den letzten Satz bereute er sogleich, weil er dadurch mit der Tür ins Haus gefallen war.

»Du verdächtigst mich also auch?« Nicole schien den Tränen nah zu sein, versuchte aber die Haltung zu bewahren.

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Bessell halblaut, »aber du musst mir unbedingt mehr von dir erzählen. Und vor allem müssen wir gemeinsam überlegen, wer deinen Mann umgebracht haben könnte.« In Wirklichkeit war er sich gar nicht so sicher und hoffte, dass sie es ihm nicht anmerkte. Nicole hatte sich wieder etwas beruhigt. Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, so als hätte sie Tränen darin. Doch ihre Augen waren trocken geblieben. Sie sah aber sehr müde aus. Die ältere Kellnerin kam an ihren Tisch. Bessell hatte seine Lasagne aufgegessen und nur wenige Salatblätter übriggelassen.

»War alles in Ordnung?«

»Ja, nur etwas zu viel«, sagte Nicole und ließ abräumen.

»Darf ich noch einen Kaffee oder Dessert bringen?« Sie sahen sich beide an.

»Doch, einen Kaffee trinken wir noch. Bringen Sie uns zwei Schümli.« Bessell nickte zustimmend. Die Madonna del Sasso wurde jetzt von diversen Scheinwerfern angestrahlt.

»Ja, wo soll ich da anfangen? Meinen Vornamen kennst du ja jetzt.« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und war schneller wieder verschwunden, als es Bessell lieb war.

»Ich bin 42 Jahre alt und wurde in Winterthur geboren. Meine Eltern leben beide nicht mehr, sie saßen in der Concorde, die kurz nach dem Start auf dem Flughafen Charles de Gaulle abgestürzt ist. Sie wollten sich einen Traum erfüllen und über den Atlantik nach New York fliegen. Es war ihr dreißigster Hochzeitstag. Freunde von ihnen hatten extra dafür Geld gesammelt. Geschwister habe ich keine, ich bin ein Einzelkind. Mit meinem Mann war ich seit fünfzehn Jahren verheiratet. Wir haben uns an der Universität in St. Gallen kennengelernt. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und ich Innenarchitektur. Als er mit dem Studium fertig war und eine Anstellung in einer Baseler Bank angeboten bekam, heirateten wir. Ich hatte mein Studium noch nicht abgeschlossen, aber als seine Frau ging ich natürlich mit ihm nach Basel. Er ist ...«, Nicole verbesserte sich, »... er war übrigens zwei Jahre älter als ich. Ich habe dann ein halbes Jahr in einem Architekturbüro eine Schwangerschaftsvertretung übernommen. Als die Frau zurückkam, musste ich wieder gehen. Wenn ich meinen Abschluss gehabt hätte, hätte ich möglicherweise noch bleiben können. Dann wollten wir Kinder haben. Ich blieb also zu Hause, doch es wollte einfach nicht klappen. Wir probierten es zwei Jahre. Erst dachten wir, es läge am Stress, dem mein Mann beinahe ständig in der Bank ausgesetzt war. Dann ließen wir uns untersuchen. Mit mir war alles in Ordnung und ich hätte Kinder kriegen können, doch Thomas war zeugungsunfähig. Er hatte als jugendlicher Mumps, mit einigen Komplikationen, wie sich später herausstellte. Obwohl es mit dem Kinderkriegen nicht mehr klappen konnte, blieb ich dennoch zu Hause, aus lauter Bequemlichkeit. Thomas verdiente gut und wir kauften uns eine schicke Eigentumswohnung in Basel. Ich begnügte mich damit, zuerst unsere Wohnung hübsch einzurichten und dann anschließend Freunde bei der Inneneinrichtung ihrer Häuser zu beraten. Zwei Jahre später bekam Thomas dann das Angebot zum Stammsitz der Bank nach Zürich zu gehen.«

Die Kaffees wurden gebracht. Schweigend sahen sie dabei zu, wie die Tassen auf den Tisch gestellt wurden. Es war wieder die junge Kellnerin.

»Ecco qua.«

»Grazie.«

»Hört sich alles ziemlich langweilig und unspektakulär an oder?« Bessell verzog den Mund.

»Nein, wieso?«, murmelte er.

»Dann kauften wir ein Haus in Zürich und ich war wieder für eine Weile damit beschäftigt, alles geschmackvoll einzurichten. Thomas ließ mir dabei alle Freiheit. Vielleicht war es ihm auch egal, denn seine Arbeit schien ihn weitaus mehr zu beschäftigen, als alles andere. Als unser Haus soweit fertig und alles so eingerichtet war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, nahm ich eine ehrenamtliche Tätigkeit an. Ich las in Kindergärten Geschichten vor, dreimal die Woche, jeweils fast den ganzen Vormittag lang. Es machte mir sehr viel Freude.« Nicole sah Bessell verträumt an.

»Hattet ihr nie darüber nachgedacht, ein Kind zu adoptieren?« Während Nicole erzählt hatte, war Bessell schon eine Weile dieser Gedanke durch den Kopf gegangen. Nicole nahm sich Zeit für die Antwort.

»Doch, und Thomas hatte auch erst so getan, als ob er es sich vorstellen könnte. Aber je öfter ich darauf zu sprechen kam, um so mehr hatte ich den Eindruck, dass er eigentlich kein ehrliches Interesse an einer Adoption hatte. Und irgendwann sagte er es dann frei heraus.« Nicole machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Dann kauften wir das Haus in Gerra. Ich hatte das Gefühl, dass er mich damit ablenken wollte und es gelang ihm auch recht gut. Die gemeinsamen Aufenthalte hier am Lago Maggiore brachten uns wieder näher zusammen. Ich hatte auch den Eindruck, dass er sich insgesamt wieder mehr Zeit für mich nahm.«

Nicole und Marco sahen zur Theke. Die ersten Abendgäste waren eingetroffen. Ein älteres Ehepaar. Sie setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Kamins. Die junge Kellnerin legte noch ein Holzscheit nach. Sie schürte das Feuer. Funken sprangen knackend umher. Flammen züngelten auf.

»Was genau hat dein Mann eigentlich bei der Bank gemacht? Nicole atmete laut aus und ihre Lippen vibrierten dabei leicht.

»Er war in den letzten Jahren Abteilungsdirektor und betreute wohlhabende Kunden, unter anderem bei Immobilienprojekten und konservativen Geldanlagen. Viel habe ich jedoch von dem nicht verstanden, was er mir gelegentlich erzählte.« Bessell nippte an seinem Kaffee. Er war noch sehr heiß.

»Was hatte er für Freunde?«

»In Zürich hatte er eigentlich niemanden. Nach der Arbeit ging er ganz selten mit einem Kollegen ein Bier trinken. Ein bis zweimal im Jahr traf er sich mit Kommilitonen aus der St. Gallener Studienzeit zum Segeln.«

»Hier am Lago Maggiore?«

»Nein am Bodensee oder am Vierwaldstättersee, einmal auch am Genfer See.«

»Hast du ihn mal begleitet?«

»Wo denkst du hin, das war reine Männersache. Sie wollten unter sich bleiben.«

»Und irgendwann habt ihr euch dann auseinandergelebt?«

»Ja, seit etwa zwei Jahren schien er wieder fast ausschließlich für seinen Beruf zu leben. Letzten Sommer war ich sogar alleine hier. Er hatte keine Zeit, wegen der Wirtschaftskrise.« Nicole sah ihn traurig an.

»Glaubst du, dass er eine andere Frau kennengelernt hatte?«

»Nein, auf keinen Fall. Das wäre mir ganz sicher aufgefallen. Es schien tatsächlich die Arbeit gewesen zu sein, die ihn besonders in Anspruch genommen hatte.« Sie trank von ihrem Kaffee.

»War er möglicherweise unter Druck geraten, weil er Fehler in der Bank gemacht hatte?«

»Ich glaube, dafür hatte er ein zu dickes Fell. Außerdem hatte er die Fehler nicht allein gemacht. Das ganze Management der Bank war ja dafür verantwortlich, wenngleich er in seiner Position sicherlich seinen Teil dazu beigetragen hatte.«

»Vielleicht hatte er fahrlässig das Geld seiner Kunden riskiert und einer davon hatte es ihm besonders übelgenommen?« Nicole schaute ihn ungläubig an.

»Die Kunden, die er hatte, konnten doch den Hals nicht voll genug bekommen und wussten genau, welches Risiko sie eingingen. Außerdem hatte es gerade die reichen Kunden gar nicht so hart getroffen, wie immer behauptet wird. Einige hatten hinterher sogar noch mehr auf dem Konto. Thomas hatte mir gegenüber einmal eine Andeutung dieser Art gemacht, obwohl er gerade in den letzten beiden Jahren fast gar nicht mehr über diese Dinge mit mir gesprochen hat.«

»Stimmt es, was Favalli sagt, dass du bei einer Scheidung möglicherweise leer ausgegangen wärst?«

»Damit habe ich mich nicht näher beschäftigt. Ich wollte einen Schlussstrich ziehen, weil ich so nicht länger leben konnte. Er hat sich auch nicht lange dagegen gewehrt und war schließlich mit der Scheidung einverstanden.«

»Aber irgendwie musst du dir doch Gedanken über deine Zukunft nach der Scheidung gemacht haben?« Nicole sah zur Seite und versuchte einen Blick auf die züngelnden Flammen im Kamin zu werfen, doch sie konnte nicht viel davon sehen. Es standen zu viele Tische und Stühle im Weg. Das Thema war ihr unangenehm.

»Gut, ich bin davon ausgegangen, dass Thomas noch für meinen Unterhalt aufkommt, bis ich auf eigenen Füßen stehen würde.« Sie machte eine Gedankenpause und trank wieder von ihrem Kaffee. Dann sagte sie:

»Ich hatte auch gehofft, dass er mir das Ferienhaus in Gerra überlässt. Nicht damit ich es zu Geld machen kann, nein ich konnte mir gut vorstellen, dort zu leben.«

»Und hattet ihr schon darüber gesprochen, du und dein Mann?«

»Doch, wir hatten darüber gesprochen und er hatte mir versichert alles fair abzuwickeln, obwohl wir...« Nicole zögerte und griff wieder nach ihrer Tasse. Während sie trank, blickte sie Marco über den Tassenrand an.

»Obwohl ihr was?« Nicole setzte die Tasse ab.

»Gütertrennung vereinbart hatten.«

»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«

»Ich war sehr verliebt in unserer Anfangszeit und er auch. Sein Vater hatte ihm dazu geraten und mir war es damals egal.«

»Warum gerade sein Vater?«

»Ach, was weiß ich.« Sie überlegte und machte dabei eine trotzige Miene. »Ich glaube ein Freund seines Vaters wurde von seiner Frau nach der Scheidung finanziell ruiniert. Er war wohl schon vor der Hochzeit vermögend und sie hatte keinen einzigen Rappen.«

Bessell wusste nicht, was er davon halten sollte. Auf jeden Fall hatte Favalli recht und Nicole Hengartner profitierte von dem Tod ihres Mannes. Die vereinbarte Gütertrennung konnte ihr jetzt vollkommen gleichgültig sein, es sei denn ....

»Und da gab es wirklich keine andere Frau im Leben deines Mannes?«

»Nein, das hätte ich gemerkt, und als ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt habe, mich unbedingt von ihm trennen zu wollen, hätte er mir doch davon erzählt.«

»Aber warum war er mit der Scheidung so schnell einverstanden?«

»Weil auch er gemerkt hat, dass wir keine richtige Ehe mehr geführt haben.«

»Über welches Vermögen reden wir überhaupt? Favalli sprach von einer stattlichen Summe, die dein Mann auf der hohen Kante hätte.«

»Du wirst lachen, aber ich habe mich für diese Dinge nicht interessiert. Er war schließlich der Banker. Ich wusste nur, dass er gut verdiente und gelegentlich anständige Gratifikationen kassierte. Mir war auch klar, dass unser Haus in Zürich und natürlich das hier im Tessin nicht gerade billig gewesen sein konnten. Hin und wieder bekam ich mit, wie er nach gewinnbringenden Anlageformen Ausschau hielt und sie wohl auch fand. Manchmal wirkte er deswegen angespannt und nervös, aber schließlich war er der Fachmann und ich habe mir darüber keine weiteren Gedanken gemacht.«

»Das bringt uns alles nicht recht weiter«, sagte Bessell und trank den Rest aus seiner Kaffeetasse.

»Darum bin ich ja so beunruhigt.«

»Gibt es ein Testament?«

»Keine Ahnung. Um das in Erfahrung bringen zu können, muss ich zurück nach Zürich. Ich weiß sowieso nicht, wie das jetzt alles weiter geht.«

»Erst muss wohl die Leiche deines Mannes freigegeben werden. Dann wird ein offizieller Totenschein ausgestellt. Mit dem hast du dann die Möglichkeit, die Bankkonten einzusehen, glaube ich zumindest. War dein Mann bei einem bestimmten Notar oder Rechtsanwalt?«

»Ja, wir haben einen Rechtsanwalt.«

»Hat er sich die Steuererklärung machen lassen?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Leben die Eltern von deinem Mann noch?«

»Seine Mutter schon, sein Vater ist vor einigen Jahren gestorben.«

»Weiß seine Mutter bereits davon?«

»Ich denke ja, ich hatte Thomas Bruder angerufen. Er lebt in der Nähe von Schaffhausen, wo seine Muter wohnt. Er wollte hinfahren und es ihr schonend beibringen.«

»Wie war dein Verhältnis zu seinen Eltern?«

»Eher reserviert, ich glaube sie hatten sich eine andere Schwiegertochter für ihren Thomas gewünscht. Thomas war ihr jüngster Sohn.«

»Hatte er noch weitere Geschwister?«

»Nein, nur seinen Bruder Andreas. Er ist drei Jahre älter.«

»Wie verstehst du dich mit ihm?«

»Sehr schlecht. Er mochte mich von Anfang an nicht und hat es mich gelegentlich auch spüren lassen.«

»Und wie hat Thomas sich mit seinem Bruder verstanden?«

»Gut, würde ich sagen. Sie haben sich zwar nur selten gesehen, aber häufig miteinander telefoniert.«

»Hört sich alles ganz normal an. Hatte dein Mann Hobbys, denen er nachgegangen ist?«

»Außer Segeln, war da eigentlich nichts. Das heißt, gelegentlich ist er zu den Heimspielen von Grasshopper Zürich gegangen.«

»Allein?«

»Nein, mit einem Arbeitskollegen. Manchmal hat er auch einen Freund von uns mitgenommen. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Baden.«

»War er Mitglied in einem Segelverein?«

»Nein, aber hin und wieder haben wir uns ein Segelboot geliehen und sind am Wochenende auf dem Zürichsee gesegelt.«

»Verstehst du auch etwas vom Segeln?«

»Nur sehr wenig. Ich war der Fockaffe.« Sie mussten beide lachen. Bessell wusste, der Fockaffe bekam Anweisungen vom Steuermann, dem Großschoter und war dazu da, Vorsegel und Spinnaker zu setzen, zu bergen und zu bedienen. Der Fockaffe auf einem Segelboot wird häufiger nass und ist viel beschäftigt. Für einen kurzen Moment stellte Bessell sich vor, wie Nicole vorne am Bug hockte, das flatternde Vorsegel vor dem Gesicht und auf neue Befehle von ihrem Mann wartete, der stolz an der Ruderpinne unter dem Großschot saß.

»Manchmal hatte ich den Eindruck, er wäre lieber allein gesegelt, als mit mir zusammen.«

Bessell spielte mit der leeren Kaffeetasse, bis sie ihm schließlich aus der Hand glitt und über den Rand der Untertasse auf die Tischdecke kullerte. Er fing sie wieder ein und stellte sie zurück.

»Wenn ich das alles so höre, dann kann ich mir nicht recht vorstellen, wer deinem Mann etwas Böses gewollt haben könnte. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass er sich einen seiner Bankkunden zum Feind gemacht hat, aber ob dieser ihn deshalb gleich umbringt ...? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Bessell schwieg einen Moment, weil er über etwas nachzudenken schien. Nicole sah ihn erwartungsvoll an.

»Wo wird die Beerdigung sein?« Nicole strich mit ihrem Daumen langsam über ihre Oberlippe. Sie bekam feuchte Augen und nahm sich die Serviette vom Tisch und putzte sich damit leise die Nase.

»Ich mag gar nicht daran denken.«

Sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Zwinkerte mit den Augen, doch eine Träne fand trotzdem den Weg aus dem Augenwinkel heraus. Mit der flachen Hand rieb sie die Träne von der Wange.

»Die Beerdigung wird ganz sicher in Schaffhausen stattfinden. Da ist er aufgewachsen, seine Mutter lebt dort und auf dem Friedhof liegt sein Vater begraben.« Bessell sah auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach sechs. Mittlerweile waren drei Männer und eine Frau eingetreten und hatten sich an einen Tisch ganz in ihrer Nähe gesetzt.

»Ich glaube wir sollten zurückfahren«, sagte Bessell. »Es war gut, dass wir gesprochen haben, auch wenn ich immer noch nicht den geringsten Anhaltspunkt habe, wer deinen Mann auf dem Gewissen haben könnte. Vielleicht war es auch irgendein Verrückter, der in der Gegend umherfährt und Leute umbringt.« Bessell hatte es mit dem Verrückten nicht besonders ernst gemeint. Nicole zahlte die Rechnung. Die junge Kellnerin kassierte. Während Bessell die Jacken von der Garderobe holte, sah Nicole aus dem Fenster und betrachtete die Felsenmadonna im Schein der grellen Strahler, die der Kirche einen Teil ihres Zaubers nahmen. Sie verabschiedeten sich noch von der älteren Kellnerin, die sie in der Nähe des Ausgangs abgepasst hatte.

»Schön, dass Sie wieder einmal da waren, und grüßen Sie Ihren Mann von mir.« Nicole lief rot an, sagte aber nichts, sondern nickte nur. Dann verließen sie das Lokal. Es war sehr kühl geworden und die Luft war feucht. In der Ferne funkelten die Lichter der Uferorte. Unter ihnen zogen die Reihen der Straßenlaternen von Locarno gelb gepunktete Linien in den Berg und in die Ebene bis hin zum Seeufer. Schweigend gingen sie an der Brüstung des Fußweges entlang. Steile Stufen führten hinunter in einen terrassierten Park, der jetzt in völliger Dunkelheit lag.

Sonne am Westufer

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