Читать книгу Deutsch in Luxemburg - Fabienne Scheer - Страница 29
2.1 Über Bildung diskutieren
ОглавлениеRTL-Internetredakteur: „[Beim Artikel] ‚Ee Sträit an der Educatioun. Nei Pläng vun der Regierung, wat d’Bewäertung vun den Enseignanten ugeet’, do hate mer iwwer 160 Comments […].“
RTL-Radiomoderator: „Also nees déi berühmt Themen mat de berühmte Comments, déi ëmmer erëmkommen“ (RTL Radio Lëtzebuerg 28.03.2014).1
Auf Luxemburgs führendem Nachrichtenportal www.rtl.lu werden regelmäßig hunderte von Leserkommentaren verfasst, wenn Nachrichten aus dem Bildungsbereich vermeldet werden. Schulreformen entfalten in Luxemburg eine besondere Brisanz. Sie stellen Überzeugungen und Gewohnheiten infrage und weisen darauf hin, dass die Schule an die Veränderungen der Gesellschaft angepasst werden muss.
In der Studie ‚Réajustement de l’enseignement des langues’, die das Bildungsministerium im Jahr 2007 publizierte, stellten die Autoren Charles Berg und Christiane Weis mit einer gewissen Ernüchterung fest, wie einflussreich die luxemburgischen Massenmedien bei der Konstitution von Wissen über den Bildungsbereich sind:
Il est douloureux de constater à quel point la communication entre le Ministère et les enseignants se passe mal. Les informations et les messages adressés aux enseignants et aux directions par le Ministère sont souvent ignorés; des publications comme le Courrier de l’Éducation nationale, la Circulaire du printemps ou Edunews ne sont pas lues régulièrement et les enseignants s’informent avant tout dans la presse, essentiellement lors d’événements qui donnent lieu à controverse (Berg/Weis 2007:27).
Das erste Diskursbeispiel, das den Einstieg in diesen Teildiskurs erlaubt, entstammt einem Interview mit dem luxemburgischen Bildungsminister Claude Meisch.2 Das Interview wurde von RTL Radio Lëtzebuerg anlässlich des Schulanfangs im September 2014 ausgestrahlt:
RTL-Radiomoderatorin: „Dir hutt d’Sproochen ugeschwat. Wat muss sech dann als éischt änneren?“
Claude Meisch (Bildungsminister): „[…] Mee sécherlech ass dat déi grouss Erausfuerderung hei zu Lëtzebuerg. Mir hunn eng Situatioun, wou mer eng multilingual Gesellschaft hunn, déi nach ëmmer méi multilingual gëtt, well mer méi multikulturell och ginn, well mer eng Aarbechtswelt hunn, déi eigentlech net méi der Aarbechtswelt vu virun 30, 40 Joer […] entsprécht. Dofir musse mer méi Sproochen hei am Land vermëttelen, och de Kanner weiderhin vermëttelen. Well d’Kanner awer net déi Sproochen och doheem schwätzen, ass dat natierlech eng ganz grouss Erausfuerderung fir eng ëffentlech Schoul, déi awer och eigentlech een eenheetleche System nach ëmmer soll duerstellen, fir dat doten ze meeschteren“ (RTL Radio Lëtzebuerg 20.09.2014).3
Die luxemburgische Gesellschaft setzt sich aus verschiedenen Sprachgruppen zusammen, die sich auf den ersten Blick zunächst grob unterscheiden lassen, deren Angehörige bei genauerer Betrachtung allerdings die verschiedensten Sprachbiographien und -repertoires aufweisen. Beim Erwerb neuer Sprachen greifen Luxemburgs Schüler dementsprechend auf unterschiedliche Voraussetzungen zurück. Im öffentlichen Diskurs wird die Mehrsprachigkeit des Landes gewöhnlich mit der gesetzlich verankerten Dreisprachigkeit des Landes (Deutsch – Französisch – Luxemburgisch) gleichgesetzt.4 Auf dem Arbeitsmarkt scheint dagegen längst ein Sprachhandlungswissen gefordert zu werden, das über die Kompetenzen, die im traditionellen luxemburgischen Sprachenunterricht erworben werden, hinausgeht. So werden ‚Migrantensprachen’ (vor allem Portugiesisch und Serbokroatisch) im Dienstleistungssektor mittlerweile als entscheidendes Einstellungskriterium gewertet. Der Bildungsminister betont im obigen Interviewausschnitt, dass er die Schulgemeinschaft zusammenhalten möchte, obschon sie aufgrund ihrer Heterogenität kaum noch mit einheitlichen Methoden unterrichtet werden kann. Er stuft die Anpassung des Bildungssystems an die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse als „die große Herausforderung für Luxemburg“ ein. Eine „multilinguale Gesellschaft, die immer multilingualer werde“ erfordere einen anderen Sprachenunterricht als bisher.
Es sind die TOPOI DER UNGERECHTIGKEIT und der REALITÄTSANPASSUNG, die seit Beginn der portugiesischen Immigration den Bildungsdiskurs dominieren. Der TOPOS DER UNGERECHTIGKEIT verläuft nach folgendem Argumentationsmuster:
Weil das aktuelle Bildungssystem Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt, ist es ungerecht.
Der TOPOS DER REALITÄTSANPASSUNG folgt in der Diskursargumentation gewöhnlich dem TOPOS DER UNGERECHTIGKEIT und verläuft nach folgendem Schema:
Weil das aktuelle Bildungssystem nicht mehr zu der Gesellschaft passt, die es ausbilden muss, bedarf es dringend einer Anpassung.
Im Medienkorpus finden sich unzählige Beispiele für die Ausführung beider Argumentationsmuster:
BEISPIELE FÜR DIE ANWENDUNG DES UNGERECHTIGKEITSTOPOS IM BILDUNGSDISKURS
Weshalb kann in Luxemburg Friseur werden, wer seine Ausbildung auf Französisch macht, während ein Mechaniker unbedingt Deutsch beherrschen muss? Diese Situation findet Anne Brasseur absurd und ungerecht (Journal: 16.01.2001).
Deren diesjähriges Motto lautet: „Gerechtegkeet an Efficacitéit an eiser Schoul“. Dahinter verbirgt sich ein ganzes Bündel von bereits begonnenen und neuen Maßnahmen, die laut Ministerium vor allem eines zum Ziel haben: bestehende Ungleichheiten und Ungleichheiten des Luxemburger Schulsystems allmählich zu korrigieren und allen Schülerinnen und Schülern eine Qualifikation „entsprechend ihrer Fähigkeiten” zu ermöglichen (LL: 15.09.2005).
So müsse man beispielsweise den demografischen Veränderungen Rechnung tragen. Immerhin sind mehr als 42 Prozent der Grundschüler nicht luxemburgischer Herkunft. „Es geht vor allem um Chancengerechtigkeit“, betonte Scheuer. Die Kinder sollen gemäß ihren Fähigkeiten gefördert werden (Wort3: 21.01.2009).
BEISPIELE FÜR DIE ANWENDUNG DES REALITÄTSANPASSUNGSTOPOS IM BILDUNGSDISKURS
Die Zeit für eine harmonische Integration und somit für eine Anpassung im Schulsystem drängt […] (LW4: 10.04.1989).
So stellt sich die Frage, ob nicht ein zweigleisiges Schulsystem mit einer frankophonen und einer germanophonen Ausrichtung der Realität eher angepasst wäre und die heranwachsende Generation besser auf die Zukunft vorbereitet würde? (LL7: 07.11.1986)
Langues: l’école doit être la même pour tous (LJ19: 17.07.1997).
Die zunehmend komplexe Situation der Sprachen, bedingt durch eine immer vielfältiger werdende Immigration, macht eine Neuanpassung des Sprachenunterrichts zur Dringlichkeit (LW2–3: 16.03.2007).
Wir haben in Luxemburg immer mehr französischsprachige Schüler. Die Berufsausbildung hat es immer noch nicht geschafft, diesen Wandel strukturell zu begleiten. […] Wir haben zwar französischsprachige Ausbildungen, aber es sind nicht genug. Zudem scheint die Zahl der Immigrantenkinder, die im Laufe des Jahres nach Luxemburg kommen, wieder zu wachsen. Darunter befinden sich viele Schüler, die das Potenzial für eine höhere Qualifizierung hätten – wenn unsere hohen Sprachanforderungen nicht wären. Fast alle unsere höher qualifizierenden Berufsausbildungen setzen Deutschkenntnisse voraus. Das geht völlig an unserer Realität vorbei (LL: 23.09.2010).
Kinder in Luxemburg sollen im Précoce Luxemburgisch, dann das Alphabet in Deutsch lernen und ein Jahr später mit einem Französischunterricht beginnen, der auf ein Niveau irgendwo zwischen Erst- und Zweitsprache abzielt. An dieser Dreifaltigkeit wird nicht gerüttelt. Obwohl die Realität andere Anforderungen stellt. Immer mehr Kinder sprechen daheim nicht Luxemburgisch als Erstsprache, sondern Portugiesisch oder Französisch oder Serbokroatisch (LL1: 02.09.2011).
Bereits im Jahr 1983 war im Mediendiskurs die Ansicht verbreitet, dass das Sprachenpensum, das in Luxemburg traditionell zu bewältigen ist, für Zuwandererkinder nicht zu schaffen sei:
Das sprachlose Kind
Weit über ein Drittel der Kinder, welche die Luxemburger Primärschulen besuchen, sind Ausländer. Sie verursachen das bedeutendste, wichtigste und schwierigste Schulproblem, das es in unserem Land in den nächsten Jahren zu lösen gilt. […] Es muss dringendst eine Lösung gefunden werden. Dazu kommt, dass Luxemburg es sich in seiner speziellen Dreisprachensituation nicht leisten kann, irgendwelche ausländischen Rezepte nachzubeten oder gar Europarat- oder Unescoentschlüsse unüberdacht und ungeändert hierzulande anzuwenden. Dies ist umso wahrer, als das Problem in Luxemburg regional, ja von Ortschaft zu Ortschaft verschieden ist. […] Aber der Sohn und die Tochter der Gastarbeiterfamilie sind mehr, weitaus mehr als bloße statistische Angaben, weitaus mehr als Störenfriede, der sonst angeblich heilen Welt der Schule. […] von den für Ausländerkinder schier unüberwindbaren Schranken des Prüfungs-, Examens- und Schulfaches „Deutsch“ einmal abgesehen […] Der kleine Ausländer sieht sich, bewusst oder unbewusst, als ein Störfaktor in einer Schule, in welcher er und seinesgleichen normalerweise in der Minderheit sind. Diese Schule benutzt Lehr- und Anschauungsmittel, die seiner Kultur fremd sind, und gebraucht als Grundlage alles Lernens und Wissens eine Sprache, die er nicht kennt, die von der seinigen in allen Zügen ihres linguistischen Wesens abweicht, und die ihm jedoch nicht als eine zu erlernende Fremdsprache angeboten wird, sondern die als bekannt oder doch ungefähr bekannt vorausgesetzt wird (LL6–7: 22.07.1983).
Über 30 Jahre später hat sich an diesem Befund wenig geändert. Der Migrantenanteil im Land liegt bei 45,3 % und die Schulpopulation weist mit 43,8 % einen Zuwandereranteil auf, der etwa genauso hoch ist (MENEJ/Université du Luxembourg 2015: 17). Das Argument, dass die Art und Weise wie Deutsch in Luxemburg unterrichtet werde, tausende Migrantenkinder in ihrer Ausbildung hemme, wiederholt sich:
Den in Luxemburg zur Schule gehenden Ausländerkindern werden zum Teil unüberwindliche Steine, in Form des Sprachunterrichts, in den Weg gelegt (LL7: 07.11.1986, eigene Hervorh.).
Le texte souligne aussi le handicap des enfants qui prennent le départ avec une autre langue maternelle que le luxembourgeois propre à faciliter l’apprentissage de l’allemand. […] Pour contourner l’obstacle linguistique (essentiellement l’allemand), certains décrochent certificats et diplômes dans la région frontalière ou dans les écoles privées au Luxembourg (LJ12: 24.04.1997, eigene Hervorh.).
L’allemand constitue une barrière infranchissable pour de nombreux jeunes portugais“, s’exclame Carlos Peixoto avec vigueur (LJ16 : 21.05.1998, eigene Hervorh.).
In der Diskursgemeinschaft besteht Konsens darüber, dass die Didaktik des Sprachenunterrichts und der Stellenwert der Bildungssprache Deutsch für die portugiesischen Migrantenkinder nahezu unüberbrückbare Hürden darstellen. Doch auf der anderen Seite ist der Stellenwert dieser Schulsprachen eng verknüpft mit der Identität des Landes:
66 Punkte umfasst der ‚Plan d’action langues’ des Unterrichtsministeriums. Sein Ziel ist die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, die in Luxemburg wohl wichtiger, aber auch deutlich komplizierter ist als in anderen Ländern. […] „Eine Reform wird wegen des besonderen Status von Deutsch und Französisch in Luxemburg nicht einfacher. Es ist wesentlich einfacher, sich über die notwendigen Kompetenzen für die Fremdsprache Englisch einig zu werden, als bei unseren beiden Nachbarsprachen, die zugleich offizielle Sprachen unseres Landes sind. Englisch hat den Vorteil, dass es eindeutig eine Fremdsprache ist“ (LW32: 09.02.2009).
In diesem Beispiel aus dem Medienkorpus taucht ein Argumentationsmuster auf, das als SUI GENERIS-TOPOS definiert wird und nach folgendem Muster verläuft:
Weil Luxemburg anders ist, sind auch die Ursachen/Folgen einer Bildungsreform andere.
Die sui-generis-Argumentation stellt die Besonderheit des Landes heraus. Sie wird angewandt, um zu verdeutlichen, dass Lösungen für Probleme nicht so einfach zu finden sind wie möglicherweise in anderen Ländern.
Schulreformen, die versuchen die Position einer Landes- und Schulsprache zu verändern, treffen innerhalb der Diskursgemeinschaft immer auf Widerstand. So wurde am 21. Mai 2014 folgende Nachricht in den luxemburgischen Medien verbreitet:
D’Associatioun vun de Franséichproffen ass entsat. Op 12ème an 13ème Technicien gëtt de Franséich-Cours gestrach! (Rtl.lu: 21.05.2014)5
Der luxemburgische Verband der Französischlehrer (Association des Professeurs de Français du Luxembourg APFL) hatte spät erfahren, dass das Bildungsministerium plante in den letzten beiden Jahren der kaufmännischen Ausbildung im technischen Sekundarschulunterricht auf das Fach Französisch zu verzichten.6 Die APFL lud sofort zu einer Pressekonferenz. Ihr Vorsitzender kritisierte die bildungs- und sprachpolitischen Pläne der Regierung:
Jean-Claude Frisch: „Dat ka jo net duer goen. Ech menge bis elo ware 4 Stonne Franséisch virgesinn. Dat wäert jo alt net vun „Dëlpessechkeet“ gewiescht sinn. Déi Leit, déi dat gemaach hunn, wäerte jo gewosst hu firwat. Et ass vläicht esou, ech menge mir wëssen dat jo hei am Land, datt vill Schüler [Problemer] am Franséischen hunn … vläicht ass dat do eng nei modern Manéier fir d’Problemer ze léisen. Da ma mer kee Franséisch méi, dann huet och kee méi Schwieregkeeten. […] Zënter dem Krich, bei alle Reformen, déi hei an deem Land gemaach si ginn, ass [et] all Kéiers op d’Käschte vum Franséisch […] gaangen. Et geet elo monter sou weider, an ech verstinn einfach dat globaalt Konzept, dat globaalt Raisonnement net, wat do derhannert steet. Op der enger Säit gesi mer, dat ëmmer méi d’Franséischt gefuerdert ass, fir datt een eng Aarbecht hei zu Lëtzebuerg kritt, an trotzdem gi mir op der anerer Säit hin a mir maachen ëmmer manner Franséisch“ (ebd).7
Anstatt das Schulsystem an die sprachlichen Realitäten anzupassen und die junge Generation auf den Berufseintritt vorzubereiten, würde das Ministerium die Französischstunden weiter reduzieren, so Frisch. Eine Maßnahme, die laut APFL in einem Land, in dem die Französischkenntnisse immer stärker eingefordert würden, verheerende Konsequenzen nach sich ziehen könnte.8 Sämtliche Reformvorhaben, die seit dem Krieg in Luxemburg umgesetzt worden seien, hätten den Abbau der französischen Sprache nur weiter vorangetrieben. Der Verbandsvorsitzende aktiviert mit dieser Äußerung mehrere Wissensrahmen beim Rezipienten 9: Die wichtigste sprachpolitische Maßnahme, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Luxemburg umgesetzt wurde, war das Sprachengesetz von 1984. Anzunehmen wäre, dass der APFL-Vorsitzende sich am Ausbau der luxemburgischen Sprache stört, die darin zur Nationalsprache erhoben wurde. Mit der Äußerung „zënter dem Krich” wird zudem der Wissensrahmen über die Sprachpolitik der deutschen Besatzung aufgerufen. Bis heute hat die Kriegsgeneration in Luxemburg ein ambivalentes Verhältnis zum Ausdruck ‚Deutsch’. Auch die Nachkriegsgeneration wurde mit diesem Wissen sozialisiert und von den Sprachhandlungsmustern ihrer Eltern beeinflusst. Bei den Folgegenerationen öffnen sich dagegen zunehmend andere Wissensrahmen, wenn die Sprachbezeichnung oder der Nationen- und Kulturbegriff ‚Deutsch’ fallen. Die Strategie einen Zuwachs der deutschen Sprache als Bedrohung darzustellen, funktioniert nur noch bedingt. So sehen Schüler mit Familiensprache Luxemburgisch in der Vergangenheit keinen Grund mehr, der sie daran hindern könnte, die deutsche Sprache zu präferieren und sich für den deutschsprachigen Kulturraum zu interessieren. Sie wählen nach Möglichkeit die Sprache, deren Gebrauch ihnen am leichtesten fällt. Auch in der Universität zeigt sich, dass es bei dieser Sprachgruppe oft die deutsche Sprache ist. So weist Sieburg (vgl. 2009: 41) nach, dass Studierende der Universität Luxemburg mit Familiensprache Luxemburgisch sich nur selten für ein Seminar in französischer Sprache entscheiden, wenn das gleiche Seminar ebenfalls auf Deutsch angeboten wird. Morys (2012) präsentiert erste Teilergebnisse einer Studie über das Verhältnis von Studierenden für das Grundschullehramt an der Universität Luxemburg zur französischen Sprache. Sie bemerkt in fast allen untersuchten Biographien eine fest verankerte Unsicherheit im Umgang mit der französischen Sprache und ein daraus resultierendes Vermeidungsverhalten (vgl. ebd.: 37). Diesen Eindruck gewinnt auch der Soziologe Fernand Fehlen. Er konstatiert, dass die „jeunes […] se disent en même temps les moins familiers avec le français“ (vgl. 2009: 191).
Deutschlehrer, die für diese Arbeit befragt wurden, beobachten besonders in den klassischen Gymnasien (ES), die traditionell mehr Schüler mit Erstsprache Luxemburgisch besuchen, dass sich die Einstellungen gegenüber den einzelnen Landessprachen zurzeit erheblich zugunsten der luxemburgischen und der deutschen Sprache verschieben. Wenn Schüler dort die Möglichkeit erhalten eine Sprache wegzulassen, entscheiden sie sich häufig gegen das Schulfach Französisch:10
F.S: „A wéi ass hirt Verhältnis zum Franséischen par rapport lo zum Däitschen? Also wat fir eng Roll gëtt dem Däitschen zougeschriwwen a wat fir eng dem Franséischen?“
Romain Dockendorf (Deutschlehrer): „Mir hunn ee Phänomen, deen duerch de Choix vun de Sproochen op de classes terminales agetratt ass, dat ass menger Ansicht no e Refus vum Franséischen. Där Sprooch gëtt sech zënter der 4ième wäitgehend entzunn, virun allem hirer Komplexitéit fir eis Lëtzebuerger an da gi mer op d’Däitscht.“11
Der Lehrer erklärt im weiteren Verlauf unseres Gesprächs, dass er anfangs davon ausgegangen sei, die Wahlmöglichkeit sei fatal für die Zukunft des Deutschunterrichts, da das gesprochene Französisch schließlich im Alltag der Schüler weitaus präsenter sei als das Deutsche, das Gegenteil trat jedoch ein:
F.S.: „Wéi erkläert Der Eech dat dann? Ass dee Refus vum Franséischen villäicht doduerch ze erkläeren, dass awer am Land d’Franséischt alt méi präsent gëtt, datt mer am Alldag jo alt méi Franséisch schwätzen?“
Romain Dockendorf: „Als Selbstbewosstsäin, als Bestätegung vun der eegener Nationalitéit oder vun der eegener Familiaritéit mat der Sprooch, dat ass méiglech. Ech gesinn et primär ganz einfach och, t’ass eng ‚solution de facilité’. Mir sinn am Däitschen opgewuess, mir sinn am Däitschen alphabetiséiert ginn, de Milieu hei am Kolléisch, ganz oft och schonn mat däitsche Märercher, mat däitsche Kassetten als Kanner opgewuess, also Däitsch oft a Bildungsmilieuen parallel geléiert. T’ass einfach déi Sprooch, déi mer maniéieren a wou mer och déi mannsten negativ Erfarungen mat maachen. An dat anert ass ee mühsamt Léieren. Ech hunn ëmmer gesot, wéi mer dee Choix do krit hunn, dat do ass déidlech fir d’Däitscht. An ee Kolleg sot deemools, t’ass déidlech fir d’Franséischt, si sichen d’Facilitéit. […] Erstaunlich vill Leit, also bei mir op der 1ère 21 vun 26 presentéiere sech am Däitschen am Mëndlechen. An déi meescht, déi een do freet, ginn och an den däitschsproochege Raum studéieren. […] Also si sichen d’Sprooch einfach nom Wohlfühlfaktor – an nom Sécherheetsfaktor. […] T’kënnt och dobäi dass, wéi soll ee soen, déi traditionell antidäitsch Haltung duerch de Krich, déi ass verschwonnen an där dote Generatioun. Si hunn do keng Beréierungsängschte méi.“12
Das negative Image der französischen Sprache führt im Umkehrschluss zu einer ‚Neuen Beliebtheit’ der deutschen Sprache. Der Kapitalwert von Französischkenntnissen ist den Schülern dabei durchaus bewusst. Aus der Studie BaleineBis geht hervor, dass die 18- bis 24-Jährigen Französisch und Englisch in ihrem Gebrauchswert als die wichtigsten Sprachen einstufen (vgl. Fehlen 2009: 190). Doch dieses Wissen und die Omnipräsenz des Französischen in der luxemburgischen Gesellschaft, tragen nicht dazu bei, dass ihr gegenüber ‚Nähegefühle’ entstehen. Der französischen Sprache haftet auf der einen Seite das Image einer schwer zugänglichen Sprache an. Der Unterricht ist bis heute auf die konzeptionell-schriftliche Perfektion hin ausgerichtet. Auf der anderen Seite wird sie in Luxemburg zur lingua franca im Austausch mit Migranten und der überwiegenden Mehrheit der Arbeitspendler. Beides kann bei Schülern sprachliche Abwehr- und Vermeidungsstrategien hervorrufen. Die Beobachtungen von Romain Dockendorf wurden von den Aussagen anderer Lehrkräfte gestützt. Der Deutschlehrer Fernand Weiler führte aus, dass seine Schüler zwischen dem Bewusstsein für die Alltagsrelevanz der französischen Sprache im Land und ihrer negativen affektiven Einstellung gegenüber der Sprache zu trennen wissen:
Fernand Weiler: „Absolut an si studéieren och, wat se ni gemaach hunn, zunehmend BWL, also Betribswirtschaftslehre, an Däitschland an da komme se rëm an hei musse se se op Franséisch féieren, dat ass jo nonsense, ne! […]. Déi soe carrément: „Ech haassen dat Franséischt!“ Obschonn se sech bewosst sinn natierlech, dass se déi Sprooch brauchen! Hei zu Lëtzebuerg geet et net anescht, jee nodeem, wat se spéider wëlle maachen, si se op Franséisch ugewisen. Mee si sinn och gewinnt, ëmmer nëmmen ‚chemin de la moindre difficulté’ ze wielen: Wa Franséisch schwiereg ass, gëtt Däitsch gewielt. Och wa si Franséisch brauchen, ginn si op eng däitsch Uni an ech weess net, wéi dat sech dann herno ausweise soll am Schluss.“13
Instrumentelle Motivationsfaktoren14 werden beim Kosten-Nutzen-Abgleich so lange wie nur möglich beiseite geschoben. Es wird für die ‚solution de la facilité’ optiert und es ist der Deutschunterricht, der dieser Lösung eher entspricht als der Französischunterricht. Aufgrund der sprachsystemischen Nähe zwischen der luxemburgischen und der deutschen Sprache kann das Wissen aus der L1 genutzt werden. Die Erwerbsmethode des Deutschen in Luxemburg ähnelt eher dem Erwerb einer zweiten Muttersprache als dem einer früh erlernten Fremdsprache, während Französisch eindeutig als Fremdsprache erworben wird, was die Ausbildung von Nähe- und Distanzgefühlen gegenüber beiden Sprachen mitbestimmt. Schüler mit Familiensprache Luxemburgisch begegnen der deutschen Sprache und Zielkultur außerhalb der Schule bei positiv konnotierten Freizeitbeschäftigungen, wie Fernsehen und Internetsurfen. Sie entwickeln deshalb früh eine Leichtigkeit im Umgang mit der Sprache. Die französische Sprache wählen sie aufgrund der sprachsystemischen Distanz zum Luxemburgischen seltener beim Medienverhalten, treffen allerdings täglich auf das gesprochene Französisch in der Gesellschaft.
Die Mehrsprachigkeit Luxemburgs ist zu einem bedeutenden Teil der Ertrag des Bildungssystems. Bedeutung und Handlungsspielräume der Schulsprachen sind in den Lehrplänen der einzelnen Klassenstufen genauestens festgeschrieben.15 Die Entscheidung, welche Sprache wie eine16 Muttersprache und welche wie eine Fremdsprache unterrichtet werden soll, welche aus dem Lehrplan gestrichen wird oder mehr Unterrichtsstunden erhält, bleibt nicht ohne Folgen für den Status der Sprachen in der Gesellschaft insgesamt (vgl. Redinger 2010: 96). Die nachstehenden Korpusauszüge belegen, dass die luxemburgische Sprachensituation als Ressource angesehen wird, deren Fortbestand von der Schule gewährleistet wird und werden muss:
Die luxemburgische Primärschule besitzt vor allem zwei Trümpfe, um die man uns international beneidet: einerseits unsere Zweisprachigkeit und unsere langjährige Erfahrung auf dem Gebiet des Fremdsprachenunterrichts: andererseits eine außergewöhnliche Integrationsfähigkeit. Unsere Primärschule bringt es fertig, rund 35 % Ausländerkinder in ein zweisprachiges Schulsystem zu integrieren (LW18: 18.01.1992).
[…] im Parlament wurde im November 2000 eine 24 Punkte enthaltende Motion verabschiedet. Deren Hauptakzente liegen in der Beibehaltung der einheitlichen Schule als Vorbedingung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Daneben soll aus Kommunikations-, Wirtschafts-, sprich Überlebensgründen weiterhin auf die Dreisprachigkeit gesetzt werden (Tagebl: 08.06.2002).
On peut également affirmer que l’enseignement des matières non linguistiques en langue seconde ou langue étrangère est une des clés du plurilinguisme que l’on nous envie tant sur la scène internationale (MENFP 2010: 1).
Lehrergewerkschaften und Fachverbände werden auch künftig reagieren, wenn von Regierungsseite angedacht wird, die Stundenanzahl in einer Schulsprache zu reduzieren oder die Inhalte des Sprachunterrichts zu verändern. Die APFL hat von allen Fachverbänden die stärkste Lobby. Der ‚Lëtzebuerger Germanistenverband’ (LGV) geht bis heute vorsichtig mit öffentlichen Stellungnahmen um, die den Deutschunterricht in Luxemburg und Kritik an sprachpolitischen Entscheidungen betreffen. Der Verein agiert in dem Bewusstsein, dass die Forderung nach einer Ausweitung des Deutschunterrichts schnell missverstanden werden kann als Forderung nach einer Ausweitung der deutschen Kultur in Luxemburg insgesamt.
Im Juni 2005 untersuchte eine Expertengruppe des Europarates auf Wunsch des luxemburgischen Bildungsministeriums das Schulsystem und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass die Schule den Wert der Familiensprachen ignoriere, die die Schüler mit in die Schule brächten. Vorhandene Sprachrepertoires würden weder aufgewertet noch in Sprachwissen umgewandelt (vgl. Goullier et al. 2006: v, vi, 18–20). Unmittelbar nach diesem Bericht wurde von politischer Seite in Luxemburg verstärkt versucht, Einfluss auf die mediale Diskursebene zu nehmen und die Sichtweise auf Mehrsprachigkeit dahingehend zu verändern, dass jede Sprache als Mehrwert anzusehen sei. Im Untersuchungskorpus zeigt sich auf der medialen Diskursebene ab 2006 eine Diskursprogression, die von der zuvor bewährten Denkweise „Dreisprachigkeit bleibt oberstes Prinzip“ (LW15: 03.04.1998) abrückt.
BEISPIELE AUS DEM UNTERSUCHUNGSKORPUS VOR 2006
Als bedeutenden Pfeiler des nationalen Schulsystems bezeichnete A. Brasseur die Dreisprachigkeit, die nicht in Frage gestellt werden dürfe. Sei eine elementare Sprachbeherrschung nicht gegeben, so dürfe ein Schüler sich nicht durch die Schule „mogeln“ können, betonte die Ministerin (LW: 30.11.2000).
Die Dreisprachigkeit des luxemburgischen Schulsystems will Unterrichtsministerin Anne Brasseur nicht in Frage stellen. Sie will aber die Sprachkenntnisse, besonders im technischen Sekundarunterricht, mehr als bisher auf die Berufsausbildung abstimmen (Telecr.: 09.12.2000).
Die Dreisprachigkeit sei ein zentraler Aspekt des nationalen Schulsystems, wenngleich die Rolle des Luxemburgischen als Integrationsinstrument und Kommunikationssprache immer wichtiger werde (Wort4: 30.01.2003).
DISKURSPROGRESSION AB 2006
Mehrsprachigkeit anstatt Dreisprachigkeit […] Es werde nicht nur Deutsch, Französisch und Luxemburgisch in den Schulhöfen gesprochen, sondern u.a. auch Portugiesisch und Italienisch, stellte Frau Caldagnetto fest. Die Muttersprache der nicht-luxemburgischen Schüler solle nicht als Problem, sondern als Erbgut und Chance betrachtet werden. Geteilt wurde diese Einstellung übrigens auch von der Hauptreferentin, der Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (Wort34/35: 20.03.2006).
Bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse spricht sich der Berichterstatter der Expertengruppe, Francis Goullier, für die Überprüfung einiger, für selbstverständlich geltender Errungenschaften aus. „Ist es notwendig, dass alle Schüler alle Sprachen in einem gleichen Ausmaß beherrschen müssen“, warf Goullier auf (LW3: 21.03.2006).
Die Mehrsprachigkeit muss auf jeden Fall erhalten bleiben, aber sie darf für niemanden eine unüberwindbare Hürde in der Schule sein, so Delvaux (Telecr: 24.03.2007).
Der Begriff der Mehrsprachigkeit wird umgedeutet. Es wird versucht, die Sichtweise durchzusetzen, dass jede Sprache als Surplus anzusehen ist und Mehrsprachigkeit an sich schon wertgeschätzt werden muss. Der Bericht kann als diskursives Ereignis im Sinne von Foucault gewertet werden.
Im Diskurs besteht ein Konsens darüber, dass es die Aufgabe der Schule ist, sozusagen ‚von unten’, die Integration der Zuwanderer zu erreichen:
[…] le ministère a fait élaborer le papier Pour une école d'intégration, prônant haut et fort le principe de l'école publique unique et une intégration humaine des enfants de nombreuses cultures qui constituent désormais le Luxembourg (LL: 10.06.1996).
Ich kann mir die Integration in unserem Land nicht anders ideal vorstellen als über die Schule (LW3: 26.09.1997).
Hat nicht die Unterrichtsministerin selbst bereits allenthalben das Leitmotiv vorbereitet: „L’intégration passe par l’intégration scolaire“? (LW: 26.02.2000)
Deren Hauptakzente liegen in der Beibehaltung der einheitlichen Schule als Vorbedingung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Tagebl: 08.06.2002).
Damit verbunden ist die Überzeugung, dass ein Schulsystem, das die Schulpopulation von Anfang an, also bereits in der Grundschule, nach ihren Sprachkenntnissen aufteilen würde, langfristig zur Entstehung von Parallelgesellschaften führen würde. Dieses Argumentationsmuster wird als TOPOS DER EINHEIT definiert, das nach dem folgenden Schema funktioniert:
Weil eine Spaltung der Schule eine Spaltung der Gesellschaft nach sich ziehen würde, muss die Schule eine Einheit bleiben.
Im Diskurs taucht dieser Topos vor allem dann auf, wenn über die Einführung eines französischen Alphabetisierungszweiges als Begleitangebot zur deutschsprachigen Alphabetisierung in der luxemburgischen Grundschule nachgedacht wird:
Wenn auch auf den ersten Blick dieses System einige Vorteile für die ausländischen Kinder böte, so würde eine zweite Schule gegründet, welche die Integration der Ausländer fast unmöglich mache (LW3: 23.03.1983).
Wir schaffen auf diese Weise [Einführung eines französischsprachigen Schulzweiges neben dem bestehenden] zwei Sprachgruppen innerhalb eines Landes mit den daraus resultierenden möglichen Konfliktsituationen (LW: 21.08.1999).
Da die Integration in der Schule geschehe, sprach sich die Direktorin gegen französischsprachige Klassen aus, die zu einer Isolierung dieser Schüler führen würden (LW: 16.05.2002).