Читать книгу Sie haben mich nicht gekriegt - Felix Kucher - Страница 12

1913

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Das Mädchen gegenüber macht ihr Angst. Sie fasst den Arm ihres Vaters, der neben ihr sitzt und drückt sich an ihn. Das Mädchen blickt auf, ein wilder, verlorener Blick, doch sie sieht die beiden nicht an, sondern fixiert einen Punkt hinter ihnen. Marie dreht ihren Kopf zur Wand hinter sich, aber da ist nichts. Was starrt das fremde Mädchen an?

»Eine halbe Stunde noch, nicht mehr lange«, sagt der Vater zu Marie. Es ist drückend heiß in dem Warteraum.

Sie war schon einmal auf diesem Bahnhof. Verona ist angeblich eine schöne Stadt mit alten Palästen und einem römischen Theater. Damals sind sie in den Zug nach Turin umgestiegen und haben Onkel Hugo besucht. Marie erinnert sich nur dunkel, sie war noch klein und Walter ist mit gewesen. Sie hat mit ihrem Bruder viel gestritten, daran kann sie sich noch erinnern. Aber diesmal fährt sie allein mit dem Vater, der unterwegs meistens Zeitung liest. Und sieht wieder nichts von dieser Stadt, in der angeblich Romeo und Julia gelebt haben.

Eine halbe Stunde noch.

Dann kommt ihr Zug nach Venedig. Eine Woche Urlaub am Meer. Zum ersten Mal wird sie das Meer sehen und die Zauberstadt mit den Palästen, die sie von Bildern kennt und die den Städten aus Märchen ähneln, Geschichten, die sie noch vor wenigen Jahren gelesen hat.

Aber sie kann nicht ans Meer denken, nicht an die Paläste. Unablässig wandert ihr Blick zu dem Mädchen gegenüber und wendet sich schnell ab, sobald dieses aufzublicken droht.

Das Häufchen Elend ist sicher nicht älter als siebzehn, ein billiges Leinenkleid umschlottert die dünnen Beine. Obwohl sie mager ist, hat sie volle Lippen und einen wachen Blick, wie eine lauernde Katze. Und dennoch ist da eine Zartheit und Verzagtheit, die in Marie Mitleid aufkommen lässt. Sie hält einen Strohkoffer auf ihrem Schoß, hat ihn ganz zu sich gezogen, als würde sie von Räubern umlauert und müsste ihn beschützen. Ihr Hut ist zerknautscht und erinnert Marie an einen Landstreicher, den sie daheim in Fürth gesehen hat, oder nein, an eine Fabriksarbeiterin, auch zu Hause stehen schon Vierzehnjährige am Fließband in den neuen Fabriken, fällt ihr ein, schrecklich muss das sein.

Das Mädchen ist offenbar allein unterwegs. Sie wird alleine in den Zug steigen, keine Eltern werden sie verabschieden, keine Geschwister werden ihr winken.

Marie schaudert, sie drückt sich an ihren Vater, der es kaum merkt, er ist in die Zeitung vertieft, wahrscheinlich die Wirtschaftsnachrichten. Vorher hat er halblaut Zahlen mitgelesen, wahrscheinlich rechnet er nach, wie viel er gewonnen hätte, wenn er diese oder jene Aktie besäße. Es ist ein Tick, von dem er denkt, die anderen bekämen ihn nicht mit. Aber Marie ist nicht dumm. Sie hat längst gemerkt, dass die Buchhandlung zurzeit nicht so gut läuft. Sie hat gelernt, die Halbsätze, die ihre Eltern beim Abendessen wechseln, zu deuten. Die Erwachsenen begeben sich alle in Gefängnisse, die sie sich selbst errichten. Das Gefängnis ihres Vaters ist die Buchhandlung, in der er glücklich ist. Aber sie wird ausbrechen aus dieser Fretterei, wird nicht Buchhändlerin werden. Sie wird Abitur machen, das weiß sie schon jetzt, und dann Medizin studieren. Ein Jahr noch, dann wird sie die Oberschule beginnen. Aber zuerst geht es einmal ans Meer. Doktor Löwi hat es schon vor einem Jahr empfohlen, es würde ihrer Lunge guttun. Sie ist ihrem Vater dankbar, dass er mit ihr eine Woche nach Venedig fährt. Natürlich hat er dort auch geschäftlich zu tun, aber er hätte sie ja nicht mitnehmen müssen.

Dafür wird sie ihm im August umso eifriger in der Buchhandlung helfen, wie schon im letzten Jahr. Auch wenn sie nicht Buchhändlerin werden will, liebt sie das Halbdunkel der Geschäftsräume, den Geruch der Ledereinbände und des frisch bedruckten Papiers. In jedes Buch riecht sie hinein, riecht den Leim und die Fäden, das Leder und die Druckerschwärze. Manchmal lässt sie der Vater ein Buch aufschneiden, das Messer, das er dazu benutzt, ist ein spezielles Buchaufschneidemesser, das imponiert ihr.

Das Mädchen steht auf, Marie erschrickt. Wie eine Wildkatze sieht sie sich im Warteraum um, aber da ist niemand außer Marie und ihr Vater, keine Gefahr. Sie klemmt sich etwas linkisch das Strohköfferchen unter den rechten Arm und geht in Richtung Schwingtür. Ein letzter wilder Blick, dann schlüpft sie durch die Tür.

Die Türflügel pendeln nach. Die Spannung ist weg.

Sie muss diesem Mädchen nach.

»Können wir nicht auch hinaus und auf dem Bahnsteig warten? Es ist so heiß hier.«

Der Vater brummt Zustimmung, er fasst die Koffer, sie treten ins Freie, gehen die Bahnsteige entlang. Marie wendet den Blick nach links und nach rechts. Wohin ist das Mädchen verschwunden? Sie schreiten die Bahnsteige des Kopfbahnhofs entlang. Dort draußen geht sie, Perron Nummer 14, traumverloren, als wäre sie unsicher, den richtigen Bahnsteig erwischt zu haben. Marie bleibt stehen. Auf der Tafel steht »Genova«.

»Papa, wo ist Genova?«

Ihr Vater sieht im Gehen zu ihr.

»Ach, der Zug da. Der fährt nach Genua, so heißt die Stadt auf Deutsch. Das ist eine Hafenstadt, weit weg von hier. Der Zug fährt sicher die Nacht durch und ist morgen in der Früh erst da. Komm, wir müssen zu Bahnsteig vier.«

Marie folgt ihrem Vater, ihr Kopf rast. Das Mädchen, die junge Frau, das zerzauste Ding fährt die ganze Nacht alleine im Zug nach Genua. Sicher fährt sie dritte Klasse und schläft auf den Holzlattensitzen, so ärmlich, wie sie gekleidet ist. Marie malt sich aus, wie es sein muss, im Waggon zu schlafen, in den Schlaf gewiegt zu werden von den rhythmischen Stößen der Gleisfugen. Sicher wartet in Genua jemand auf das Mädchen. Und wenn nicht? Wenn sie dort ganz allein auf ein Schiff steigt und weit weg fährt? Marie schaudert, obwohl es heiß ist.

Sie schwenken auf den Bahnsteig vier ein. Der Zug ist noch nicht da, sie setzen sich auf eine Bank. Ein Straßenjunge mit einem Bauchladen bietet ihnen Nüsse an, Marie schüttelt den Kopf. Ihr Blick sucht den anderen Bahnsteig, auf dem sie das Mädchen weiß. Eine fauchende Lokomotive fährt ein, dunkle Waggons hinter sich, es quietscht Metall auf Metall, die Sicht auf die anderen Bahnsteige verschwindet.

Der Vater fragt, ob sie nun zufrieden ist. Sie weiß nicht, was er meint, bejaht aber zur Sicherheit. Er sagt, der Zug wird bald kommen. Marie nickt. Sie hat das Gefühl für die Zeit verloren. Sie sollte an Venedig denken, die Meeresluft, die ihr guttun wird, die Bauten, die ihr der Vater zeigen wird, doch das Arbeitermädchen geht ihr nicht aus dem Kopf. Endlich rollen die Waggons herein, weit vorne schnauft die Lokomotive im Rückwärtsgang. Noch einmal schaudert es Marie. Was das Mädchen wohl schon alles erlebt hat? Und was erwartet es? Ob sie allein zurechtkommen wird? Sie wird sie wohl nie wiedersehen, um sie zu fragen.


Wieder der Lärm, das Poltern, die stampfenden Schritte treppab, wieder das Schimpfen und Fluchen, wieder die Gleichgültigkeit der anderen Passagiere, die auf ihren Koffern und Bündeln sitzen und kaum aufblicken. Wieder ist einer heruntergestoßen worden in das Zwielicht des Zwischendecks, dessen schwache Notbeleuchtung Tag und Nacht für die Elenden gleichgemacht hat. Kein Tag, an dem nicht jemand versucht, den stinkenden Gedärmen des Schiffs zu entkommen, sich an die Oberfläche zu schwindeln, sich mit seinem Proviant in einem Winkel des Dampfers zu verstecken. Nur nicht hier sein, in diesem Grab der Lebenden.

Jemand fasst sie an der Schulter.

»Willst du immer noch nicht auf der Pritsche schlafen?«

Sie schüttelt den Kopf. Die Pritschen sind am Rand des großen Raumes angeordnet, jeder sieht jeden, die Leute schlafen Kopf an Fuß, die meisten in ihrem einzigen Gewand. Auch sie hat seit drei Wochen ihre Wäsche nicht gewechselt, die zweite Bluse und die zweite Garnitur Unterwäsche, die im Koffer vor sich hin muffeln, spart sie eisern für drüben. Auch ein Tischtuch hat die Mutter eingepackt, Handarbeit, das kannst du dort verkaufen. Ein paar Fotografien und ein zerschlissenes Kissen komplettieren den Inhalt des Koffers, auf dem sie sich jeden Abend zusammenkauert.

Gleich nach der ersten Nacht hat sie sich entschlossen, nicht auf der Pritsche zu schlafen, die aus Brettern und einer dünnen Rosshaarmatratze besteht. Die ganze Wand ist mit dreistöckigen Betten verbaut, sie kam zuunterst zu liegen. Der Mann ober ihr furzte, die Füße der Frau zu ihrem Haupt, die in verfilzten Wollsocken steckten, stanken erbärmlich, ständig knarrte das Gebälk, während sich die Menschen ächzend umdrehten. Die meisten waren Italiener, es waren auch einige Deutschsprachige darunter.

In der zweiten Nacht hat sie die Pritsche verlassen, sich auf ihrem Koffer zusammengekauert und sich mit ihrem Mantel zugedeckt. Sie hatte zunächst Angst, dass der halb leere Kartonkoffer zusammenbrechen könnte, aber beruhigte sich schnell, sie wog ja kaum vierzig Kilo.

An den Gestank hat sie sich nach zwei Tagen gewöhnt. In den ersten Tagen stank es intensiv nach Erbrochenem, auch sie musste sich übergeben. Von irgendwoher weht jeden Vormittag abgestandener Küchengeruch, am Abend riecht es nach Misthaufen. Schiffsjauche heißt das, hat jemand erzählt, ganz unten im Kiel, Schmutzwasser, das nie verdunstet.

Eine Nacht noch durchhalten, dann sind sie da.

Es muss Morgen sein, doch hier unten glost immer dasselbe Licht. Die dritte Klasse ist unter dem Meeresspiegel, hinter dem narbigen Blech ist das Meer, denkt sie und bekommt wieder Angst.

Sie setzt sich auf, der Junge von vorhin, Rodolfo heißt er, sitzt neben ihr.

»Ich zeig dir was«, sagt er nur, und: »Nimm deinen Mantel mit!« Sie folgt ihm und nimmt auch gleich den Koffer, wer weiß, was sonst mit ihm passiert. Er hat sie schon öfters angesprochen, zwei Tage vorher wird keiner mehr kontrollieren, hat er gestern gesagt, und so stolpert sie mit ihm die Treppe hinauf. So zufrieden sie in den ersten Tagen gewesen ist, unbehelligt in einem Winkel dahinzuvegetieren, so stark ist in den letzten Stunden die Sehnsucht nach Licht und frischer Luft geworden.

Sie sind oben angelangt, schon das ist verboten. Hinter der ersten Tür ist niemand. Die beiden stehen in einem kurzen Gang, von dem zwei Türen abgehen. Tina will zur Tür vor ihnen, Rodolfo schüttelt den Kopf, öffnet die rechte Tür und bugsiert sie in eine Abstellkammer. Sie verbergen sich hinter einer Kiste, sie umarmt ihren Koffer fest.

»Die andere Tür ist noch zugesperrt. In einer halben Stunde tragen sie unser Wasser hinunter. Dann ist sie ein paar Minuten offen. In diesem Moment schlüpfen wir hinaus.«

Und es klappt. Rodolfo führt sie durch Gänge, endlich wird es hell, sie sind an Deck.

»Ich mache das schon seit einer Woche«, sagt er. »So kann ich immer raus. Du hättest schon früher mitkommen können.«

Tina hält sich die Hand vor die Augen, so hell, sie stützt sich auf ihn, zehn Tage ist sie nicht mehr gegangen, ist nur herumgehockt im Halbdunkel. Die scharfe Meeresluft tut fast weh. Sie atmet tief durch und muss husten.

»Warte dort, hinter den Rettungsbooten«, sagt Rodolfo und fügt hinzu, ob sie wisse, dass es diese Boote nur für die erste und die zweite Klasse gebe. »Wenn das Schiff sinkt, müssen wir ersaufen.«

Tina ist unsicher. Stimmt das oder bindet ihr Rodolfo einen Bären auf?

»Wir dürfen hier nicht sein«, sagt sie, aber Rodolfo verschwindet und kehrt wenig später mit einem großen Stück Käse zurück. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Käse gegessen hat, vor Monaten hat sie die salzigen Rindenstücke eines Hartkäselaibs mit den Schneidezähnen abgeschabt, links und rechts ist ihr damals der Speichel hinuntergelaufen. Sie denkt an die Mutter, Yole, Benvenuto, Gioconda, Valentina. Hoffentlich können sie bald nachkommen.

Sie sitzen zwischen den Booten, niemand kommt zu diesem Ort herauf, versichert ihr Rodolfo. Er lehnt sich an die Wand und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Ich übernachte auch hier draußen. Zumindest gestern habe ich es gemacht. Unter der Plane der Boote ist es nicht so kalt. Wenn du magst, bleib auch hier. Da unten ist es ja nicht auszuhalten.«

Tina setzt sich neben ihn und blinzelt in das Streulicht, das die Morgensonne hinter Wolkenbänken ausschickt.

»Ich habe gar nicht mehr gewusst, wie gut frische Luft ist. Schau mal, ist da drüben schon Land?«

»Was glaubst du, kleines Mädchen?«


»Ich will nicht so werden wie das Mädchen am Bahnhof.«

»Welches Mädchen?«

»Das Mädchen im Warteraum. Das mit dem Koffer.«

Der Vater brummt, dann hebt er die Augenbrauen.

»Ach ja, ich erinnere mich. Wie kommst du auf die Idee?«

»Hast du nicht gesehen? Sie war sicher arm. Wie die Mädchen, die bei uns in den Fabriken arbeiten. In der Südstadt.«

»Das wird dir nicht passieren, Marie. Du wirst eine gute Arbeit haben und deine eigene Chefin sein.«

Marie nickt langsam.

»Früher war das noch viel schlimmer«, sagt der Vater. »Jetzt müssen sie wenigstens dreizehn sein. Schau doch.«

Sie sitzen auf einer Steinbank an der Riva degli Schiavoni, der Vater deutet hinüber nach San Giorgio Maggiore auf Palladios Kirche, die Marie wie ein verwunschenes Inselschloss erscheint. Dahinter, hat der Vater erklärt, liegt die Insel San Servolo, die ganz von einem Krankenhaus eingenommen wird.

Marie muss an die Kranken denken, an die Schwestern und Ärzte, die auf dieser Insel Dienst tun. So eine Ärztin will sie auch werden. So viele Frauen studieren jetzt, sogar in Fürth gibt es schon eine Ärztin.

Möwen fliegen vorbei und kreischen. Der Vater sieht zur Kirche hinüber, kneift die Augen zusammen.

»Du wirst in einer sauberen Buchhandlung arbeiten. Menschen werden immer Bücher lesen. Du wirst nicht werden wie dieses Mädchen. Und studieren … es reicht, wenn Walter und Helene studieren.«

»Aber Menschen werden auch immer krank. Wenn ich Ärztin bin, kann ich Menschen das Leben retten. Ich kann sie gesund machen.«

Der Vater lächelt. »Das kannst du mit Büchern manchmal auch, glaub mir. Aber das verstehst du noch nicht, auch wenn du für deine dreizehn Jahre schon viel liest.«

»Papa! Ich verstehe schon viel! Ich weiß mehr, als du denkst!«

Wieder kreischt eine Möwe. Von den neben der Anlegestelle vertäuten Booten tönen dumpfe Schläge, wenn die Rümpfe zusammenstoßen.

»Ach so, und woher?«

»Du weißt es nicht, aber ich lese nicht nur Gerlachs Jugendbücherei und die Sachen, die du mir gibst. Und Mama erzählt mir auch immer von ihrer Lektüre.«

»Die liest doch gerade Tolstoi, soviel ich weiß.«

»Ja, glaubst du, ich weiß nicht, wie Anna Karenina leidet? Mama erzählt mir jedes Mal davon, wenn sie wieder ein Kapitel gelesen hat.«

»Das war aber nicht so vorgesehen. Ich werde mit deiner Mutter reden müssen. Eigentlich war ja ausgemacht, dass du ihr erzählen sollst, was du gelesen hast und nicht umgekehrt.«

Der Vater steht auf und deutet auf ein großes Boot, aus dessen Schornstein schwarzer Rauch quillt.

»Schau, da kommt das Vaporetto. Zagolin wird schon warten. Es ist wirklich ein schönes Antiquariat, du wirst sehen. Alte Ledereinbände, Bücher mit eisernen Verschlüssen und Goldschnitt, das magst du doch gerne?«

Marie nickt und denkt an das Antiquariat in Wien, das sie mit dem Vater vor einem Jahr besucht hat. Sie hatten Urlaub in der Wachau gemacht und an einem trüben Tag die Kaiserstadt besucht. Marie wäre zwar lieber in den Zoo oder mit Mutter zum Einkaufen gegangen, aber der Vater hatte darauf bestanden, dass sie mit ihm ins Antiquariat ging. Der Laden sah von außen unscheinbar aus, und auch wenn man die Tür öffnete und den Verkaufsraum betrat, glaubte man, es sei nur ein kleines Geschäft. Aber der Geschäftsinhaber, ein hagerer Mann mit Glatze und einem breiten Lächeln, führte sie in einen Raum dahinter, hinter dem es einen weiteren und noch einen gab. Die Regale waren bis zur Decke voll mit Büchern, Stichen und Landkarten. Schließlich führte auch eine enge Wendeltreppe in den Keller. Und der Geruch nach Leder, modrigem Papier und holzwurmzerfressenen Regalen! Marie fühlte sich sofort wohl. Ein verzauberter Ort, ein Ort, an dem viele Geheimnisse schlummerten.

Das Boot legt mit einem dumpfen Schlag an, es stinkt nach Kohle. Blitzschnell legen die Matrosen die Planke aus, binden das Boot an, Leute steigen aus, die Wartenden steigen ein. Marie wundert sich, wie schnell die Matrosen die Taue von den Pollern lösen, als ob sie für jede Sekunde zu viel eine Strafe bekämen.


»Natürlich ist das Land. Wir haben ja gestern in Boston angelegt und fahren jetzt die Küste entlang. Hast du das nicht mitbekommen?«

Tina erinnert sich an das Knarzen und Zittern unten im Bauch des Schiffes, Metall hat auf Metall geschlagen. Danach hat sie Stunden geschlafen. Wahrscheinlich war es genau während dieser Stille, als das Schiff im Hafen lag.

Rodolfo lacht. »Ja, morgen sind wir da.«

Tina nutzt den Moment, um ihn zu mustern. Im Halbdunkel hat er älter gewirkt, aber viel älter als sie kann er nicht sein. Halb Kind, halb Mann, ein zartes Gesicht, abstehende Ohren, schlaksig, aber sicher aus keiner Arbeiterfamilie. Von der Aussprache her eher aus dem Süden.

»Woher kommst du?«

Er öffnet die Augen, als hätte er gewusst, dass Tina gleich etwas fragen würde.

»Aus einem Dorf in der Nähe von Tarent, aber wir sind oft umgezogen. Mein Vater war Arzt, Militärarzt, da wurde er oft versetzt.«

Sie merkt, dass er sich schwertut weiterzusprechen, er hält inne, als wollte er noch etwas sagen.«

»Und du hast deine Eltern verlassen?«

»Mein Vater ist gestorben, als ich elf war. Meiner Mutter ging es dann nicht gut. Ich kam ins Waisenhaus. Die Schule, was soll ich sagen. Nichts für mich. Wollte dann zur Marine, aber denen war ich zu schwach. Kein Wunder, wenn man nie was zum Beißen hat. Hast du Verwandte drüben?«

»Ja, meinen Vater und meine Schwester.«

»Siehst du, ich habe niemanden. Vielleicht den Onkel, wenn er nachkommt. Aber ich schlage mich durch, das weiß ich jetzt schon.«

Sie reden den ganzen Tag, essen Käse und lachen.

Als es dämmert, schleichen zwei Jungen vom Unterdeck herbei, erschrecken kurz, als sie sie sehen, und legen sich in das Boot daneben.

»Hat sich schon herumgesprochen, wie man raufkommt«, sagt Rodolfo. Sie kriechen in das Boot. Rodolfo rollt sich zusammen und schläft sofort ein. Er atmet lautlos, liegt ganz starr. Tina liegt wach. Was, wenn sie erwischt werden? Schlafend wirkt er wie ein Mädchen. Schließlich dämmert sie auch weg.

Sie erwacht, als jemand sie am Ärmel zupft. Rodolfo steht schon außerhalb des Bootes, streckt die Hand zu ihr hinein und hilft ihr heraus. Es ist kalt. Dichter Nebel ist aufgekommen, doch dahinter ahnt Tina den Tageshimmel.

»Was ist denn los? Wie spät ist es? Wo sind wir?«

»Es ist gegen sechs Uhr. In einer halben Stunde legen wir an. Hinter dem Nebel liegt New York, vielleicht sehen wir die Freiheitsstatue.«

Vergeblich versuchen sie etwas zu erkennen. Eine Unruhe liegt über dem Schiff, obwohl niemand zu sehen ist. Tina hört Rufe und Gesprächsfetzen, Türen und Luken werden geöffnet und geschlossen, man hört Stimmen an Deck.

Als die Neugier zu groß wird, wagen sie sich aus der Deckung der Rettungsboote und sehen auf das Deck hinunter, aber niemand nimmt Notiz von ihnen. Die Passagiere, die schöner gekleidet sind als die Armutsgestalten im Zwischendeck, stehen an der Reling und schauen in den Nebel. Sie mustert die Hüte der Frauen, die weißen Anzüge der Männer. Sie muss an Onkel Demetrio denken und seine Rede von der klassenlosen Gesellschaft. Eines Tages würden alle gleich gekleidet sein, es würde keine Unterschiede mehr geben. Das würde dann sicher auf den Schiffen auch so sein.

Als sich Tina umdreht, ist Rodolfo verschwunden.


Das Vaporetto ist fast leer, Marie zieht ihren Vater durch den Passagierraum, vorbei an Menschen mit Koffern, auf die Plattform ganz vorne, wo es am wenigsten Kohlenrauch gibt. Sie fahren an San Giorgio Maggiore vorüber. Dann, mitten in der Häuserfront, taucht noch eine weiße Tempelfassade auf.

»Das ist Il Redentore, die Erlöserkirche«, sagt der Vater.

So viele Kirchen, so viele Paläste, und alle am Wasser! Eine Stadt wie aus einem Märchen.

Das Vaporetto legt kurz nach der Kirche an. Einige Fischer sitzen am Ufer und entwirren oder flicken ihre Netze. Es stinkt nach verfaultem Fisch. Der Vater zieht sie weiter durch schmale Gassen, bis sie auf einen kleinen Platz gelangen, in dessen Mitte ein Brunnen steht. In einer Ecke spielen Kinder ein Hüpfspiel.

»Hier ist es«, sagt der Vater.

Über dem Schaufenster vor ihnen hängt das Schild »Libreria antiquaria – Libri vecchi e rari – Libri fuori catalogo«.

Der Laden sieht unordentlich aus, ganz anders als der in Wien, es riecht nach Mäusekot und toten Fischen. Der Mann hinter dem Tresen ist uralt. Er hat ein rötliches Gesicht und eine Halbglatze, die von wirrem weißem Haar eingerahmt wird, über seiner weinroten Weste blitzt eine silberne Uhrkette. Ihr Vater spricht mit ihm ein Kauderwelsch aus Deutsch, Italienisch und Französisch, beide nicken und lachen.

Marie ist enttäuscht, sie versteht nicht, worüber die Männer reden. Sie hat auch keine Lust sich umzusehen, wenn es an diesem Ort so stinkt. Sie zupft den Vater am Ärmel.

»Papa, mir ist nicht gut. Kann ich draußen warten? Ich kann den Kindern ja beim Spielen zusehen. Ich bleibe gleich vorm Geschäft.«

Der Vater sieht sie an, als wäre er gerade aus dem Mittagsschlaf aufgewacht. »Jaja«, murmelt er, »bleib aber vor dem Schaufenster stehen, damit ich dich sehe.«

Er wendet sich wieder dem Antiquar zu.

Vor der Tür sieht sie zu den Kindern hinüber. Die bemerken sie zuerst nicht und spielen ihr Hüpfspiel weiter, dann macht einer eine Bewegung, sie sehen zu ihr her, tuscheln, lachen, spielen weiter.

Es ist heiß.

Und wenn sie jetzt wegliefe? Einfach nur ein bisschen weg, damit der Vater Angst bekäme. Als Zeichen, dass sie sich nicht alles gefallen lässt. Sie hat von Kindern in ihrem Alter gelesen, die in großen Städten wie London oder Paris auf der Straße leben und sich durch Arbeit oder Stehlen selbst erhalten. Was, wenn sie jetzt wegliefe und nach zwei Monaten zum Vater zurückkehrte und sagte: »Wenn du mich nicht studieren lässt, laufe ich wieder weg!« Würde sie das wagen?

Sie könnte in Venedig bleiben, hier gibt es viele Touristen, man kann sicher besser auf der Straße leben als in Deutschland.

Sie verscheucht die Gedanken, was ist das für ein Unsinn!

Sie tritt einen, zwei Schritte beiseite und schaut durch das Fenster. Der Vater ist nicht mehr zu sehen. Er muss ihr erlauben, Ärztin zu werden. Sie muss ihn überlisten.


Müde und aufgewühlt zugleich beobachtet sie das Anlegemanöver. Und auf einmal steht Rodolfo wieder neben ihr.

Es dauert lange, bis sich die erste Tür öffnet. Die Passagiere zweiter Klasse steigen aus, weniger hell gekleidet als die Leute am Oberdeck. Sie gehen leichten Fußes ohne Koffer, klar, sie werden ihnen nachgebracht.

»Die sind bald durch.«

»Und dann sind wir dran?«

»Nein, die von der ersten Klasse, Dummchen. Wir kommen am Schluss dran und werden gleich aufs nächste Schiff gebracht. Wir müssen zuerst nach Ellis Island. Außer wir tricksen und schwindeln uns vorbei. Komm!«

»Rodolfo, ich trau mich nicht. Außerdem habe ich den Koffer, allein kannst du besser irgendwo durchschlüpfen. Ich warte.«

»Schade. Dann trennen wir uns hier. Mach’s gut, Tina!«

Rodolfo umarmt sie, wünscht ihr Glück. Auch er will nach Westen, hat er erzählt, Los Angeles, vielleicht sieht man sich. Sie sieht ihm nach, wie er die Schwingtür aufstößt und durchgeht, sie wartet, bis die Türflügel wieder stillstehen. Schade, dass Rodolfo nicht bei ihr geblieben ist.

Ein Matrose tippt sie an, fragt sie, wo sie hingehört, sie zeigt ihr Ticket. Er macht ein Zeichen, sie steigt mit ihm unter Deck. Sie riecht die Menschen, bevor sie sie sieht. Da ist sie wieder bei den Elenden aus dem Zwischendeck, dem Abschaum, mit dem sie fast drei Wochen ohne Tageslicht verbracht hat. Die letzten vierundzwanzig Stunden an Bord haben gereicht, um die Erinnerung an die Tage davor kurz zu verdrängen. Nie wieder will sie so reisen, nie.

Vier Stunden später setzt sie den Fuß auf Ellis Island. Endlich. Amerikanischer Boden. Noch immer ist es diesig, der Nebel hat sich nicht gelichtet. Morgen kann sie weiter, sagt man ihr, das Affidavit ihres Vaters ist in Ordnung.

Ob Rodolfo schon im Zug nach Los Angeles sitzt? Ob sie ihn jemals wiedersieht? Vielleicht sogar in Los Angeles?

Ja, doch: Acht Jahre später werden sie in der Kantine eines Filmstudios in Hollywood aneinander vorbeigehen, doch keiner wird den anderen erkennen. Tina wird mit ihrem dritten Film I Can Explain versuchen, als Schauspielerin Fuß zu fassen, Rodolfo im Studio daneben einen jugendlichen Liebhaber in The Four Horsemen of the Apocalypse geben. Für Tina wird es der letzte Film sein, für Rodolfo, der sich nicht mehr Guglielmi, sondern Valentino nennen wird, der Beginn des Weltruhms.


Jetzt. Weglaufen. Es wäre die Gelegenheit. In Venedig leben. Oder sich auf ein Schiff schleichen und ab nach Amerika. Könnte sie das mit dreizehn Jahren überhaupt schaffen?

Vorsichtig setzt sie einen Schritt vor den anderen. Die Kinder sehen nicht her. Sie hält sich an die Häuserfront, biegt um die Ecke. Der Platz läuft hier trichterförmig in eine Gasse aus, ganz hinten sieht sie blau-weiße Poller, das muss ein Kanal sein.

Schritt um Schritt setzt sie, schneller, bis sie am Rand des kleinen Kanals steht. Die Buchhandlung ist längst nicht mehr zu sehen. Und nun? Sie fühlt sich leicht, befreit. Sie ist außerhalb des Gesichtskreises ihres Vaters, und das in einer fremden Stadt. Aber sie hat auch Angst. Langsam kriecht sie vom Bauch Richtung Kehle.

Weglaufen. Ein fremdes Land, ein neues Leben. In Büchern tun Kinder solche Dinge. Sie wendet sich um. Wenn sie schnell zurückginge, würde der Vater vielleicht nichts bemerken.

»Marie!«

Auf dem Platz ruft ihr Vater, es klingt wie das drohende Muhen eines Rindes. Sie zuckt zusammen und läuft zurück. Ihr Vater steht in der Mitte des Platzes, die Kinder stehen um ihn herum und glotzen ihn an, als ob er ein Zauberer wäre und sie auf ein Kunststück warteten.

»Hier, Vater!«

Marie winkt. Der Vater stutzt, ganz rot ist er angelaufen. Er stemmt die Hände in die Hüften. Sie steht vor ihm, senkt den Kopf, erst zweimal in ihrem Leben hat sie eine Ohrfeige bekommen. Sie denkt an das Mädchen am Bahnhof, als der Vater zuschlägt. Das Brennen ihrer Backe macht ihr nichts aus. Sie hört die italienischen Kinder hinter sich, sie haben zugesehen.

Was machst du für Sachen. Was fällt dir ein. Dafür gibt’s kein Zuckerwerk mehr heute. Die Worte perlen an ihr ab wie Regentropfen von einem Fliederblatt.

Der Vater schnaubt, aber sein Zorn ist schon verraucht, auch das kennt Marie. Es ist, als ob er die Wut nur spielte.

»Komm jetzt, wir gehen.«

Er macht ein paar Schritte, Marie rührt sich nicht. Hier angenagelt bleiben für immer.

Der Vater dreht sich um. »Was ist los? Komm schon. Ich warte!«

»Ich will Abitur machen.«

»Was hat das damit zu tun?«

Alles, will sie sagen. Ich kann auch neben der Schule in der Buchhandlung arbeiten. Aber bitte, lass mich weiter zur Schule gehen! Sie antwortet nicht.

Der Vater kommt zurück, reicht ihr die Hand, sieht sie an, holt Luft.

»Marie, genug davon. Du wirst Buchhändlerin.« Er versucht, ruhig zu klingen. »Das haben wir doch so ausgemacht, an deinem elften Geburtstag, erinnerst du dich? Ein weiteres Studium können wir uns nicht leisten.

Sie will es nicht verstehen. Obwohl der Vater diese Worte so oft gesagt hat, dass sie sie manchmal im Schlaf hört. Bei ihren Geschwistern gibt es keine Diskussion. Dass Walter nächstes Jahr die Schule abschließen und nach Berlin gehen wird, gilt als sicher. Helene wird in zwei Jahren das Abitur machen, sie hält still, will es sich mit dem Vater nicht verscherzen. Jedenfalls wird sie nicht Buchhändlerin werden müssen.

Betty will auch einmal studieren, aber ihr Vater ermuntert sie dazu. Sie wird auf das jüdische Gymnasium wechseln. Marie will gar keine besondere Schule, nur am Lyzeum bleiben und in fünf Jahren das Abitur machen.

»Komm!«, sagt der Vater. Seine Stimme klingt wie Sand, ein bisschen rau, aber harmlos. Er nimmt sie an der Hand wie ein kleines Kind. Sie laufen die Riva entlang, der Ponton, an dem das Boot anlegt, kommt in Sicht. Sie merkt, dass sie hungrig geworden ist, sagt aber nichts.

Sie setzen sich nebeneinander auf die Wartebank, das Kreischen der Möwen zerschneidet die Stille. Ein Ausflugsschiff dampft vorbei, eine Kette bunter Fahnen ist um die Reling gespannt, das Deck ist leer. Marie ist erleichtert, als sich andere Wartende einfinden.

Maries Blick verfängt sich zwischen den blau-weiß geringelten Pollern im Wasser vor den Pontons, zwischen denen einige Boote vertäut liegen. »Ich kann dann ja mit Abitur noch Buchhändlerin werden«, sagt sie in Richtung der Poller. »Dann weiß ich viel mehr und kann die Leute besser bedienen.«

Der Vater atmet durch, sein Bart bebt. »Marie, das hatten wir doch auch schon. Wenn du das Abitur hast, wirst du damit nicht zufrieden sein, du wirst studieren wollen und dann setzt du das auch noch durch und kommst nie zurück. Einer muss das Geschäft übernehmen.«

Sie weiß, dass der Vater recht hat mit dem Nicht-mehr-Zurückkehren. Am liebsten würde sie es ihm laut ins Gesicht sagen, dass sie Ärztin werden würde in einem Krankenhaus weit weg, wo es viele arme Leute gab, irgendwo im Urwald.

Sie schweigt.

Der Vater steht auf und studiert den Anschlag an der Wand, blickt auf die Uhr. »Das Vaporetto kommt erst in sechs Minuten, wahrscheinlich ist das aber nur ein Anhaltspunkt«, sagt er. »Schau, da vorne gibt es Eiscreme. Oder magst du etwas anderes?«

Sie haben mich nicht gekriegt

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