Читать книгу Sie haben mich nicht gekriegt - Felix Kucher - Страница 10

1909

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»Annunziata hat mich empfohlen. Bitte, Herr Raiser. Herr Direktor.«

Die Stimme der Mutter im Ohr. Immer Herr Direktor sagen, er ist dein zukünftiger Chef, vergiss das nicht, die Fabrik gehört ihm.

»Du bist erst dreizehn.«

»Aber ich kann arbeiten wie eine, die zwanzig ist. Ich kann einen Webstuhl bedienen. Wir haben in der Schule gewebt.«

»Welche Schule soll das gewesen sein?«

»Drüben, in Österreich. Sie wissen ja, dass mein Vater dort Arbeit hatte.«

»Beim Erbfeind bist du in die Schule gegangen? Und warum besuchst du die Schule hier nicht mehr?«

Wir hungern, Herr Direktor, will sie sagen, wissen Sie, wie das ist im Winter, wenn man hungrig ist? Es ist einem kalt trotz der zwei Decken, Hunger und Kälte sind Schwestern, Herr Raiser, aber das wissen Sie nicht, Sie wohnen in der gut geheizten Villa und essen jeden Tag Fleisch. Wir brauchen etwas zu essen und Holz zum Heizen und dafür braucht man Geld, Geld, Geld. In der Schule verdient man nichts. Es wird einem nichts geschenkt, Herr Raiser. Herr Direktor.

Sie sagt aber nichts, Raiser hat sicher längst verstanden. Die Frage war eine Farce, nur gestellt, um die Demütigung zu vergrößern. Er weiß, dass sie die Schule abbrechen musste, um zu arbeiten, vielleicht spürt er auch, als er das Zeugnis mustert und dann das Mädchen, das vor ihm steht, vielleicht spürt er, wie weh es ihr tut, wie gerne sie weiter gelernt hätte. Ihre Noten sind gut gewesen bis auf Italienisch, ihre Muttersprache, aber wie soll man denn schön sprechen, nachdem das erste Schuljahr auf Deutsch war, drüben bei den Erbfeinden. Sie kennt viele Ausdrücke hier nur im Dialekt, und diesen Makel ist sie erst in der Mittelschule losgeworden. Der Patron atmet tief ein und aus.

Sicher stellen sich hier jeden Tag Kinder vor, jeden Tag schaut Herr Raiser ihre Zeugnisse an, atmet tief und sagt »leider nein«.

»Na gut«, sagt er diesmal, »Annunziata hat sich ja auch geschickt angestellt und wenn du weißt, wie ein Webstuhl funktioniert, umso besser. Nur die hier sind etwas größer als die in der Schule.«

Dann geht alles sehr schnell. Er geht mit ihr in die Werkhalle, in der ein Lärm herrscht, der kein Krachen oder Dröhnen ist, sondern ein beständiges Klappern, das Schlagen von Holz auf Holz, hölzerne Peitschenhiebe für die Ohren der Arbeiterinnen in der Halle.

Keine über zwanzig, aussehen tun sie zehn, fünfzehn Jahre älter. Sie kann Annunziata nicht ausmachen, ihre ein Jahr ältere Nachbarin, aber sie muss an einem der Geräte sein, Sklavin der Maschine, Teil der proletarischen Masse, wie ihr Vater einmal gesagt hat. Keine der Arbeiterinnen blickt auf, ihre Gespräche sterben ab, als sie vorübergehen.

Raiser übergibt sie einem mausartigen Mann, der sich als Togliatti vorstellt und sie zu einem Webstuhl bringt, an dem ein hageres Mädchen mit tief liegenden Augen sitzt.

»Das ist Cinzia. Sie wird dir zeigen, was du zu tun hast. Schau ihr genau zu, dann geh ihr zur Hand. Bis zum Abend wirst du es schon heraußen haben.«

Cinzia legt gleich los, sie ist kurzatmig, ihre Anweisungen kommen hektisch gehaucht, als wäre sie gerade verprügelt worden.

Den Kamm nach vorne drücken, Kettfäden auf Spannung halten.

Pass auf, wo das Schiffchen ist, komm nicht durcheinander. Nein, nicht so. So, ja. Wenn der Kamm oben ist, dann lass das Schiffchen rechts. Wenn er unten ist, soll es links sein. Arbeite immer gleich, dann kann nichts passieren.

Kamm nach oben, Schiffchen mit Schussfaden durchziehen. Mit der Hand den Faden festziehen.

Und weiter: Kamm runter, Schiffchen durchziehen, Schuss festziehen, Kamm hoch, Kettbaum entriegeln. Halt die Schnur fest. Warenbaum entriegeln. Dann hier drehen, Gewebe auf Spannung halten, unten wieder verriegeln, dann … Tina kann nicht mehr folgen.

Sie versucht es immer wieder, die Fäden schneiden in die Fingerkuppen, Cinzia schimpft.

Nach einer Stunde schmerzen die Fingerkuppen, aber die Bewegungen gehen automatisch. Cinzia nickt anerkennend und beginnt zu reden.

Dass die dünnen Seidenfäden händisch gewebt werden müssen, das geht nicht mit einem automatischen Webstuhl. Dass die Fingerkuppen zuerst rissig und dann hart wie Horn werden. Dass Herr Raiser jeden Kommunisten sofort entlasse. Dass alle hoffen, dass einmal ein automatischer Webstuhl dafür erfunden wird. Andererseits, sagt Cinzia, hätten wir dann keine Arbeit mehr.

»Pass auf, jetzt ist der Faden fast gerissen. Das darf nicht passieren. Das hier ist Chiffon, damit beginnst du. Crêpe Georgette und Organza kommen später.«

Die Finger schmerzen, Cinzia erzählt von Maulbeerbäumen und Seidenraupen. Und von ihrem Verehrer, der Kohlen ausführt. Tina kann nicht mehr sprechen. Nach vier Stunden ist sie ganz Maschine – Kamm hinauf – Schiffchen – Kamm hinunter – Schiffchen, immer festziehen, immer – sie stellt sich Bilder zu Cinzias Worten vor, Maulbeerbäume voll von Seidenraupen, die in einem fort fressen und auf der anderen Seite einen Faden produzieren, mit dem sie den Kokon wickeln.

Zwanzig Minuten Mittagspause, die Arbeiterinnen packen Doppelbrote aus mit Käse, einige essen Polenta, die sie in zugeklammerten Emailtöpfen mitgebracht haben. Sie teilen mit Tina, die nichts dabeihat. Was auch.

Sie fragt Cinzia, ob die Menschen dann den Faden, mit dem der Schmetterling die Larve eingewickelt hat, wieder aufwickeln und so den Seidenfaden gewinnen. Stirbt dann das Schmetterlingskind, so ohne Schutz?

Cinzia sieht sie an, ihre Augen noch müder als vorher.

»Du stellst Fragen. Ich frage mich eher, wann Raiser zahlt. Er ist schon wieder im Verzug.«

Später erzählt ihr ein anderes Mädchen die ganze Geschichte noch mal von vorne, mit kleinen Änderungen. Die Raupe scheißt den Faden nicht, sondern spuckt ihn durch ein Loch vorne aus. Dann lässt sie den Kopf kreisen und hüllt sich selbst mit dem Faden ein. Nach einer Woche würde ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpfen, aber die Menschen kommen vorher und haspeln den Faden ab.

»Es stimmt also«, sagt Tina. »Jeder Meter Faden ein totes Schmetterlingskind.«

Die Arbeiterinnen lachen.

Dir gehen Sachen im Kopf herum.

Den ganzen Nachmittag denkt sie an tote Schmetterlinge, um sie der peitschende Lärm und die Körperausdünstungen der Frauen.


Nur schnell weg! Weg von den Fabriken und den rußigen Fassaden der Arbeiterhäuser, weg von den Kohlgerüchen, die aus jedem Hauseingang wabern, von dem Mief nasser Erde, der aus den Kellerschächten kalt emporsteigt. Sie weiß, dass viele dieser Fabriken Spiegel herstellen, über achtzig Spiegelfabriken, haben sie in der Schule im Sachkundeunterricht gelernt, viele Familien leben davon. Aber wie die Arbeiter leben, das hat sie jetzt, mit neun Jahren, zum ersten Mal gesehen.

Sie zieht die Mutter an der Hand weiter. Endlich kommen die Geleise in Sicht. Erst jetzt wird ihr bewusst, welche Grenze die Gleisanlage bildet, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Sie ist froh, auf der anderen Seite zu wohnen, wo die neuen Häuser stehen und die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern. Hinter dem Bahnhof, wo sie jetzt sind, sieht die Stadt völlig anders aus.

In der Bahnhofspassage ist es kalt. Marie hat immer ein wenig Angst in der Unterführung. Sie hält Mutters Hand fest, bis sie auf der anderen Seite wieder auftauchen. Das nächste Mal, wenn die Mutter einen Weg in dieses Viertel hat, was selten vorkommt, wird sie nicht mehr betteln, mitkommen zu dürfen. Lieber will sie das nächste Mal bei Helene bleiben. Sie und Jakob dürfen ja bereits alleine zu Hause bleiben, wenn die Mutter einen Weg hat. Gut, sie ist neugierig gewesen und wollte sehen, wohin die Mutter geht, wollte endlich in diesen unbekannten und so nahen Teil der Stadt, in dem sich so viele Schlote in den Himmel recken.

Als sie den Bahnhofsvorplatz überqueren, am Zentaurenbrunnen vorbei, schreit jemand hinter ihnen. »Haltet den Dieb!«

Marie und ihre Mutter drehen den Kopf. Marie sieht gerade noch, wie zwei rußige Gassenjungen im Bahnhof verschwinden, weiter vorne steht eine Dreiergruppe vornehm gekleideter Männer, von denen einer die Faust zum Himmel reckt.

»Komm weiter«, sagt die Mutter und zieht an Maries Hand.

Marie muss an die Jungen denken, die auf die andere Seite entwischt sind, durch denselben Tunnel, durch den sie gerade gegangen ist. Vielleicht hat sie schon jemand eingefangen. Arbeiterkinder. Angeblich arbeiten in manchen Fabriken Elfjährige. Die werden nie mehr eine Schule besuchen. Marie spürt die Tränen aufsteigen, schluckt den Kloß im Hals hinunter.

Die Einmündung zur Gabelsberger Straße kommt in Sicht. Ihre Straße, die sie auswendig kennt bis in den letzten Winkel. Sie wischt sich über die Augen. Keine Tränen. Das ist ihre Seite. Auf die andere möchte sie nie wieder.


Als sie nach zehn Stunden aus der Fabrik torkelt, sind ihre Finger rissig, der Hunger schlägt ihr in die Magengrube. Vor der Fabrik lungern Burschen, die einigen Frauen nachpfeifen und ihnen derbe Sachen zurufen. Tina geht schneller.

Zu Hause hat Mutter ein Stück Polenta zurückbehalten.

Onkel Demetrio hat sich auf der Küchenbank breitgemacht. Ein vierschrötiger, fleischiger Mann mit aufgequollenem Gesicht. Seit drei Tagen ist er wieder zu Besuch, er schläft nachts auf der Küchenbank.

»Du bist jetzt auch eine Arbeiterin«, sagt er. »Deswegen musst du auch zur Gewerkschaft kommen. Wir haben da eine Abteilung für die Jungen. Euch gehört die Zukunft. Die Revolution ist nicht aufzuhalten. Du wirst sie noch erleben, die Diktatur des Proletariats.«

Tina versteht nichts, sie ist hungrig, sie denkt noch immer an die toten Schmetterlingskinder. Als sie ihre Tasse mit dem Zichorienkaffee nimmt, merkt sie erst, dass sie ihre Finger nicht ganz krümmen kann.

Die Mutter zieht ein Foto aus einem Briefumschlag. Vater hat geschrieben. Er hat jetzt eine eigene Werkstatt aufgemacht, drüben in San Francisco. Er repariert alles, was man reparieren kann, vom Motorrad bis zur Wäschepresse, vom gerissenen Lederriemen bis zum stumpfen Drillbohrer. Die Mutter lacht. So einen bräuchten wir hier.

Dann sagt sie: »Der neue Laden hat viel gekostet. Er kann noch kein Geld schicken.«

Noch immer nicht, denkt Tina. Erst dann dämmert ihr, was ihre Mutter damit sagen will. Es wird nichts mit den Geldsendungen aus Amerika. Noch immer nicht. Von deinem Einkommen sind wir jetzt abhängig. Du bist die Älteste, die die Familie erhalten muss. Du bist schuld, wenn wir hungern müssen. Du hast mit zwölf Jahren die Schule abbrechen müssen, um uns sechs zu erhalten: mich, dich Valentina, Yolanda, Gioconda und den kleinen Benvenuto.

In diesem Moment fühlt sie einen stechenden Schmerz, ihr wird übel. Aber es gibt keinen anderen Weg. Mit zwölf kann man eben schon arbeiten, Yolanda, die kleine Yole, hat noch ein Jahr Schonzeit.

Mit dem Geld, mit ihrem Geld, für das sie sich in der Fabrik jeden Tag geschwollene Finger holen wird, wird die Mutter Brot und Maisgrieß kaufen, um die Polenta zu kochen, jeden Tag Polenta und Milch und Brot.

Wenigstens bekommen ihre kleinen Geschwister in der Schule zu essen, jeden Tag hundert Gramm Weißbrot, fünfundzwanzig Gramm Käse und fünfzehn Gramm Rohschinken, abgewogen und rationiert, das haben wir Roten eingeführt, hat Onkel Demetrio einmal gesagt. Satt werden sie davon trotzdem nicht.

Da Tina nichts sagt, spricht ihre Mutter.

»Vielleicht erlaubt Herr Ciampi ja, dass wir im Hinterhof ein paar Hühner halten, da kann er nichts dagegen haben«, sagt sie wie nebenbei.

Tina presst die Lippen aufeinander und nimmt die Fotografie in die Hand. Ihr Vater vor einem Bretterhaus. Das Gesicht ist unscharf. Wie er jetzt wohl aussehen mag? Seit vier Jahren ist er weg. Vier Jahre warten, dass er Geld von drüben schickt. Vier Jahre Briefe und Karten mit begeisterten Beschreibungen von San Francisco und kleinlauten Eingeständnissen, dass er das Geld noch brauche, um sich eine Existenz aufzubauen. Sie legt das Foto beiseite. Sie war acht Jahre alt, als sie ihn zuletzt gesehen hat. Wie sie ihn wohl heute sehen würde? Sie blickt sich um. Ja, seine Gewohnheiten nisten noch in der Stube. Wie er sonntags am Tisch sitzt und in der Parteizeitung liest, die müde Geste, wenn er den Bleistift vom Regal herunterholt, seinen Bleistift in der Bleistifthalterung, den niemand sonst anrühren darf, und er sich Zeilen unterstreicht, in denen es um die Rechte der Arbeiter geht. Die träge Fahrigkeit, dieses ständige Aufgescheuchtsein. Sie betrachtet das Foto noch einmal. Schmäler sieht er aus auf dem Foto, schmäler und vielleicht zufriedener hinter dem Schleier des Verschwommenen. Ob er weiß, dass hier alle hungern? Dass Tina mit zwölf die ganze Familie erhalten muss? Sicher hat es ihm die Mutter verschwiegen, sicher ahnt er es.

Vier Jahre. Dabei hat es so schön angefangen. Wir gehen wieder nach Hause, nach Udine. Weg von St. Ruprecht und Ferlach, weg von den Baracken. Wir werden wieder in einem Haus aus Stein wohnen, du wirst in eine italienische Schule gehen, dort spricht man unsere Sprache, alle sprechen sie dort, dort werden wir in einem richtigen Haus wohnen, Via Caiselli, im Zentrum der Stadt.

Die Via Caiselli, sie muss bitter lachen, wenn sie daran denkt, sie stellte sich als engste und feuchteste Gasse der Stadt heraus, die Häuser hatten zahlreiche winzige Zimmer, in denen zu viele Menschen wohnten, sodass sie ständig das Gefühl hatte, alles sei zu eng, zu klein, zu feucht.

Sie siedelten im September, als die Stadt in Regenfällen versank. In der Schule wurde sie gehänselt, weil sie nicht wusste, was Eisenbahn auf Italienisch heißt. Zu Allerheiligen verkündete Vater, dass die Familie auswandern würde. Mitten in die Freude hinein dann der Stich: Er würde als Erster gehen, ein Nest bauen, und er könne nur eine mitnehmen, Mercedes, die Älteste, sie war immerhin zwölf und hatte in den letzten zwei Monaten bewiesen, dass sie arbeiten konnte, zwei Monate in der Fabrik von Domenico Raiser. In San Francisco gebe es viele Webereien, sie könnte dort gleich eine Arbeit finden und er als Mechaniker sowieso. Jeden Monat, wenn es hart ginge jeden zweiten, würde er Geld schicken, damit sie nicht hungern müssten.

Tina erinnert sich an den Abschied, der Vater hat die Kinder einzeln hochgehoben, Valentina, Yolanda, Gioconda, sie selbst und als Letzten den kleinen Benvenuto. Tina weinte die ganze Nacht, noch heute hat sie den Geruch des feuchten Polsters in der Nase, der nach fauligem Werg stank. Nun war sie die Älteste, mit neun.

Nach zwei Monaten kam eine Postkarte, ich hole euch nach, es geht nur nicht gleich. Ich wohne in Turtle Creek, bei meinem Bruder, Mercedes arbeitet in San Francisco, dort hat es ein großes Erdbeben gegeben und dadurch haben jetzt alle Arbeit.

Vier Jahre. Vier Jahre jeden Tag Hunger und Polenta, im Winter manchmal Kohl, jede Woche anschreiben beim Kaufmann und hoffen, dass es diesmal noch geht, jeden Tag hoffen auf einen weiteren Brief, der eine von ihnen, wenigstens eine, ins goldene Kalifornien riefe. Goldenes Kalifornien, so nennen die anderen Frauen, die die Mutter manchmal besuchen, das Land. Ihre Männer haben es entweder nicht geschafft und schwärmen davon oder schicken Geld von drüben. Die Mutter verschweigt, dass von Giuseppe noch kein Geld gekommen ist. Prächtige Häuser schössen drüben aus dem Boden, erzählen die Frauen, wie Paläste sähen sie aus, Arbeit gebe es für alle.

Seit vier Jahren schläft Tina mit Yolanda und Gioconda in einem Bett, mit einer Decke, jedes Mal vor dem Einschlafen bittet Gioconda sie, ein Stühlchen zu machen. Sie winkelt die Knie an und die kleine Schwester kuschelt sich mit dem Rücken an ihre Vorderseite. »Du bist jetzt unser Papa«, sagt Yole, und es stimmt ja, sie verdient wirklich das Geld wie ein Vater.

Vier Jahre. Sie dreht die Fotografie um. Auf der Rückseite die Handschrift des Vaters: 7. März 1909, meine Werkstatt. Sie betrachtet wieder die Vorderseite, erst jetzt entziffert sie das Schild im Hintergrund, »Precision Engineering«.

Seit vier Jahren wartet sie auf den Brief, der das Ticket für sie enthält. Stattdessen lacht der Vater vor seiner neuen Werkstatt.

Dann kommt ihr auf einmal ein böser Gedanke, zuerst ganz klein, dann ergießt er sich über sie wie ein Topf schwarzer Farbe. Was, wenn der Vater inzwischen dort eine andere Frau gefunden hat? Vielleicht kommt nächste Woche schon ein anderer Brief, in dem er schreibt, ich hole niemanden mehr nach. Sie versucht, den giftigen Gedanken zu verscheuchen.

Dann wäre all das Warten umsonst gewesen.


Warum müssen Kinder immer warten?

Marie horcht an der Tür. Noch immer bereden die Eltern mit Großvater Ephraim etwas Geheimes, das die Kinder nicht hören dürfen. Walter und Helene ist es egal, sie klatschen die Spielkarten auf den Tisch und spielen Rommé, wie sie es sich von den Erwachsenen abgeschaut haben und es sich zusammenreimen. Pah. Marie weiß, dass sie in Wirklichkeit keine Ahnung haben. Hauptsache, ihre Geschwister haben sich wieder gegen sie verbündet. Walter geht mit seinen dreizehn Jahren schon in die Quarta, Helene mit elf in die Sexta, nur sie ist noch bei den Kleinen in der Grundschule. Die Geschwister denken, sie bekomme nicht mit, was läuft. Aber sie sieht genau hin, hört zwischen den Worten der Erwachsenen das Ungesagte, registriert, wie die Großen auf freudige und traurige Ereignisse reagieren und merkt sich jede Reaktion, wie andere sich Zahlen merken oder Worte.

Als sie Schritte hört, die sich der Tür nähern, setzt sie sich schnell wieder in den Sessel neben der Tür und nimmt ihr Buch zur Hand.

Ein Türflügel öffnet sich.

»Kommt rein!«, sagt die Mutter. »Gleich gibt es Abendessen.«

Während Marie sofort ihr Buch zur Seite legt und aufspringt, scheinen ihre Geschwister die Worte der Mutter gar nicht gehört zu haben.

Marie läuft hinein. Sie will neben Großvater sitzen, der zwar etwas eigenartig riecht, ein wenig nach altem Brot, der aber stets einen Scherz auf Lager hat, den die Leute nicht immer verstehen. Er kneift dann die Augen zusammen und wartet, bis der Witz gesickert ist. Sie liebt ihn gerade deswegen und weil er ihren Vater manchmal wie ein kleines Kind erscheinen lässt. Ihr Vater, der sonst so herrisch ist, wird immer zum Buben, zum Kind seines Vaters, das Maßregelungen und Lob über sich ergehen lässt.

»Worüber habt ihr geredet?«, fragt Marie.

Die Mutter wirft ihr einen strengen Blick zu. Man platzt nicht einfach so heraus.

»Ach, Politik«, sagt der Großvater. »Und über fremde Länder.«

»Was denn? Über welche?«, fragt Marie.

Der Vater zieht die Stirn in Falten, doch der Großvater winkt sie zu sich, sie setzt sich auf seinen Schoß. Sie hat das früher gerne gemacht, jetzt ist sie sich nicht sicher, ob sie nicht schon zu alt dafür ist.

»Du fragst so viel. Interessieren dich andere Länder?«

»Oh ja! Amerika! Und der Südpol.«

»Der Südpol?«

»Ja, da wo die Forscher dauernd hinfahren.«

»Woher weißt du denn das schon wieder?«, sagt der Großvater.

Walter und Helene trotten ins Zimmer, Marie rutscht vom Knie des Großvaters und setzt sich auf ihren Platz.

»Sie haben in Sachkunde einen jungen Lehrer«, sagt die Mutter. »Der hat ihnen von der Expedition von diesem Shackleton erzählt.«

»Stell dir vor, Großvater, die Männer sind tagelang durch das Eis marschiert. Sie hatten nur noch ein paar Kekse und das Wasser vom Schnee. Sie wären fast gestorben.«

Die Geschwister ziehen Grimassen. Nicht schon wieder die neunmalkluge kleine Schwester.

»Nun lass gut sein«, sagt der Vater. »Wir essen jetzt.«

Die Mutter beginnt die Suppe zu verteilen.

»Später kann ich dir von Amerika erzählen«, sagt der Großvater. »Ein Freund von mir ist vor langer Zeit ausgewandert. Ein Fürther, Julius Ochs. Aber jetzt essen wir.«

Doch Marie kann nicht lange stillhalten.

Sie löchert den Großvater.

»Wenn du groß bist, kannst du ja nach Amerika fahren. Du musst einen reichen Mann heiraten, mit dem fährst du dann.«

Heiraten? Niemals.

»Ich fahre allein. Nein, dich nehme ich mit.«

Sie haben mich nicht gekriegt

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