Читать книгу Sonne am Westufer - Fabian Holting - Страница 13
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ОглавлениеAls sie das Parkdeck erreicht hatten, suchte Nicole nach dem Parkticket und fand es schließlich in ihrer Jackentasche. Bessell half mit Kleingeld aus. Ihr Auto stand jetzt allein auf dem Parkdeck. Wie selbstverständlich betätigte Bessell die Fernöffnung des Wagens, hielt Nicole die Beifahrertür auf, ging dann um das Fahrzeug herum und setzte sich hinter das Lenkrad. Ihre Wanderstiefel wollte Nicole anbehalten, so dass sie gleich losfahren konnten.
»Ich mag die Stimmung am Abend sehr, mit den ganzen Lichtern unten am Ufer und den wenigen in den Bergen«, sagte Nicole leise, während sie mit zur Seite geneigtem Kopf aus dem Fenster der Beifahrertür sah.
»Wenn man eine Zeit lang hinaufschaut und den Berg beobachtet, dann sieht man zuweilen noch spät abends ein Auto zu einer Stelle hinauffahren, wo ein paar mehr Lichter verraten, dass dort eine Gruppe von Häusern ist, vielleicht sogar ein kleines Dorf. Ich stelle mir die Abgeschiedenheit dort oben sehr schön vor.«
Bessell konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch ihre melancholisch klingende Stimme verriet ihm, dass sie der Wirklichkeit für diesen Augenblick gedanklich entrückt war. Während sie zur anderen Uferseite nach Gerra zurückfuhren, entstand eine Stille im Wagen, in die sich nur die Fahrgeräusche und das gelegentliche Ticken des Blinkers mischten.
Jetzt hatte er Nicole Hengartner also näher kennengelernt. Er hatte etwas aus ihrem Leben erfahren und fragte sich, ob es den Vorstellungen entsprach, die er sich von ihr gemacht hatte, als sie nichts weiter als seine Nachbarin war. Er hatte sie als eine zwar unnahbare, aber sehr attraktive Frau wahrgenommen. Aber gerade diese Unnahbarkeit weckte sein Interesse um so mehr. Bisher hatte sie auf ihn gewirkt, wie eine Frau, die hart mit sich selbst und anderen war und ihre Ziele mit einer gleichbleibenden Ausdauer verfolgte. Natürlich war er davon ausgegangen, dass sie einem interessanten Beruf nachging. Er hatte sie sich als Rechtsanwältin gut vorstellen können. Vielleicht auch als Wirtschaftsprüferin in einer großen Sozietät. Wie sehr der äußere Anschein doch täuschen konnte. Er hatte in Nicole Hengartner eine Frau gesehen, die sie gar nicht war. Sicherlich hatte sie etwas, dass man wohl als introvertiert bezeichnen musste. Aber sie war keine Frau, die einer Berufung bis zur inneren Erschöpfung nachging und andere dabei ins Verderben zog. Ihre Unnahbarkeit schien ein Mittel zu sein, mit dem sie ihre Mitmenschen gelegentlich strafen wollte. Vielleicht weil sie sich minderwertig vorkam. Sie hatte nicht das aus ihrem Leben gemacht, was sie sich einmal erhofft hatte. Sie wollte Innenarchitektin werden und brach ihr Studium wegen ihres Mannes ab. Sie wollte Kinder haben, doch ihr Mann war nicht in der Lage, welche zu zeugen. Schließlich wollte sie ein Kind adoptieren, aber ihr Mann war hierzu nicht bereit. Eigentlich hatte sie allen Grund, ihn dafür zu hassen. Sie hätte sich dagegen zur Wehr setzen müssen, doch sie ließ es bleiben. Wie musste sie sich bloß als Fockaffe gefühlt haben, wenn sie mit ihm segeln war? Doch ihr Mann verstand es, sie bei Laune zu halten. Er kaufte das Haus am Lago Maggiore, dass sie nach ihren Vorstellungen und Wünschen einrichten durfte. Irgendwann hatte sie ihren Mann durchschaut und fasste den Entschluss, sich von ihm zu trennen. Sie wird sich gefragt haben, warum sie es ihm so leicht gemacht hatte, seinen Willen in all den Jahren durchzusetzen. Die Adoption hätte sie wenigstens durchsetzen können. Aber Bessell kannte ihren Mann zu wenig, um sich darüber ein Urteil erlauben zu können. Vermutlich wollte er einfach keine Familie mit Kindern, weil er sich zu sehr auf seinen Beruf fixiert hatte und jeglichen Stress außerhalb des Geschäftslebens vermeiden wollte. Vielleicht war er in dieser Beziehung Saskia sehr ähnlich, die auch nicht bereit war, ausreichende Zeit für eine intensiv gelebte Partnerschaft aufzubringen. Bessell hatte mit Nicole Mitleid. Sie hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt und er hatte das Verlangen, ihr in dieser Situation zur Seite zu stehen.
Es war ruhig im Ort. Carla Menottis Café hatte bereits geschlossen. Die Polizeitaucher mussten ihre Arbeit längst beendet haben, zumindest waren keine Einsatzfahrzeuge mehr zu sehen. Bessell setzte den Blinker und bog in ihre Straße ein. Während der Autofahrt hatte Nicole ganz entspannt ausgesehen. Mittlerweile hatte sich ihre Miene wieder verfinstert. Sie schien sich förmlich auf die nächste böse Überraschung einzustellen. Bessell parkte den Wagen. Als er den Motor abgestellt hatte und das Licht im Inneren des Wagens anging, sahen sie sich beide an.
»Vielen Dank für diesen Tag, Marco. Ich habe das Gefühl, nicht mehr allein mit der ganzen Angelegenheit dazustehen.« Bessell lächelte sie zuversichtlich an und gab ihr den Autoschlüssel. Beinahe gleichzeitig stiegen sie aus. Nicole holte aus dem Kofferraum ihre Schuhe.
»Könntest du dir vorstellen, mich bei den Dingen, die jetzt geklärt und geregelt werden müssen, zu unterstützen. Ich meine, die Beerdigung, die ganzen Formalitäten, die Klärung der Vermögenslage mit unserem Steuerberater. Ich verstehe davon einfach zu wenig.«
Bessell schwieg und überlegte, was er darauf antworten konnte. Dann sagte er:
»Ich werde tun, was ich kann, aber vielleicht solltest du dir lieber einen Anwalt nehmen. Vielleicht sollten wir beide uns einen Anwalt nehmen.«
»Also kann ich auf dich zählen? Ich wüsste nämlich sonst niemanden, den ich darum bitten könnte.« Bessell nickte. Sie schlenderten das kurze Stück hinunter zu den Hauseingängen. Das Auto veranstaltete das übliche Lichterspiel beim Abschließen. Als sie die Stufen zu Bessells Haustür erreicht hatten, gab sie ihm die Hand und er hielt sie länger fest, als nötig gewesen wäre.
»Also dann bis morgen. Ich würde mich freuen, wenn wir noch einmal gemeinsam darüber nachdenken könnten, was weiter zu tun ist.« Während sie das sagte, sah sie Bessell fest und freundlich in die Augen.
»Das können wir machen, aber überlege dir schon einmal, ob du einen guten Anwalt kennst, vielleicht in Zürich.« Sie nickte nur und wandte sich dann ab. Von ihrer Haustür aus, winkte sie ihm noch einmal zu und verschwand dann im Haus. Noch bevor Bessell seine Tür aufgeschlossen hatte, hörte er Nicole seinen Namen rufen. Der Ruf klang gedämpft zu ihm herüber. Er drehte sich um. Ihre Haustür stand noch offen. Er lief auf die Straße. Nicole erschien in der Haustür und kam ihm dann entgegen.
»Meine Haustür war nicht abgeschlossen. Erst dachte ich, ich hätte es heute Mittag einfach nur vergessen, aber als ich hineinging, sah ich, dass alles verwüstet ist.«
Bessell sah für einen kurzen Augenblick in Nicoles bestürzt aussehendes Gesicht. Dann nahm er die offene Haustür ins Visier und marschierte darauf zu. Nicole folgte nach anfänglichem Zögern, blieb aber einige Schritte hinter ihm.
Bessell betrat den weißgefliesten Eingangsbereich. Auf dem Boden lagen Schuhe verstreut, überwiegend Damenschuhe. Die Schiebetüren einer niedrigen schwarzen Kommode waren geöffnet. An der Wand hing schief ein rechteckiges Bild, das fast bis zum Boden reichte und in Längsstreifen aufgemalt, fünf Farben mit ihrer jeweiligen Komplementärfarbe zeigte. Vor einer futuristisch anmutenden Garderobe lag ein Haufen von Jacken, die ganz offenbar heruntergenommen wurden, um sie der Reihe nach zu durchsuchen. Bessell schob eine Schiebetür mit mattglänzendem Aluminiumrahmen und einer genoppten Plexiglasscheibe weiter auf und trat in einen geräumigen Wohnbereich. Nicole hatte hier bereits alle verfügbaren Lampen angeschaltet, so dass alles hell erleuchtet war. Auf dem nussbaumfarbenen Parkettboden lagen Bücher und Zeitschriften wild durcheinander. Ein beigefarbener Teppichläufer lag schiefverrutscht in der Mitte des Raumes. Darauf lagen Briefe, einige bunte Prospekte und Bedienungsanleitungen einer Stereoanlage. Gleich daneben die Schublade, in der diese Unterlagen und Papiere wohl gelegen hatten. Die Schublade gehörte zu einer Boiseriewand, die einen ähnlichen Farbton hatte, wie der Parkettboden und sich sehr markant von der weißgetünchten Wand abhob. Eine schwere Bronzeskulptur lag umgekippt auf einem der Regale. Die Stereoanlage stand unangetastet im unteren Segment der Boiseriewand. Der Raum ging über Eck. Auf der Ecke stand ein zylindrischer Kaminofen. Das Rauchrohr ging nicht im Bogen geführt in die Wand, sondern verlief senkrecht in die Decke hinein. Daneben, in einem niedrigen Regal aus gebürstetem Edelstahl, lagen in zwei Reihen sauber aufgespaltene Holzscheite. Der Garniturständer mit Schürhaken, Besen und Schaufel lag auseinandergefallen quer vor dem Kaminofen. Noch in diesem Teil des Raumes, vor einem großen rahmenlosen Bild, welches lediglich mit einem breiten Malerpinsel in verschiedene Richtungen ausgeführte schwarze Striche zeigte, stand ein Relaxsessel mit Chromgestell, der mit rotem Leder bezogen war. Bessell ging um die Ecke herum, wo ihn ein noch größerer Raum empfing. Auf einem schwarzen Sideboard lag eine zur Seite gekippte Stehleuchte mit einem würfelförmigen Lampenschirm. Auf dem Nussbaumparkett lagen, wie zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet, große Bildbände und einige leimgebundene Bücher, die ganz offenbar zuvor alle in einem beleuchteten Wandregal gestanden hatten, in dem noch drei Bücher verblieben waren. Vor diesem Wandregal befand sich ein umgekippter Polsterhocker. Das grüne Polster war in der Mitte aufgeschlitzt und weißer Füllstoff aus Polyester war herausgequollen. Vor einer großen Schiebetür, die hinaus auf eine in völliger Dunkelheit liegende Terrasse führte, stand eine Chaiselongue, ebenfalls mit rotem Leder bezogen. Bessell und Nicole spiegelten sich in der großen Fensterscheibe. Weiter rechts stand noch eine Récamiere mit Aluminiumkufen. Einer der beiden Beistelltische davor war umgefallen und streckte alle vier Beine von sich. Auch hier lagen einige Gegenstände auf dem Parkettboden, die vermutlich zuvor auf den Beistelltischen gestanden hatten. Zwei Polsterstühle des Esstisches waren ebenfalls umgekippt worden. Auf der schwarzen Glasplatte des Esstisches, der eckige Tischbeine aus glänzendem Edelstahl hatte, lag eine umgedrehte Obstschale aus Holz. Mehrere Äpfel und Birnen lagen auseinandergekullert auf dem Boden unter dem Tisch.
»Im Schlafzimmer und in der Küche sieht es nicht viel besser aus«, sagte Nicole.
Gemeinsam gingen sie wieder zurück in den Flur, von dem zwei Türen abgingen, die Bessell beim Hereinkommen nicht beachtet hatte. Nicole schaltete das Licht in der Küche ein. Die Schränke und Schubladen waren alle offen. Ein Teil des Geschirrs stand auf dem Küchentisch, der aus massivem Eichenholz gefertigt war. Aufgerissene Lebensmittelverpackungen lagen überall auf dem Fußboden herum. Zu guter Letzt warfen sie noch einen Blick ins Schlafzimmer und in das davon abgehende Badezimmer. Die in Eiche dunkel gehaltenen Nachtkästchen mit in kaffeebraun lackierter Glasrückwand standen offen. Auf dem Doppelbett, das eine rote Lederrückenlehne hatte, lagen Kleidungsstücke, Bettbezüge, Handtücher, Kosmetikartikel und verschiedene andere Dinge bunt durcheinandergewürfelt. Die ebenfalls in dem gleichen Kaffeebraun lackierten Glasschiebetüren des großen Kleiderschranks waren aufgeschoben und hier und da hingen noch verschiedene Kleidungsstücke aus den Regalfächern heraus. Im Bad war einiges zu Bruch gegangen. Nicole bückte sich. Sie wollte die Scherben eines Parfumfläschchens aufheben, das auf den hellblauen Fließen zersprungen war. Der Spiegelschrank über dem Waschbecken musste ziemlich vollgestellt gewesen sein. Die meisten Dinge daraus lagen unversehrt im Waschbecken. Bessell beugte sich zu Nicole hinunter und legte seine Hand sachte auf ihre Schulter.
»Lass alles so, wie es ist. Wir sollten sofort Favalli verständigen, damit er sich das ganze Durcheinander hier ansehen kann. Möglicherweise hat der Einbruch etwas mit dem Tod deines Mannes zu tun.« Bessell machte eine Pause und überlegte dabei angestrengt. Nicole sah ihn mit ernster Miene an.
»Vielleicht hat der Täter Spuren hinterlassen. Komm jetzt, wir gehen hinüber in meine Wohnung.« Er ließ Nicole vorangehen. Als sie die Haustür erreicht hatten, blickte er sich ein letztes Mal um. Mit ratlosem Gesichtsausdruck betrachtete er noch einmal den Haufen von Jacken vor der Garderobe, dann wandte er sich ab und trat hinaus auf die schwach beleuchtete Straße, wo Nicole stehen geblieben war und sich nach ihm umdrehte. Schweigend gingen sie in seine Wohnung. Der Anrufbeantworter blinkte. Wie ein Jäger, der eine Falle ausgelegt hatte, kontrollierte Bessell das Display des Anrufbeantworters. Und tatsächlich hatte sich ein Anruf darin verfangen. Wahrscheinlich Saskia oder aber seine Mutter. Egal wer es war, dafür war jetzt keine Zeit und außerdem wusste er nicht, wie man die eingegangenen Nachrichten abrufen konnte. Er nahm das Telefon und reichte es Nicole.
»Hier, es ist besser, wenn du Favalli selbst anrufst.« Bessell zog sein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und nahm die Visitenkarte heraus, die Caroni ihm bei der ersten Unterredung gegeben hatte. Mit einem zuversichtlichen Augenzwinkern reichte er sie Nicole, die ihn gebannt anstarrte und sie mit einer mechanischen Bewegung entgegennahm.
»Meinst du, dass ich Favalli um diese Zeit überhaupt noch erreiche?« Bessell sah auf seine Uhr. Es war mittlerweile halb acht durch.
»Probiere es einfach. Irgendwer wird schon drangehen. Aber sage ihm gleich, dass du von meiner Wohnung aus anrufst. Er wird es ohnehin rausbekommen.«
Es meldete sich in der Tat nicht Favalli, sondern ein diensthabender Polizist in der Telefonzentrale. Er sprach nicht besonders gut deutsch, doch er konnte verstehen, was Nicole ihm versuchte mitzuteilen. Nachdem Nicole aufgelegt hatte, sah Bessell sie erwartungsvoll an.
»Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann schickt er einen Streifenwagen vorbei. Er will auch noch versuchen Favalli zu erreichen, möglicherweise kommt aber auch ein anderer Kommissar.« Nicole blickte sich nervös im Zimmer um. Bessell hatte, so wie er es immer machte, nur die Stehlampe mit dem Deckenfluter, die Schreibtischlampe und die Lampe unter dem Küchenschrank angeschaltet. In diesem warmen Licht sah Nicoles Gesicht noch hübscher aus. Es glättete ihre Gesichtszüge und sie wirkte entspannter. Bessell fragte sich, ob sie jetzt seine Wohnung musterte. Die Einrichtung mit den überwiegend honigfarbenen Schränken und Regalen gefiel ihm recht gut, aber sie unterschied sich natürlich grundlegend von der Raumgestaltung in Nicoles Wohnung. Dort war alles sehr nüchtern und unterkühlt. Ihre Einrichtung war sehr geradlinig und etwas zwanghaft modern, wie Bessell fand. Es war schon eigenartig, dass er sich in diesem Moment darüber Gedanken machte, aber die Wohnungseinrichtung sagte nun einmal viel über einen Menschen aus. Obwohl er sich zu ihr hingezogen fühlte, weil er Gemeinsamkeiten im Denken und Fühlen verspürte, war da etwas, was auf eine Grundverschiedenheit hindeutete. Es war nicht nur ihr Geschmack für Möbel und andere Accessoires, darin unterschieden sich Frauen häufig von Männern. Vielleicht war es das Gefühl, sie würde ihm nicht alles erzählen, was zur Klärung der ganzen Angelegenheit beitragen könnte. Er konnte sich noch immer nicht des Eindrucks erwehren, dass sie ihm etwas Wesentliches verschwieg oder aber die Dinge bewusst in einem bestimmten Licht erscheinen ließ.
»Setz dich doch«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. Nicole sah ihn zerstreut an, blickte sich erneut um und setzte sich dann genau dorthin, wo auch Favalli am Morgen wieder gesessen hatte.
»Möchtest du etwas trinken? Einen Cognac vielleicht?« Nicole zögerte und willigte dann doch ein. Bessell nahm zwei Cognacschwenker aus einem alten Bauernschrank und holte sich von der Anrichte die dreieckige Flasche Vecchia Romagna. Er stellte die Gläser auf den niedrigen Tisch vor dem Nicole saß und schenkte vor ihren Augen behutsam ein.
»Nicht so viel!« Bessell versuchte in das zweite Glas weniger einzuschenken. Es gelang ihm gut.
»Was meinst du, wann sie da sein werden?«, fragte Nicole, während sie das Cognacglas mit beiden Händen in Höhe ihres Kinns hielt.
»Es wird nicht lange dauern, denke ich.« Nicole nippte an ihrem Cognac. Bessell saß ihr im Sessel gegenüber. Er kam sich mittlerweile vor wie ein Psychoanalytiker, der sich geduldig die Probleme anderer Menschen anhörte und fragte sich, wer wohl demnächst noch alles vor ihm auf diesem Sofa säße. Nicole machte ein besorgtes Gesicht. Er hätte gerne gewusst, was ihr gerade durch den Kopf ging.
»Langsam bekomme ich Angst um mein Leben«, sagte sie nach einer Weile mit dünner Stimme.
»Vielleicht hat der Einbruch ja doch nichts mit dem Tod deines Mannes zu tun.« Sie sah ihn verwundert an.
»Das glaubst du doch selbst nicht.« Sie klang jetzt etwas gereizt. Bessell fiel ein, dass es ja gar nicht so aussah, als ob etwas gestohlen wurde. Es schien nur alles durchsucht worden zu sein. Er hatte Nicole noch nicht gefragt, ob sie etwas vermissen würde.
»Weil nichts geklaut wurde oder?«
»Ja, richtig, soweit ich das überblicken konnte.« Nicole lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Die Bilder an der Wand und die Musikanlage, allein das hätte sich für den oder die Einbrecher gelohnt.«
»Hattet ihr Geld in der Wohnung?«
»Nur drei oder vierhundert Franken. Sie lagen noch in der Schublade der Boiseriewand im Wohnzimmer, wo ich sie hingelegt hatte. Ich habe gleich sofort nachgesehen. Nicht weil ich mir um das Geld Sorgen gemacht habe, sondern weil ich wissen wollte, ob es ein normaler Einbruch war.« Nicole stöhnte missmutig und Bessell konnte tatsächlich einen Ausdruck von Verzweiflung in ihrem Gesicht ausmachen, so wie es ihm vorher noch nicht aufgefallen war. Sie schien sich ernsthaft Gedanken zu machen. Doch für Bessell hatte die Sache auch eine gute Seite. Jetzt gab es einen Anhaltspunkt dafür, dass mehr dahinter stecken musste, als nur eine Beziehungstat, welchen Grund es auch immer dafür gegeben haben mag. Vielleicht würden Nicole und er damit jetzt als Tatverdächtige ausscheiden.
»Der oder die Mörder müssen etwas von deinem Mann verlangt haben, was er ihnen nicht geben wollte. Aus Zorn darüber haben sie ihn dann erschlagen, und weil sie gehofft haben, er hätte das, was sie haben wollten, irgendwo in der Wohnung versteckt, sind sie noch einmal wiedergekommen, um es sich zu holen.« Nicole sah ihn aufmerksam an. Bessell stand auf, um noch Cognac nachzuschenken. Nicole legte ihre Hand über das Glas und lehnte stumm ab. Bessell schenkte sich daumenbreit ein.
»Hört sich an, wie in einem durchsichtigen Kriminalfilm, aber vielleicht hast du recht.« Nicoles Miene verfinsterte sich von einem Moment auf den anderen.
»Glaubst du, dass sie das, was sie gesucht haben, jetzt bei mir vermuten? Nicole sah bei der Frage nicht zu Bessell auf, sondern spielte nach vorn über den Couchtisch gebeugt mit dem Funkschlüssel ihres Autos, den sie neben das Cognacglas gelegt hatte. Mit dem Zeigefinger drehte sie den etwas klobigen Schlüssel, der an die Form einer bauchigen Flasche erinnerte, scheinbar gedankenabwesend hin und her. Bessell ließ sich Zeit mit der Antwort und blickte einige Sekunden grübelnd in seinen Cognacschwenker, in dem der bernsteinfarbene Weinbrand langsam rotierende Bewegungen vollzog. Vom benetzten Innenrand des Glases lief eine dünne, fast ölig wirkende Schicht hinunter.
»Sie werden sich wahrscheinlich fragen, ob dein Mann dich eingeweiht hat, was es auch immer sein mag. Vielleicht nehmen sie noch direkt Kontakt zu dir auf.« Bessell sah an Nicoles Miene, dass er sie mit dieser Vermutung noch mehr beunruhigt hatte. Dann fügte er hinzu:
»Aber da ihr euch trennen wolltet und sie das vermutlich wussten, werden sie nicht wirklich davon ausgehen, dass du im Bilde bist.« Bessell musste an den BMW denken, den er an dem Abend gesehen hatte. Eigentlich klang das alles wie eine Räuberpistole und schwer vorstellbar. Doch alles, was die Sache erklärlicher gemacht hätte, löste sich in Wohlgefallen auf. Ein Raubmord wäre schrecklich, aber nicht ganz ungewöhnlich gewesen. Doch Favalli hatte gesagt, dass Herrn Hengartner nichts gestohlen wurde unten am Strand. Dann hätte es tatsächlich ein Beziehungsmord sein können, schließlich hatte Nicole allen Grund gehabt, ihren Mann aus dem Weg zu räumen, nicht zuletzt des Geldes wegen, dass sie sonst bei einer Scheidung nicht bekommen hätte. Und jetzt der Wohnungseinbruch, der alles in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ. Es klingelte an der Haustür. Nicole fuhr erschrocken zusammen.
»Das wird die Polizei sein«, sagte Bessell ruhig, weil er Nicoles ängstlichen Blick wahrgenommen hatte. Es war tatsächlich die Polizei, ein Streifenpolizist. Sein Kollege näherte sich bereits Nicoles Haustür, die nur angelehnt war. Bessell sprach mit ihm italienisch. Er erklärte, dass jemand drüben in der Wohnung war und alles durchsucht haben musste. Der Polizist fragte, ob sie schon etwas angefasst hätten und ob etwas gestohlen wurde. Nicole kam dazu und sagte freundlich Guten Abend. In ihrem holprigen Italienisch bedeutete sie dem Polizisten mit ihnen gemeinsam hinüberzugehen, um sich alles genau anzusehen. Der zweite Polizist stand vor der Haustür und telefonierte. Als sie näher traten, nickte er ihnen freundlich zu. Da die Polizisten offenbar nur schlecht deutsch verstanden, ließ Nicole Bessell übersetzen. Sie erklärte, dass sie die Haustür ganz sicher abgeschlossen hatte und dass das beim Nachhausekommen nicht mehr der Fall war. Die Haustür war lediglich ins Schloss gefallen. Der Polizist ließ sich von ihr den Hausschlüssel geben. Da er noch keine Handschuhe angezogen hatte, nahm er ein unbenutztes Taschentuch und zog die nur angelehnte Tür wieder ins Schloss. Er nahm eine kleine Taschenlampe aus der Beintasche seiner Hose. Im kleinen Lichtkegel der Taschenlampe betrachtete er das Schloss. Es waren keine Aufbruchsspuren zu erkennen. Dann probierte er den Schlüssel. Drehte ihn mehrere Male hin und zurück und sah dabei horchend in die Luft, so als würde er versuchen, die Zahlenkombination eines Tresors zu knacken.
»Wahrscheinlich war da jemand dran und hat das Schloss nur leicht beschädigt«, sagte er auf Italienisch und sah dabei nur Bessell an, der gleich darauf übersetzte. Der andere Polizist hatte aufgelegt und sagte:
»Favalli wird gleich da sein. Er hat bereits die Spurensicherung verständigt. Sie werden zwei Leute vom Einbruchsdezernat vorbeischicken.« Bessell musste wieder übersetzen. Der zweite Polizist gab ihnen erst jetzt die Hand. Dann gingen sie gemeinsam in die Wohnung. Schweigend betrachteten die beiden Polizisten das Durcheinander. Nicole stand mit verschränkten Armen daneben und blickte bisweilen von einem zum anderen. Auch an der Terrassentür waren keine Aufbruchsspuren zu erkennen, wie der Polizist mit der Taschenlampe in der Hand mit bedeutungsvoller Miene feststellte, nachdem er sie von außen begutachtet hatte. Dann hörten sie Schritte im Flur. Eine Frau und ein Mann traten herein. Sie waren von der Spurensicherung und begrüßten die Anwesenden mit knappen Worten, ohne ihnen die Hand zu schütteln. Die Frau hatte einen Fotoapparat mitgebracht und begann sofort damit, Fotos zu machen. Der Mann verschwand nach einem kurzen Moment wieder und kam kurz darauf mit einem Aluminiumkoffer zurück. Einer der uniformierten Polizisten nahm dies zum Anlass, Nicole und Bessell hinauszubitten, damit die Kollegen von der Spurensicherung ihre Arbeit ungestört verrichten könnten. Als sie auf die Straße hinaustraten, kam ihnen Favalli auch schon entgegen. Er musste unten an der Straße geparkt haben. Er sah sehr müde aus und machte alles andere als ein glückliches Gesicht. Doch er versuchte sich nichts weiter anmerken zu lassen und gab jedem kurz und fest die Hand. Mit dem Hinweis, dass er gleich noch einige Fragen stellen wolle, verschwand er in Nicoles Wohnung, um das Ergebnis des Einbruchs in Augenschein zu nehmen. Nach nur wenigen Minuten stand er wieder draußen auf der Straße. Der Mann von der Spurensicherung hantierte an der Haustür mit einem Pinsel, als Favalli sich Nicole zuwandte.
»Wann haben Sie den Einbruch bemerkt?«
»Als ich vorhin, so gegen halb sieben, nach Hause kam.« Nicole blickte unvermittelt zu Bessell, als wollte sie sich bei ihm vergewissern, dass die angegebene Zeit auch stimmte. Bessell verzog keine Miene.
»Wann hatten Sie die Wohnung zuvor verlassen?« Bessell konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er wusste, wie überflüssig seine Frage war, weil er ja gesehen hatte, wie sie gemeinsam im Auto wegfuhren. Nicole antwortete mechanisch.
»Am späten Vormittag, so gegen halb zwölf, glaube ich.«
»Und Sie sagen, es ist nichts gestohlen worden?«
»Ja, da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte sie entschieden. Favalli schien wirklich sehr müde zu sein. Es war ihm anzusehen, dass er keine Lust mehr hatte, weitere Fragen zu stellen. Vermutlich hielt er es auch nicht für notwendig.
»Wäre es möglich, dass Sie diese Nacht woanders verbringen? Ich würde die Wohnung gerne versiegeln und morgen noch intensiver nach Spuren suchen lassen.« Favalli sah erst Nicole und dann Bessell an. Wahrscheinlich hatte er gehofft, das Bessell jetzt sagen würde, dass sie selbstverständlich bei ihm die Nacht verbringen könnte. Bessell aber schwieg.
»Daran habe ich auch schon gedacht. Nach allem, was passiert ist, wäre ich jetzt ungern in der Wohnung allein.« Nicole machte ein nachdenkliches Gesicht. Favalli und Bessell sahen sie erwartungsvoll an. Die beiden uniformierten Polizisten kamen aus der Wohnung. Jetzt wo Favalli und die Kollegen von der Spurensicherung da waren, konnten sie hier nicht mehr viel tun.
»Ich werde mir ein Taxi rufen, das mich hinüber nach Locarno fährt«, sagte Nicole unvermittelt. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fügte sie mit ruhiger Stimme hinzu:
»Mit meinem eigenen Wagen möchte ich ungern fahren, ich bin noch ganz durcheinander.«
»Ein Taxi brauchen Sie sich nicht zu bestellen, wenn Sie mögen, fahren meine Kollegen Sie im Polizeiwagen nach Locarno. Sie müssen ohnedies dorthin zurück.« Bessell hätte Nicole auch gerne gefahren, doch diesen Vorschlag konnte er vor den Augen des Kommissars schlecht machen. Nicole schien einen Moment über Favallis Angebot nachzudenken, dann willigte sie ein.
»Brauchen Sie noch etwas aus der Wohnung?«
»Nein, alles was ich brauche, kann ich mir auch im Hotel besorgen. Ich möchte da heute nicht mehr hineingehen.« Es klang etwas theatralisch, war aber durchaus ernst gemeint und zusammen mit ihrem traurigen und mitgenommenen Gesichtsausdruck wirkte es auch glaubhaft. Als ihr die Wagentür aufgehalten wurde und sie hinten im Polizeiauto Platz nahm, sah Bessell zu ihr hinüber. Er hoffte, dass sie ihm noch einen Blick zuwarf. Doch ohne, dass Nicole sich noch einmal zu ihm umgewandt hatte, schlug die Wagentür zu. Als der zweite Polizist eingestiegen war, rauschte der Wagen davon.