Читать книгу Sie haben mich nicht gekriegt - Felix Kucher - Страница 13
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ОглавлениеDer Mann im Federschmuck hört auf zu rühren. Aber anstatt mit dem Holzlöffel, mit dem er gerade umgerührt hat, zu essen, greift er mit den Fingern in die Schüssel und stopft sich das Fleisch und die Bohnen in den Mund. Aus den Augenwinkeln sieht er auf die Menschen, die ihn beobachten.
Wie Tiere im Zoo, denkt sich Tina. Alles Mögliche hat sie in dieser Ausstellung schon gesehen, die größten Wunder der Gegenwart, aber Menschen, die wie Zootiere in eigenen Arealen in Zelten leben und von Zuschauern bei ihrem Alltag beobachtet werden – so etwas hat sie noch nie gesehen. Oder ist alles nur Show? In Amerika weiß man das nie. Aber das Tipi ist zweifellos echt, die Indianerfamilie auch.
Sie gähnt unwillkürlich. Sie hat so viel gesehen in dieser wundersamen Stadt.
Die Panama-Pacific International Exposition ist wirklich eine eigene Stadt. Auf dem riesigen Gelände gibt es so viele Gebäude, Pavillons, Türme, Freilichtbühnen und Läden, dass es den Anschein einer Siedlung macht. Aber alles hier ist Schein, dazu bestimmt, nach acht Monaten wieder abgebaut zu werden.
Schon der Torbogen mit dem riesigen Turm darüber hat sie fasziniert. Hunderttausend Glaskristalle funkelten in der Sonne, dass man die Augen zusammenkneifen musste, wenn man hinsah. Am Abend beleuchten den Turm angeblich fünfzig Scheinwerfer. Den erhellten Himmel sieht sie am anderen Ende der Stadt, seitdem die Ausstellung vor einem Monat geöffnet hat.
Auf dem großen Platz war sie wie erschlagen von den Menschenmassen, die in alle Richtungen hin und her liefen. Alle hatten es eilig, wahrscheinlich um möglichst viel in der Zeit zu sehen, die sie sich für die Ausstellung vorgenommen hatten. Aber bei der Größe würden sie es nie schaffen, auch nur die Hälfte an einem Tag zu sehen.
Tina fuhr zuerst mit einem Minizug durch den riesigen Nachbau des Panamakanals. Der Zug hielt an verschiedenen Stellen, wo eine Stimme aus einem Phonographen die Besonderheiten des jeweiligen Abschnitts erklärte.
Den Grand Canyon sparte sie sich, dafür schaute sie sich die Länderpavillons und die Technikausstellungen an. Sie sah gewaltige Dampfmaschinen, die Pflüge über Felder ziehen konnten, einen Rosengarten, dessen Blumen aus geschliffenem Glas bestanden, und schließlich einen indischen Tempel, der aus Seifeziegeln errichtet worden war und intensiv nach Butter und Patschuli duftete.
Sie besichtigte die berühmte Liberty Bell mit ihrem Riss und fragte sich, warum die Amerikaner so viel Aufhebens um eine Glocke machten. Dann zog eine Street Parade vorüber und sie betrachtete die bunten Uniformen und lauschte der Marschmusik. Sie wunderte sich, dass sich erwachsene Leute so etwas ansahen.
Mittlerweile ist sie bei den Miniaturwelten angelangt. Wie auf kleinen Inseln sind Dörfer verschiedener Indianerstämme aufgebaut, in denen echte Ureinwohner leben. Die Besucher beobachten sie, wie sie Holzschnitzereien anfertigen, mit Pfeil und Bogen auf Scheiben schießen und am Lagerfeuer Essen zubereiten.
Der Indianer greift wieder mit den Fingern in die Schüssel. Einige Kinder lachen und zeigen mit dem Finger auf ihn.
Tina weiß nicht, was sie darüber denken soll.
»Am Abend isst er mit Messer und Gabel«, sagt eine Stimme neben ihr.
Sie dreht sich zur Seite.
Ein junger Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Dünn, feine Gesichtszüge, spitzes Kinn, gezwirbelter Schnurrbart. Er trägt ein Samtjackett, das aus der Barockzeit zu stammen scheint, und eine viel zu große Schleife um den Hals. Ein leichter Akzent, vielleicht französisch oder portugiesisch. Sie dreht sich wieder der Szenerie zu. Was will dieser lackierte Affe von ihr? Sicher verwechselt er sie mit jemandem.
Seit zwei Wochen regnet es. Was für Ferien! Aber Marie liest, die Polarforscher hat sie links liegen gelassen, holt dafür alle paar Tage einen goldgeprägten Band von Karl Mays Gesamtausgabe und blättert vorsichtig darin um, es sind die Ansichtsexemplare, die auf dem Büchertisch liegen. Den ganzen Juli hindurch verkriecht sie sich in ihrem Zimmer, Helene ist meistens bei einer Freundin, da hat sie Ruhe. Während es draußen nass ist, reitet sie mit Kara Ben Nemsi von Tunesien nach Mekka, durchs wilde Kurdistan und die Schluchten des Balkan, immer den Bösen hinterher, dem Schut und seinen Spießgesellen, der im sechsten Band endlich seine gerechte Strafe findet.
Sie ist begeistert, dass dieser Kara Ben Nemsi ein Deutscher ist, ebenso wie in Buch sieben dann der deutsche Einwanderer in Amerika, der Old Shatterhand genannt wird. May zeigt, dass es jeder in einem fremden Land schaffen kann, wenn er mutig und schlau genug ist.
Das Wetter wechselt und Marie liest trotzdem weiter. Während draußen die Sonne schein, reitet sie mit den Apachen gegen die bösen Kiowas und vergießt Tränen, als die Indianerprinzessin Ribanna stirbt.
Jedes Mal, wenn sie dem Vater ein Buch zurückbringt, fragt sie ihn, ob sie nicht einmal an diese Orte auf Urlaub fahren können, nicht immer nach Karlsbad oder in die Wachau. Warum nicht nach Bagdad und Istanbul, oder nach St. Louis und zum Silbersee. Natürlich weiß sie, dass das zu weit weg und zu teuer ist, aber fragen kann sie ja.
»Das kannst du machen, wenn du groß bist«, sagt der Vater dann immer lachend.
Sie malt sich aus, wie das sein wird. Sie wird Medizin studieren und dann Ärztin werden und den armen Völkern in anderen Ländern helfen. Den Indianern zum Beispiel, die ohne fließendes Wasser in Zelten oder Pueblos wohnen und ohne Teller und Besteck essen.
»Am Abend isst er mit Messer und Gabel.«
»Ach so? Woher weißt du das?«, fragt Tina in Richtung Tipi.
»Um neun schminkt er sich ab, zieht Hose und Hemd an und isst mit den anderen Indianern sein Chili bei Fontaneda’s. Habe ihn gestern gesehen.«
»Heißt das, das sind keine Wilden aus einem Reservat?«
»Die meisten leben in der Stadt, glaube ich. Einige gehen sogar aufs College. Ist ein netter Nebenverdienst in den Ferien.«
Tina sieht zu ihm und lacht.
»Wenn es nicht stimmt, ist es wenigstens gut erfunden, sagt man das so?«
»Es ist, wie du’s sagst. Deine Worte erschaffen die Welt.«
Sie dreht sich mit dem ganzen Körper zu ihm, mustert ihn eingehend.
»Stimmt etwas nicht mit mir oder siehst du jeden so an?«
»Passt dir das nicht? Ich bin eine Arbeiterin. Da macht man keine großen Komplimente und Umstände.«
»Ich würde dir aber ein Kompliment machen.«
Jetzt sollte ich ihn abschütteln, denkt Tina, ein reicher Dandy, der sich einen Spaß macht. Und noch immer scheint ihr seltsam, dass es in dieser Sprache kein »Sie« gibt.
»Gestatten: Tina Modotti. Da du dich nicht vorstellst, tu ich es.«
»Unverzeihlich, Madame, dass ich das unterlassen habe. Roubaix de l’Abrie Richey.«
Ein französischer Adeliger also. Wenn’s stimmt.
»Hast du keinen Vornamen?«
»Roubaix ist mein Vorname. Aber nenn mich Robo, so wie alle anderen.«
»Robo? So wie Robot, die Zwangsarbeit?«
»Ja, nur dass ich beides verweigere.«
»Beides?«
»Zwang und Arbeit.«
Sie hat es gewusst. Ein reicher Geck, der sich einen Spaß mit ihr macht.
»Aber da du das nicht so siehst, kann man bei dir Zwang anwenden«, sagt er, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.
Er zupft an seinem Halstuch. Sein Hinterkopf ist phänomenal, eine Spitzhaube aus Haaren, die hinten absteht.
»Ach so? Und wozu willst du mich zwingen?«, fragt Tina.
»Da vorne ist ein Automatenrestaurant. Der letzte Schrei. Ich zwinge dich, mir zu erlauben, dich auf einen Imbiss einzuladen.«
Tina lacht. Ein verdrehter, aber unterhaltsamer Kauz.
»Gerne. Aber ich mache es freiwillig, nicht gezwungen. Was sagst du jetzt?«
Sie essen einen mit Schinken belegten Teigfladen, der aus einem Ofenförderband auf den Teller klatscht und nach Handtuch schmeckt, zumindest stellt sich Tina vor, dass ein Handtuch so schmeckt.
Robo erzählt ihr von seiner Familie, verarmter französischer Adel, ausgewandert nach Kanada, dann Louisiana, immer mit Anschluss an die Franzosenkolonie. Er arbeitet tatsächlich nichts im klassischen Sinn, sondern bekommt von seiner Mutter monatlich einen Betrag überwiesen. Er bezeichnet sich als Künstler, aber als Tina fragt, was er genau mache, weicht er aus. Er sei kein Schriftsteller, schreibe aber hin und wieder Gedichte, er sei kein Maler, zeichne aber hin und wieder Karikaturen für linke mexikanische Magazine, er sei kein Theatermensch, veranstalte aber hin und wieder Schattenspiele mit improvisierten Geschichten, er sei kein Kunsthandwerker, fertige aber große Mengen gebatikter Tücher an.
»Ich nähe auch«, sagt Tina. »Hemden. Bei First Magnin. Lach nicht! Und daneben mache ich in einer Theatergruppe mit, bei Bruno Seragnoli.«
»Ich habe das Missvergnügen, beide Unternehmen nicht zu kennen.«
»Sind auch alles Italiener. Das erste ist ein Modehaus. Sie haben mich da schon einmal mit der neuen Mode fotografiert.«
Robo lacht.
»Eine Näherin und Probiermamsell in Personalunion? Parbleu!«
»Par was? Wenigstens rede ich normal und nicht so gestelzt. Na dann. Danke für das … das, was so tut, als wäre es Essen.«
Robo lacht, Tina steht auf und will sich wegdrehen. Den kräftigen Griff hat sie nicht erwartet. Sein Blick ist hilfesuchend.
»Bitte bleib.«
Sie kneift die Augen zusammen.
»Nur wenn du mit mir zum Aeroscope gehst und damit fährst. Und mich loslässt.«
Er gibt sie frei, sein Blick ist glasig.
»Alles, was du willst. Gehen wir. Wir fahren mit dem Aeroscope. Klingt luftig. Was ist dieses Aeroscope eigentlich?«
Er steht auf und putzt sich imaginären Staub von den Unterarmen.
»Das Haus, das durch die Luft fliegt. Da drüben. Komm.«
»Das Haus, das an diesem Kranarm baumelt? Oh mein Gott. Meine letzte Stunde hat geschlagen! Aber wenigstens nicht mir allein.«