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Nach dem Schwimmen lagen sie im Schatten eines kleinen Weidenbaumes. Die flachen Wellen schwappten auf den kiesigen Strand. Das Plätschern des Wassers wirkte beruhigend und unterbrach auf angenehme Weise die Stille dieses glühenden Nachmittags. Am gegenüberliegenden Ufer und über dem See lag warme dunstige Luft. Die Wolken hingen tief und berührten beinahe die bewaldeten Berghänge. Wie mit dem Lineal gezogen, durchdrangen einige Sonnenstrahlen die Wolkendecke. Die leicht gewellte Wasseroberfläche schien von einer graublau schimmernden Haut überzogen zu sein. Auf der anderen Uferseite klebten die Häuser am Berghang wie Muscheln an einem bewachsenen Meeresfels.

Marco Bessell las noch einmal die letzten Sätze und bewegte dann den Mauszeiger auf das Diskettensymbol unterhalb der Menüleiste. Er drückte die linke Maustaste. Dann schloss er das Textverarbeitungsprogramm, stand auf und holte seinen USB-Stick von der Anrichte. Er wollte die wenigen Seiten, die er geschrieben hatte, vorsichtshalber darauf speichern. Im kleinen Kaminofen glühten die ascheweißen Reste von zwei Buchenholzstücken. Ihm war kalt geworden. Das Zimmer ließ sich sehr schlecht heizen. In den Wintermonaten hatte der kleine Uferort fast keine Sonne. Während des Tages hatte Bessell sehnsüchtig hinüber auf die gegenüberliegende, sonnenbeschienene Uferseite geblickt. Gerne wäre er mit dem kleinen Boot seiner Vermieterin hinübergefahren, um sich dort in die Sonne zu setzen. Vielleicht wäre er dann hinauf nach Ronco gewandert und hätte sich auf die Terrasse eines der guten Restaurants gesetzt und eine Kleinigkeit gegessen. Draußen war es schon seit mindestens zwei Stunden dunkel. Jetzt Anfang Februar war der kleine Ort am Lago Maggiore wie ausgestorben. In den meisten Häusern brannte kein Licht hinter den Fensterscheiben. Ganzjährig wohnten nur noch wenige Menschen hier. Bessell sah aus dem Fenster. Der Asphalt der schmalen Straße glänzte feucht im Schein der wenigen Laternen. Gegen Abend musste ein leichter Regen eingesetzt haben. Bessell hatte es nicht mitbekommen. Im Haus direkt gegenüber brannte Licht. Auch die zwei Autos seiner Nachbarn standen etwas weiter oben in der Straße. Bessell war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Frau Hengartner so schnell wieder im Haus nach dem Rechten sehen würde. Ihr Mann war also ebenfalls mitgekommen. Das letzte Mal war seine Nachbarin vor zwei Wochen da gewesen. Allein und nur für einige Stunden, denn seit etwa einem halben Jahr lebte sie von ihrem Mann getrennt, da sie sich von ihm scheiden lassen wollte.

Bessell hatte davon erst vor vier Wochen erfahren, als er seine Nachbarin in einem Restaurant im Nachbarort getroffen hatte. Sie war wie Bessell, ebenfalls Anfang vierzig. Auch an diesem Abend hatte sie eine gewisse Unzufriedenheit ausgestrahlt, genau wie bei den wenigen zufälligen Begegnungen vor ihrem Haus in den letzten Monaten. Sie hatte dabei jedes Mal sehr angespannt auf Bessell gewirkt. Sie war eine sehr attraktive Frau, obwohl auch an ihr die Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Nach Bessells Auffassung, besaß seine Nachbarin das gewisse Etwas, das sie so anziehend machte. Vielleicht waren es ihre hübschen braunen Augen oder ihre Lippen, die voll und schön geformt waren. An jenem Abend im Restaurant hatte sie ihn nicht gleich bemerkt und so hatte Bessell sie eine Zeit lang von seinem Tisch aus beobachtet. Sie blickte die meiste Zeit über traurig und teilnahmslos vor sich hin. Nur gelegentlich, wenn die Bedienung ihr etwas brachte oder sie von anderen Gästen gegrüßt wurde, versuchte sie ihre gedrückte Stimmung mit einem Lächeln charmant zu überspielen. Sie hatte auch einige Male zu Bessell hinübergesehen, ihn aber wohl nicht gleich erkannt. Als sie ihn dann endlich bemerkt hatte, hatte sie ihm ein freundliches Lächeln geschenkt. Bessell war daraufhin aufgestanden und war an ihren Tisch getreten, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie hatte ihm angeboten, Platz zu nehmen und so waren sie ins Gespräch gekommen. Nach einigen belanglosen Worten über das gute Essen und den leckeren Wein in diesem Restaurant, kam sie auf die Trennung von ihrem Mann zu sprechen. Bessell hatte sich über ihre Offenheit gewundert, doch vielleicht war es für sie leichter mit einem Fremden darüber zu sprechen, als mit Freunden. Das Gespräch hatte an Intensität gewonnen, nachdem Bessell ihr erzählt hatte, dass er sich ebenfalls von seiner Frau scheiden lassen wollte. Bis zu diesem Tag hatten sie sich nur als Nachbarn gekannt, die sich freundlich grüßten, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Später auf dem Nachhauseweg hatten sie sich dann nur noch über den schönen Ort, den See und die Landschaft des Tessins unterhalten. Am nächsten Tag fuhr sie zurück nach Zürich, ohne dass sie sich noch einmal begegnet waren.

Bessell nahm seine Jacke von der Garderobe. Er zog sich seine halbhohen, mit Lammwolle gefütterten Schuhe an und ging hinaus auf die Straße. Die Tür ließ er einfach ins Schloss fallen, ohne sie abzuschließen. Wer sollte zu dieser Jahreszeit und in dieser Gegend schon auf Diebestour gehen. Der Regen fiel leise und in dünnen Tropfen vom schwarzen Himmel. Bessell setzte sich seine Wollmütze auf und versteckte seine Fäuste in den Taschen seiner Jacke. Bei seinen Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte noch immer Licht. Er drehte sich noch einmal zu ihrem Haus um. Die Umrisse seiner Nachbarin erschienen im Fenster. Als er sich abwandte, um die kleine Straße hinunter zur Hauptstraße zu gehen, hörte er durch die geschlossenen Fenster die Stimme ihres Mannes, die aggressiv und laut klang. Vermutlich stritten sie über banale und unwichtige Angelegenheiten, so wie Mann und Frau eben streiten, wenn sie einander fremd geworden waren und der unvermeidlichen Trennung entgegengingen. Das dumpfe Rattern des hell erleuchteten Zuges, dessen Gleise in nur wenigen Metern Entfernung zwischen den Häusern verliefen, mischte sich in die sonst stille Atmosphäre des Abends. Ein kurzer eindringlicher Pfiff war zu hören.

Bessell erreichte die Hauptstraße. Er ließ einen Kleinlaster und einen viel zu schnell fahrenden Porsche Carrera vorbei und ging dann hinüber auf die andere Straßenseite. Auch hier lag der kleine Ort im ruhigen Dämmerschlaf. Die Hotels und kleinen Pensionen standen noch immer mit geschlossenen Fensterläden da. Es würde noch einige Wochen dauern bis hier wieder Leben einkehrte. Auch die drei Restaurants an der Hauptstraße gönnten sich noch eine Auszeit, so dass Bessell hinüber nach San Nazzaro laufen musste. Der Regen ließ nach und über dem See waren die Wolken bereits aufgerissen und ließen einige Sterne am Firmament erscheinen. Doch ihr schwaches Flimmern verblasste im Vergleich zu den glitzernden Lichtern der Uferorte auf der gegenüberliegenden Seeseite. Die Nebelschleier hatten sich nun vollständig verzogen und alles schien zum Greifen nah zu sein. Bessell liebte diesen Anblick und konnte sich daran nicht sattsehen. Kurz vor dem Ortsausgang, auf dem immer entlang der Uferstraße verlaufenden Fußweg, konnte er einen Blick hinunter auf die kleinen Badestellen werfen. Er erahnte in der Dunkelheit, die vom Winter braun gefärbten kleinen Rasenflächen und den kiesigen Strand. Er hörte in regelmäßigen Abständen, die kalten Wellen glucksend auf dem Kiesstrand zerbrechen. Vor den kleinen Badestränden standen die niedrigen Steinhäuser mit ihren warmen pastellfarbenen Dachziegeln, die jetzt nur nass und matt im Schein der Straßenlaternen schimmerten. Ein kühler Windzug legte sich auf Bessells Gesicht. Er vergrub die Fäuste noch tiefer in seiner Jacke und zog die Schultern noch etwas höher. Im Spätsommer war er nachts hier häufiger baden gegangen. Die angenehm weiche Luft und das von vielen Sonnenstunden aufgewärmte Wasser hatten ihn dazu eingeladen. Jetzt im Winter mochte Bessell nicht daran denken, in den kalten und vom Wind gepeitschten See zu steigen und hinaus zu schwimmen. Saskia hätte sich niemals ins Wasser getraut, wäre sie dabei gewesen. Selbst im Hochsommer wäre ihr das Wasser zu kalt gewesen. Aber nicht nur hier im Tessin, sondern überall auf der Welt. Sie war sehr kälteempfindlich. Am liebsten wäre sie ein Husky, hatte sie einmal gesagt. Das Fell dieser Hunde sei so beschaffen, dass sie auch bei niedrigsten Temperaturen die Kälte nicht spürten. Saskia hatte in einer Zeitung ein Foto von einem Husky gesehen, der sich einschneien ließ und dabei sehr zufrieden aussah. Vielleicht hätte Saskia ihn im Sommer begleitet, sich ans Ufer gesetzt und ihm beim Schwimmen zugesehen. Doch wahrscheinlich wäre ihr die Zeit dafür zu kostbar gewesen. Das war wohl auch der Grund, weshalb ihre Ehe auf Dauer nicht funktionieren konnte. Ihr erschienen die Stunden, die sie gemeinsam verbrachten, im Grunde genommen immer als verlorene oder als nicht optimal genutzte Zeit. Bessell hatte oft spüren müssen, dass sie mit den Gedanken wieder bei ihren Artikeln und Recherchen war. Dass sie sich ihre Karriere im Zeitungsverlag ausmalte. Vielleicht nicht gleich am Anfang ihrer Beziehung. Bessell fragte sich, in welcher Stadt und in welchem Land Saskia sich wohl gerade aufhielt, schließlich fuhr sie dauernd in der Weltgeschichte herum. Schon komisch, dachte Bessell, da hat mir ein Mensch einmal sehr viel bedeutet und jetzt weiß ich noch nicht einmal, wo er sich gerade aufhält. Er musste an die geplante Scheidung denken, mit der sie nicht weiterkamen, weil Saskia so viel zu tun hatte. Zurzeit war es ihm egal, doch zu lange wollte er darauf nicht mehr warten.

Bessell ließ Gerra hinter sich und schon bald hatte er die wenigen Lichter von San Nazzaro vor Augen. Zuweilen sah er hinüber auf die gegenüberliegende Seeseite und ließ seinen Blick wandern. Er lokalisierte die Lichter von Brissago, Ronco und Ascona. Bei guter Sicht konnte man mit einem einfachen Fernglas die Schriftzüge der großen Hotels lesen. Ein alter Mann kam ihm auf dem Bürgersteig entgegen. Er lief etwas gebückt und führte einen kleinen Rauhaardackel an der Leine spazieren. Bessell kannte diesen Mann. Er war ihm schon mehrfach auf diesem Weg begegnet.

»Buona sera«, begrüßte Bessell den alten Mann, der seinen Gruß ein wenig heiser erwiderte und gleich anfing auf Italienisch über das schlechte Wetter zu schimpfen, ohne es aber allzu ernst damit zu meinen. Währenddessen stand der Dackel neben ihnen und zitterte am ganzen Leib. Gelegentlich sah er mit seinen wässrigen Augen traurig zu seinem Herrchen auf und schien wissen zu wollen, wann es endlich weiterginge. Nachdem alles über das Wetter gesagt war, verabschiedete sich der alte Mann und beide gingen sie wieder ihres Weges. Bessell sprach fließend Italienisch. Seine Mutter war Italienerin und hatte ihn zweisprachig erzogen.

Als Bessell das Restaurant an der Hauptstraße von San Nazzaro erreichte, fing es wieder an zu regnen. Unter einem schmalen Vordach neben dem Eingang saß ein Mann mittleren Alters mit Schlips und im Anzug. Er hatte seinen rechten Ellenbogen auf einem runden Caféhaustisch aufgestützt und hielt lässig eine Brissago zwischen Daumen und Zeigefinger. Genüsslich blies er mit geschürzten Lippen den dünnen Rauch in den trüben Lichtschein einer kleinen Außenlampe neben der Eingangstür. Dabei schaute er gedankenverloren auf die gähnend leere Terrasse des Restaurants, die im Sommer mit Tischen und Stühlen voll stand. Auf den Pflastersteinen hatten sich große Regenpfützen gebildet. Mit einem tiefen Grummeln erwiderte er Bessells Gruß und hob die Hand, mit der er den langen dünnen Zigarillo hielt, noch etwas höher. Ein überheizter und etwas stickiger Gastraum empfing Bessell. Das kalte Licht weniger Neonlampen unter der holzgetäfelten Decke erhellte den Raum gerade so, dass es noch halbwegs gemütlich wirkte. Es waren nur noch wenige Tische besetzt. An zwei Tischen wurde noch gegessen. Die übrigen Gäste waren damit beschäftigt, sich bei einem Glas Wein über Gott und die Welt zu unterhalten. An einer Art Stammtisch saßen drei Männer und unterhielten sich mit lauten Stimmen. Während einer der Männer kaum dreißig Jahre alt sein konnte, mussten seine beiden Gesprächspartner nahe dem Rentenalter sein. Bessell setzte sich ganz in die Nähe, an einen freien Tisch, direkt vor eines der vorhanglosen Fenster, in denen sich die Szenerie des Gastraumes schemenhaft spiegelte. Zufrieden sah er in die Runde und lehnte sich in seinem Stuhl etwas zurück. Bessell mochte die authentische Atmosphäre dieses Restaurants, auch wenn er sich gerade jetzt im Winter eine andere Deckenbeleuchtung gewünscht hätte. Der Wirt, der ihn bereits kannte, trat an seinen Tisch heran und begrüßte ihn freundlich. Gleich hinter ihm folgte die Bedienung, eine junge Frau um die zwanzig Jahre alt mit hohen Wangenknochen und lockigen brünetten Haaren. Sie erinnerte Bessell an die junge Sophia Loren, wenngleich ihre Taille nicht ganz so schlank und ihre Lippen weniger voll waren. Bessell nahm die Speisekarte entgegen und bestellte sich eine kleine Karaffe Merlot Ticino. Der Merlot wurde gebracht, während Bessell noch darüber grübelte, was er zu Abend essen könnte. Als er sich einige Minuten später bei der Bedienung Risottoreis mit Schweinerippchen bestellte, kam der Brissago-Raucher von draußen herein und setzte sich zu den drei Männern. Seit einigen Minuten schon, hatten sie sich über geklaute Schweizer Bankdaten unterhalten und ließen ihrer Empörung darüber freien Lauf. Besonders die beiden älteren Männer sprachen von Datendieben und Wirtschaftsspionen, die für lange Jahre eingesperrt gehörten. Als sie auf die deutschen Behörden als Käufer dieser Daten zu sprechen kamen, sahen sie zu Bessell herüber. Bessell kannte allenfalls einen der Männer vom Sehen, doch sie wussten offenbar, dass er aus Deutschland kam. Nachdem Bessell scheinbar teilnahmslos aus seinem Weinglas getrunken hatte und sich wieder gemütlich zurücklehnen wollte, sprach ihn einer der beiden älteren Männer auf Italienisch an.

»Was halten Sie von deutschen Behörden, die Hehlerware von Kriminellen kaufen?« Ohne ein Wort zu sagen, lächelte Bessell die vier Herren an. Dann räusperte er sich verlegen. Das Gespräch hatte er zwar aufmerksam verfolgt, aber dabei versucht sich nichts anmerken zu lassen. Obwohl ihn das Thema interessierte, verspürte er wenig Lust, kurz vor dem Abendessen mit voreingenommenen Schweizern eine tiefgründige Diskussion über dieses brisante Thema zu führen.

»Nun …«, fing er an und sah dabei hinüber zum Tresen, weil er hoffte, dass die Bedienung ihm gleich seine Schweinerippchen bringen würde. Dann hätte er eine Ausrede, nicht allzu viel zu diesem Thema beitragen zu müssen.

»Wissen Sie, das ist keine einfache Frage. Als kleiner Steuerzahler ärgert man sich natürlich über die Steuerflüchtlinge und sieht es gerne, wenn der Staat dem ein Ende macht. Schließlich macht es einen auch wütend zu sehen, wie Schulen, Kindergärten oder auch Universitäten langsam verkommen oder was noch viel schlimmer ist, gar nicht erst gebaut werden.« Bessell dachte nach.

Er hatte wenig Interesse daran, seine Standpunkte vor diesen Männern zu vertreten. Der Mann mit Schlips und Kragen, der draußen vor der Tür die Brissago geraucht hatte, nutzte Bessells Gedankenpause und hakte nach.

»Aber ist der Staat dann berechtigt, gegen die Steuerbetrüger mit kriminellen Mitteln vorzugehen und andere dazu anzustiften, vertrauensvolle Daten zu klauen und an den Höchstbietenden zu verkaufen?«

Bessell dachte einen Moment darüber nach, dann antwortete er:

»Zu solchen Mitteln haben Staaten immer schon gegriffen, aber keiner regt sich auf, wenn auf diese Weise Gewaltverbrecher, Vergewaltiger oder Terroristen überführt werden. Nur wenn es scheinbar unbescholtenen Bürgern an den Kragen geht, dann gibt es auf einmal Bedenken.«

Einer von den beiden älteren Männern machte eine abweisende Handbewegung. Der Jüngste am Tisch musste lachen, weil er schon ahnte, dass es bei dieser Diskussion keine Einigung gäbe. Die Bedienung kam mit Bessels Risottoreis und den Schweinerippchen und stellte beides freundlich lächelnd auf den Tisch. Sie drehte sich um und erkundigte sich bei den vier Männern, ob sie noch etwas bringen könnte. Der Mann im Anzug bestellte fünf Grappa und sah Bessell dabei wohlwollend an. Bessell hatte bereits bemerkt, dass keiner von ihnen diesen Meinungsaustausch furchtbar ernst nahm. Trotzdem wollte er noch etwas hinzufügen, um die Wogen ein wenig zu glätten.

»Aber vielleicht machen die deutschen Behörden es den Steuerflüchtlingen auch zu leicht und deshalb sollten sie sich erst einmal an die eigene Nase fassen und die Steuergesetze verschärfen.«

Bessell rückte seinen Teller zurecht und nahm das Besteck in die Hand. Während der Jüngste in der Runde wieder leise lachte, pflichteten die drei anderen Männer Bessell bei. Die Grappas wurden gebracht. Bessell legte das Besteck aus der Hand und griff nach dem kleinen Glas. Er bedankte sich, und nachdem sie sich zugeprostet hatten, kippte er die Hälfte des Tresterschnapses hinunter. Dann aß er weiter und wenig später standen die Männer auf. Sie verabschiedeten sich laut rufend vom Wirt und anschließend von Bessell. Einer der Männer klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Dann kehrte Ruhe ein und zum Schluss saß Bessell als letzter Gast allein im Restaurant. Er hatte sich noch einen doppelten Espresso und einen italienischen Weinbrand bringen lassen. Vielleicht würde er später in seiner Wohnung noch einmal an sein Notebook gehen und die eine oder andere Seite schreiben. Er hatte schon öfter nachts gearbeitet. Die Bedienung räumte der Reihe nach die Tische ab und wischte sie sauber. Der Wirt setzte sich zu Bessell. Sie sprachen über das Wetter und die Sommertouristen, deren Anzahl nach Meinung des Wirts im letzten Jahr deutlich geringer war, als in den Jahren zuvor.

Während der Wirt mit ihm sprach, hielt Bessell seine dickwandige Espressotasse in der Hand und betrachtete die angetrocknete Crema. Er war mit den Gedanken ganz woanders.

Bei aufziehendem Nebel ging Bessell den Weg zurück zu seiner kleinen Wohnung im Nachbarort. Um diese Zeit fuhr auf der Uferstraße nur noch gelegentlich ein Auto oder Lasterwagen an ihm vorbei. Über dem See lagen schon dichte Nebelschwaden und die Lichter am gegenüberliegenden Ufer waren nicht mehr zu erkennen. Das leise Plätschern der Wellen drang nur noch gedämpft zu ihm hinauf. Der Wind über dem Wasser musste nachgelassen haben. Am Ortseingang hörte er in der Ferne einen Hund bellen. Eine Katze überquerte hochbeinig im gelben Schein der Laternen die Straße. Als die Katze Bessels Schritte wahrnahm, blieb sie mit gespitzten Ohren mitten auf der Straße stehen. Die Katzenaugen blitzen Bessell für einen Augenblick an. Dann lief die Katze weiter und verschwand unter einem Holzzaun in einem kleinen, stufig angelegten Vorgarten. Nur noch wenige der vielen Häuser oben am Berghang, weit oberhalb der Eisenbahnstrecke, hatten Licht hinter ihren Fenstern. Bessell blieb stehen. Er hatte die Straße erreicht, die von der Hauptstraße abging und zu seinem kleinen Domizil führte. Nur wenige Meter entfernt stand ein großer 7er BMW am Straßenrand. Das Auto wäre nichts Besonderes gewesen, wenn es nicht ein rumänisches Kennzeichen gehabt hätte, worüber Bessell sich ein wenig wunderte. Es schien niemand im Auto zu sitzen, obwohl es schwer zu erkennen war, weil sich in den Autoscheiben das Licht der Straßenlaternen spiegelte.

In seiner Wohnung angelangt, schaltete Bessell sein Notebook ein und schenkte sich aus einer halbleeren Flasche Veltliner Rotwein ein kleines Kelchglas bis zum Rand voll. Bei seinen Nachbarn brannte ebenfalls noch Licht. Auch die beiden Autos standen noch immer in der Straße. Im Haus schien alles ruhig zu sein. Wahrscheinlich hatten sich die streitenden Eheleute längst beruhigt und saßen jetzt bei einem Schlummertrunk beisammen und sprachen wieder sachlicher über die bevorstehende Scheidung. Bessell schrieb noch zwei Stunden an seinem neuen Roman, kam aber nur schleppend voran und ging dann etwas enttäuscht über die mäßige Tagesleistung gegen zwei Uhr nachts müde ins Bett.

Sonne am Westufer

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