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Farbball

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»Du spielst rote Position! Term, du darfst dein Areal nicht verlassen«, rief ihm sein Mitspieler Karol zu. Karol war sauer, dass Term beim Farbball über die Markierungen gerannt war. Es gab rote Areale in der Mitte des Spielfelds, von dort aus konnte der Spieler den Ball an die grünen Sprinter werfen, die auf langen Geraden an den Seitenfeldern aktiv waren, oder selbst versuchen auf das gegnerische Tor zu werfen. Vor dem Tor waren zwei gelbe Areale, in denen Verteidiger standen und versuchten den Ball zu fangen. Einen Torwart gab es nicht. Der Vorteil der grünen Sprinter war, dass sie näher an das gegnerische Tor kamen als Spieler in den roten Arealen. Spieler aus den roten Feldern durften in die roten Felder des anderen Teams und in die grünen Außenbahnen. Aber auf den grünen Außenbahnen standen immer flinke Spieler, die schnell die Distanz von einem Ende des Spielfelds zum anderen überwinden konnten. In den gelben Arealen war niemand erlaubt, dort standen nur die zwei Verteidiger.

»Die Chance war gut, ich musste es versuchen«, erwiderte Term wieder zurück im roten Feld seiner Mannschaft. Er war aus dem roten Feld ganz vorne am Ende des Rechtecks ins grüne Feld gesprungen und nach vorne gesprintet. Er hatte dafür den eigenen grünen Sprinter übergangen. Normalerweise kämpfte sich ein roter Spieler durch die Mitte nach vorne und warf aufs Tor oder passte auf grün. Selbst noch einen Spurt hinzulegen war nicht so klug, da der Wettkampf im roten Mittelfeld in der Regel bereits viel Energie kostete. Nun, in der Regel.

»Wir haben viel bessere Chancen, wenn wir uns an die Regeln halten. Dann gewinnen wir alle.« Karol wehrte gerade einen Angriff ab. Körperkontakt war nicht erlaubt, wenn der Gegenspieler den Ball besaß. Man konnte ihn nur beim Passen stören oder den Ball treffen. Da lag die Grauzone, denn im Kampf um den Ball waren gewisse Körperkontakte unvermeidbar, wurden aber nicht geahndet, wenn man gleichzeitig den Ball spielte.

»Wir gewinnen auch alle, wenn ich ein Tor werfe.« Term eroberte den Ball und passte ihn an den grünen Spieler. Es war Stefan, der oft gehänselt wurde, weil er als langsam galt. Die gegnerische Mannschaft hatte damit gerechnet und Stefans Torwurf wurde problemlos von den gelben Verteidigern geblockt.

»Siehst du, Karol, damit kommen wir nicht weiter.« Auch die Attacke der gegnerischen Mannschaft verlief im Nichts. Term schnappte sich den Ball bei der nächsten Möglichkeit und wich den roten Angreifern aus. Er war fast an der Linie, die das rote Mittelfeld und das gelbe Verteidigungsfeld voneinander trennte. Die Verteidigungsspieler verkürzten seine Wurfwinkel. Hinter ihm stand ein grüner Sprinter bereit, Lars. An der Ecke des roten Mittelfelds angekommen, wendete er sich zu Lars und deutete einen Pass an. Seine Spieler und die gegnerische Mannschaft hatten damit gerechnet und ließen von Term ab. Kraftvoll stieß er sich aus seiner Hüfte ab und sprang in einem Halbkreis auf die grüne Außenbahn. Anstatt einen Sprint nach vorne zu machen, legte er drei Schritte hin und warf auf das Tor. Der Ball landete im Netz. Die Verteidiger hatten ihren Blick auf den grünen Sprinter und dessen Bahn gehabt.

»Verdammt, Term«, brüllte Karol von hinten. Term grinste stolz. Das Spiel ging weiter.

»Du spielst wie ein bescheuerter Egoist«, fuhr ihn Karol nach dem Spiel an. Das Spielfeld befand sich in einer Wohnsiedlung. Es war mit einem grünen Netz umgeben und ausgiebig beleuchtet. Im Hintergrund summten die E-Wagen auf einer Stadtautobahn vorbei. Er und Karol zogen sich auf einer Bank in der Umkleide am Rande des Spielfelds um.

»Ich spiele nach meinen Fähigkeiten und mit vollem Einsatz für uns alle. Was maulst du mich an? Zermscheiße, wir haben gewonnen.«

»Ja, aber nur knapp. Es wäre viel sicherer gewesen, wenn du nicht so oft ins grüne Feld gewechselt wärst. Bestimmt vier deiner Angriffe hast du versiebt. Die Vorgaben machen schon Sinn, ich frage mich warum noch keine offizielle Regel eingeführt wurde, die auch das Übertreten ins Sprinterfeld verbietet.«

»Weil dann wirklich niemand mehr zusieht. Erst haben sie den Körperkontakt eingegrenzt, würden sie jetzt auch noch die wenigen spannenden Momente eliminieren, kannst du Farbball vergessen.« Term nahm einen langen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Deine Lösung ist also wirklich mit immer der gleichen Taktik und dem gleichen Angriff zu gewinnen?«

»Durch das gleiche Vorgehen wird wenigstens keiner benachteiligt. Lars ist sauer, dass du mehrmals in sein Feld eingebrochen bist. Das kannst du dir doch vorstellen.« Karol hatte damit natürlich recht, aber Term machte dies nicht, um Lars zu ärgern. Term wollte gewinnen.

»Es ist nicht Lars‘ Schuld, dass das Spiel Macken hat. Damit wir alle gewinnen, muss einer von uns etwas wagen und riskieren, sonst würde es immer noch Gleichstand stehen.«

»Das liegt an Stefan, der lahmen Sau. Ein Smartphone aus dem Museum läuft schneller als dieses Mädchen.« Philipp fühlte sich nur dann stark, wenn jemand anders dafür litt. Stefan war eines seiner Lieblingsopfer.

»Das ist keine gendergerechtes Ver…«, meldete sich Karol.

»Halt die Fresse, du System-Nazi.« Das brachte Karol zum Verstummen, denn er schnappte empört nach Luft. Term war baff von Philipps forschem Auftreten. Wusste er nicht, wie riskant seine Bemerkungen waren? Wenn das jemand vom Trio Infernale gehört hätte, wäre er sofort in ein Camp eingewiesen worden. Ganz egal ob Gender- oder Lebensberater – bei solchen heftigen Schimpfwörtern zog das Gesetz zur Erziehung asozialer Jugendlicher sofort.

»Stefan, kannst du mal ein Update fahren? Wir brauchen echte Läufer!«, schnauzte er seinen Teamkameraden weiter an.

»Wieso soll ich mich denn anstrengen? Jeder Spieler auf dem Feld weiß, wie sich die grünen Spieler bewegen. Das ist stupider Schwachsinn«, verteidigte sich Stefan. »Die Position, das ganze Spiel langweilt mich.«

»Schwachsinn. Du bist ein Mädchen. Ja genau Term, hör gut zu. Stefan gehört zu den Umoperierten. Er hat so viele Minuspunkte angesammelt, dass er strafoperiert wurde. Er war nämlich früher ein Mädchen. Ein langsames Mädchen. Nicht wahr, Stefanie?« In der Umkleidekabine grölten einige Jungs. Stefan schnaubte und packte seine Sachen zusammen.

Term lief es kalt den Rücken hinunter: War das wirklich möglich? Seine Genderbeauftragte Karla Schulze machte immer solche Andeutungen. Als Stefan sich anschickte zu gehen, zog ihn Term zu sich und flüsterte: »Können die vom Staat wirklich eine Geschlechtsumwandlung anordnen?«

»Du bist ein Idiot, Term.« Stefan stieß ihn beiseite und ging.

»Term ist als nächstes dran. Wenn er die tausend Minuspunkte sprengt, heißt er …«, Phillipp grübelte nach. »Was ist denn die bescheuerte weibliche Form von Term. Was ist das überhaupt für ein Name?«

»Termine«, schlug einer aus der Dusche durch den Wasserdampf hindurch vor.

Karol und er schwiegen bis sich das Gelächter verzogen hatte und wieder über ein neues virtuelles Game gesprochen wurde.

»Das lassen wir uns nicht gefallen! Ich werde eine Meldung schreiben.« Karol war wie aufgelöst. Seine Unterlippe zitterte.

»Uns? Vergiss den Idioten.«

»Beleidigungen, Drohungen und angsteinflößendes männliches Auftreten. Philipp, deine zuständigen ÖSP-Berater in deinem Wohnviertel werden davon erfahren.«

Term blickte sorgenvoll zu Philipp. Er konnte wirklich ein Arschloch sein. Aber er war, wie alle hier in der Pubertät oder hatte sie gerade erst hinter sich gelassen. Sie waren keine politisch korrekten Bürger hier, sondern hormongetriebene junge Erwachsene, die sich ausprobierten.

»Karol, lass das verfickte System aus dem Spiel«, fuhr Term ihn an.

Aber Philipp hatte auf Karols Drohung reagiert und baute sich vor ihm auf. Er trug nur ein Handtuch um die Lenden und plusterte seinen trainierten Oberkörper vor Karol auf. Karol wich an die Wand der Umkleide zurück.

»Gewalt wird sich nur noch negativer auf deine Punktebilanz auswirken. Vielleicht stecken sie dich endlich in ein …«

»Hör mal zu, du Moralscherge. Meine Mutter ist die Genderbeauftragte in meinem Viertel. Sie, der Lebensberater und der Nachhaltigkeitsberater sind beste Freunde. Mein Konto ist in guten Händen. Wenn du also meinst, Nachrichten schreiben zu müssen, werde ich dir die nächsten Male den Ball nicht mehr so freundlich aus der Hand nehmen. Ein Foul tut mir weniger weh als dir.«

»Ich verstehe das nicht, deine Mutter müsste dir doch dann die Grenzen aufzeigen … es ist doch ihr Job.« Karol war überfordert und machte dabei einen schwerwiegenden Fehler.

»Meine Mutter? Was sagst du über meine Mutter«, brüllte ihn Philipp an, so dass Karol Speichel ins Gesicht flog.

»Wir wollten gehen«, sprang Term dazwischen und drängte einen paralysierten Karol zum Ausgang.

Draußen zog Term sich ein frisches T-Shirt an und stopfte seine Sportschuhe in die Tasche. Er kannte Karol seit einigen Jahren. Seine Eltern und er lebten einige Straßen weiter in einem gleichgroßen Wohnblock. Die Mutter hatte eine hohe Position in einem Ministerium inne. Aber nicht in der AW, was eine mathematische Seltenheit darstellte. Seit vier Jahren gingen Karol und er in dieselbe Gemeinschaftsschule.

»Karol, was ist eigentlich aus deiner Bewerbung für das Biologieprojekt geworden?« Karol hatte sich um die Förderung durch ein Biologieunternehmen mit einem Beobachtungsprojekt von Bienen beworben.

»Bitte sage doch nicht ‚Biologieprojekt‘ «, ermahnte ihn Karol. Term bereute bereits, dass er Karol von Philipp weggezogen hatte.

»Ja, ja … böse Wissenschaft. Also was ist nun aus deinem Naturphänomen-Projekt geworden?« Biologieunterricht gab es nicht mehr in Deutschland. Die ÖSP hatte die alten Lehrbücher verboten, da sie voller gefährlicher Darstellungen moderner Medizintechniken gewesen waren und Menschen und Umwelt aus einer rein biologischen Perspektive betrachtet hatten.

»Wurde eingestampft«, sagte dieser ohne Bitterkeit. »Weißt du, so eine Förderung würde mir einen ungerechten Vorteil gegenüber dir und den anderen Schülern meines Alters verschaffen. Daher wurde ein Gesetz erlassen, dass sich Unternehmen aus den Schulen heraushalten sollen. Es schafft Ungleichheit, wenn eine Schule oder eine Schülerin oder Schüler stärker gefördert wird als alle anderen. Eine Schule im Saarland kann doch nichts dafür, dass es weniger Wirtschaftskraft vor Ort gibt wie zum Beispiel in Sachsen. Ich darf dafür in der Schule mehr Naturphänomen-Unterricht nehmen, so wie es alle Schülerinnen und Schüler machen können.«

»Mir ist es scheißegal, ob du einen Vorteil mir gegenüber hättest. Verdammte Zermscheiße, das hast du dir doch erarbeitet. Ich interessiere mich nicht für Biologie … ja, Biologie … und würde nie auf die Idee kommen, meine Zeit dafür zu opfern. Hättest du nicht in dem Unternehmen mit forschen können? Einen Lohn für deine Arbeit bekommen und wertvolle Erfahrungen machen können?« Karol nickte. »Und jetzt, jetzt hast du anstatt zwei Stunden Biologie – vier?«

»Ja, aber das macht Sinn. Stell dir mal vor, du findest keine Förderung oder bist an einer Schule, bei der die Ausstattung oder die Lehrer nicht so gut sind. So kann ich mich dann wie alle anderen Schüler meines Jahrgangs zu den gleichen Bedingungen um ein Studium der Naturphänomene bewerben. Dann wird niemand benachteiligt. Für jeden ist gleich gesorgt. Das finde ich gut.«

Term sah Karol entgeistert an. Wo war sein Feuer? Wo war der Mensch Karol überhaupt? Würden nur ein oder zwei Menschen mehr neben Karol sitzen oder stehen, würde er ihn nicht mehr erkennen, so farblos wirkte er.

»Findest du es denn nicht ungerecht, dass dir deine Chancen genommen werden?«

»Nein, wieso? Wir machen alle den gleichen Schulabschluss. Der Staat gibt bekannt, welche Fächer in welchem Umfang benötigt werden und dann bewerben wir uns. Wer in der ersten Runde nichts bekommt, kann entweder ein Semester warten und gemeinnützig arbeiten oder sich auf freie Fächer bewerben. Für die, die nicht sofort etwas bekommen, ist ja auch gesorgt. Ich bekomme meinen Platz früher oder später, egal ob das jetzt schon geklappt hätte mit meinem Projekt.« Karol fühlte sich in der Mittelmäßigkeit glücklich wie eine Kuh im Stall. Er müsste einfach sein Leben lang fressen, da der Bauer von draußen immer wieder Heu nachschmeißen würde.

»Weißt du schon, was du werden willst?«

»Barkeeper in Brasilien. Vorerst, danach mal schaun.« Term stand auf und sah Karol fest überzeugt an.

»Du bist gut. Abgesehen davon, dass lange Arbeitszeiten in der Nacht bei Alkohol und Zigarettenqualm bei uns verboten sind, kannst du nach Brasilien nur für den Urlaub, wenn überhaupt.« Karol lachte über seine Vorstellungen. »Außerdem müsstest du dafür bald mal dein Lebensunterstützerkonto ins Positive bringen, sonst gibt es nicht mal Urlaub in Lorret.«

»Was geht dich das an?«

»Nun, Erdogan hat uns zusammen eingeteilt. Er meinte, du sollst von mir lernen. Scheinst richtige Probleme zu haben, wie man seinen Dienst mit Freude verrichtet.« Langsam gewann Karols Gesicht Züge für Term. Obwohl er nicht dick und nicht unsportlich war, war sein Gesicht rund und langweilig. Krankhaft dicke Menschen gab es so gut wie nicht mehr, da Fast-Food-Essen extrem hoch besteuert und reglementiert wurde. Nur noch die Reichen erlaubten sich einen dreifachen Käseburger. Eigentlich wurden Fast-Food und andere Dickmacher nur noch in TV-Shows als Mutproben zur Unterhaltung angeboten.

Term ging durch eine Einkaufspassage nach Hause und wurde von Karols Gesicht verfolgt, das er bei den Shopbesuchern wieder zu erkennen glaubte. Sie alle sahen so langweilig gleich aus. Aber es waren Menschen wie Karol, die irgendwann Berater der ÖSP werden würden. Konnten Sie ihn wirklich zwangsoperieren?


Wie Schneemänner, die auf dem Bauch lagen, standen die E-Mobile auf dem großen Parkplatz der Werkstatt. Einige hatten dreckige, grau-schwarze Schrammen. Wind pfiff durch die Reihen aus Plastik und Leichtmetall. Es war kühler als normal für Anfang September. Term knöpfte seine Herbstjacke zu und ging an den Autos vorbei. Mindestens zwanzig kleine, hohe Tore standen nummeriert nebeneinander. In den Abfertigungshallen lagen die Werkzeuge schwer und ruhig auf den Arbeitsstationen. Es war nach neun Uhr und alle Mitarbeiter längst daheim. Warum Lassia ihm diesen Ort als Treffpunkt genannt hatte, war Term ein Rätsel.

Als er vor der Nummer 14 der Abfertigungshalle stand, schepperte es laut in der Ecke des Parkplatzes. Das Tor der Nummer 20 hatte sich ein wenig nach oben bewegt. Lassia lugte heraus und winkte ihn her. Er solle sich beeilen. Mit Schwung schlüpfte Term unter dem blaulackierten Tor hindurch.

Sein Blick fiel zuerst auf das weiße E-Mobil. Er kannte sich nicht gut mit diesen Fahrzeugen aus, aber es schien ihm umgebaut zu sein. Jedenfalls war der vordere Kofferraum offen und die Verkleidung rechts und links fehlte. An den Wänden hingen elektrische Schrauber und Bohrer, die mit blauen und schwarzen Kabeln an den Strom angeschlossen waren. Batterien und massive, graue Behälter mit gelben Totenkopfzeichen standen überall herum. Auf einem saß ein junger Erwachsener und fixierte Term mit einem starren Blick.

»Was weißt du über die Rentenformel?« Der junge Mann hatte enge, silberfarbene Jeans an und trug ein langärmeliges schwarzes T-Shirt. Seine Stimme klang heiß und abgenutzt. Sie erinnerte Term an ein gelöschtes Lagerfeuer. Er hatte kurzes, braunes Haar, das voller Haargel in alle Richtungen in Dreiecken spitz abstand. Zwei schmale, schwarze Streifen waren der Länge nach über seine Ohrmuschel tätowiert. Term hätte zu gerne selbst ein Tattoo. Aber er traute sich nicht, da bei seiner letzten Bemerkung zum Thema Tattoo am Familientisch seine Mutter dezent ausgeflippt war. Der junge Mann sah aus wie ein Krieger in Lauerstellung.

Term fing bedacht an zu reden: »Alle geleisteten Arbeitsjahre fließen in die Formel hinein, das Lebensunterstützerkonto, die aktuelle Lebenserwartung der Senioren … dann wird das eigene Lohnniveau hineingerechnet… und am Ende kommt heraus, wie lange jeder von uns arbeiten muss.«

»Nicht schlecht.« Daraufhin schwieg der junge Mann. Im schwachen Licht entdeckte Term dunkle schwarze Bartstoppeln auf seinem Kinn. Es war kalt in der Werkstatt. Term bemerkte noch einen weiteren Jungen in der Halle. Er hatte gerade sein PCPad angeschaltet und es strahlte seine braune Haut hellblau an. Ruhig betrachtete dieser ihn. Lassia stand bei dem Kerl, der immer noch auf der Tonne mit dem Totenkopf saß. Seine Blicke fühlten sich ähnlich durchdringend wie die von Dr. Bolz an. Nur mit mehr Feuer.

»Die aktuelle Lebenserwartung aller Senioren.« Ohne ein Verb in seine Äußerung zu geben, sprang er von seiner Tonne. »Sie wird tagesaktuell in das System als Gesamtsumme aller lebenden Alten eingespeist. Genauso wie jede geleistete Stunde des Individuums. Danach bemisst sich die Dauer unserer Lebensarbeitsstunden, bis wir frei sind. So lange gehören wir dem System … danach können wir machen, was wir wollen. Jedenfalls theoretisch, denn dann werden wir alle – jeder von uns hier – alt und gebrechlich sein und …«, er brach ab und lachte. »Und wir werden auf das System angewiesen sein. Wir werden lernen das System zu lieben, da es uns am Leben hält. Es lässt uns weiterexistieren, genauso wie wir unser gesamtes Arbeitsleben nur existiert haben.«

Lassia und der Junge in der Ecke nickten. Ihre Gesichter verhärteten sich zu bleichem Zement. Nur der Kerl brannte weiter. »Term, die älteren Generationen sterben nicht mehr aus. Die Relationen haben sich grundlegend verändert. Du und ich werden unser Leben geben müssen, damit die vielfache Anzahl ur-, ur-, uralter Mitbürger überabgesichert bis in die Ewigkeit leben werden. Wir haben die Balance verloren. Wir müssen die Waage wieder ins Gleichgewicht bringen, indem wir ordentlich daran rütteln und die Last auf der einen Seite verringern. Zurück zu einem natürlichen Gleichgewicht! Term, willst du dieses teuflische System zum Einstürzen bringen?«

Term schob sein Kinn nach vorne und sagte nichts. Lassia hob ihre dunklen Augenbrauen. Ihr ernster Blick versuchte ihn nach vorne zu schubsen. Der Junge am PC kniff seine Augen zusammen. »Ich habe nicht vor, mich darin einzurichten.«

»Er ist ein Killer!« Der Jubelschrei prallte an den Maschinen aus Eisen ab und brach die Spannung wie ein Presslufthammer auf. »Ein Killer, ich dachte es mir«, hauchte der Kerl ehrfürchtig. Term gefiel der Respekt des Kriegers, der ihm entgegenschlug, auch wenn er den Grund für den Respekt nicht mochte.

»Ich bin Roland.« Hart umarmte ihn Roland. Seine Lederjacke knirschte an Terms Nase und Ohren. »Lassia kennst du ja schon. Das dahinten ist Jack.« Der Afrodeutsche winkte ihm kurz zu, dann hatte er schon wieder sein Gesicht in seinen MiniPC gesteckt. Leise hörte Term die Tasten unter seinen Fingern.

»Du hast es wirklich getan. Wow.« Term fühlte sich größer, erwachsener als je zuvor, als Roland ihn lobte. »Ich wollte meinen zugeteilten alten Sack jeden Tag umbringen, aber ich wollte auch nicht ins Gefängnis gehen. Du bist einfach intelligenter. Einen wie dich können wir sehr gut gebrauchen. Schade, dass du in der AW so früh gefasst wurdest. Hättest bestimmt die NeoVivo-Station zum Stillstand gebracht. Ich habe den Polizeibericht gelesen, toll!«

»Woran arbeitet ihr hier drin?« Term steckte seine Hände in die Jackentasche. Lassia sah ihn jetzt ganz anders an. Anerkennend. Er wollte nicht, dass sie sah, wie ahnungslos er sich fühlte.

»Ich kann dir nicht alles verraten. Wir arbeiten wie eine Geheimagentenzelle. Jeder weiß nur das, was er wissen muss. Falls wir geschnappt werden … du weißt schon.«

»Logisch.«

Roland strahlte ihn für seinen Kommentar an. Er ballte beide Hände zur Faust, hob sie wie ein Sieger vor die Brust und drückte sie dann gegen Terms Brust. »Mit dir kann es losgehen. Wir haben nur auf dich gewartet. Jack hier hinten ist für die Daten, also die virtuelle Welt zuständig. Er hat ständig mehrere Spionagesoftware-Programme gleichzeitig in den großen Rechnern der Ministerien laufen. Den Grundriss des AWs hat er vor Jahren gestohlen. Mitsamt den geheimen Abteilungen. Lassia«, Roland schenkte ihr ein Lächeln warm wie eine rote Glut, »ist die Agentin. Sie kommt mit ihrem Lächeln und mädchenhaften Auftreten überall hin. Ihre Tritte sind aber alles andere als mädchenhaft. Sie bricht Knochen und zermatscht Weichteile, wenn sie will. Ha.« Alle drei nickten.

»Du? Was machst du?«

»Ich bin der Chef, der Techniker und der Mann fürs Grobe.« Rolands Grinsen wurde breiter und seine weißen Zahnreihen blitzen wie Messer. Wild entschlossen fokussierte er erst Term und dann Lassia und dann Jack. »Ich plane die Missionen. Hier in der Werkstatt baue ich uns alle notwendigen Geräte für unsere Missionen und wenn wir in Probleme geraten sollten … ich habe noch jeden Faustkampf gewonnen.« Sein letzter Satz klang kühl, wie eine Verheißung. Roland war nicht einfach überzeugt von sich, er glaubte an sich wie ein indischer Guru, der über brennende Kohlen lief.

»Leute, ich habe den Zugang gefunden«, drang Jacks Stimme aus der Ecke. Lassia huschte neugierig und aufgeregt zu ihm hinüber.

»Sieh es dir nur an.« Roland legte ihm seine Hand auf die Schulter und schob ihn zu Jack. Seine Finger lagen schwer auf Term wie eine Herausforderung. Ob er sich mit ihm anlegen würde?

Term stellte sich links von Jack hin. Gespannt blickten er und Lassia auf den Bildschirm hinab.

»Sagt euch das alte Internet noch etwas?« Jack fuhr einfach fort, ohne auf eine Bestätigung zu warten, denn er war bei seinem Lieblingsthema wie ein Sportreporter bei seinem Lieblingsteam. »Es gab Seiten nur für Videos, Seiten nur zum sozialen Austausch und Seiten nur für Bilder … unterschiedliche Anbieter, unterschiedliche Player … jedenfalls gab es da eine Website. Youtube. Da hat jeder, wirklich jeder, hochgeladen was er wollte. Mehrere hundert Jahre an Minuten bestehen nur aus Teenager, Studenten und einsamen Menschen, die in die Kamera sprechen und ihren Alltag oder das TV-Programm kommentieren. Einfach jedes Video ist dort gelandet.«

»Auch so nacktes Material«, unterbrach ihn Lassia.

»Nein. Dafür gab es eine eigene Seite. Irgendwann ging YouTube offline, als Videos nicht mehr auf einem Server oder bei einem Anbieter sein mussten. Unsere Moralwächter haben die Seite vergessen, da man nicht mehr aktiv darauf zugreifen kann. Aber …«, stolz grinste er Term an. »… der Datensatz, die alten Speicher sind physisch erhalten und ich konnte sie während einer Routinewartung anzapfen. Weißt du, mein Suchprogramm hat einfach solange vor den stillgelegten Datenbanken gewartet, bis die Wartung an der Reihe war. Das war gar nicht so einfach zu programmieren.«

»Jack-the-Crack, du bist einer der besten, keine Frage«, lobte Lassia ihn.

»Und was soll das Ganze? Die uralten Aufnahmen haben keine Multiperspektivität … man kann nicht einmal in die Aufnahme gehen und den Winkel verändern. Das ist ja wie Comics schauen.« Term hatte was wirklich Spannendes erwartet, nicht alten Datenmüll.

»Dann sieh dir das mal an.« Jack startete ein Video.

Oberkrüchtener Volksfest, Siggi geht ab. Toller Titel, dachte sich Term. Unter einem Zelt … einem sehr großen, weißen Zelt staute sich Rauch über den gelben Bierbänken. Es war schrecklich laut. Die Tonaufnahme hörte sich an wie eine Motorsäge auf höchster Stufe. Ein Junge redete in die Kamera. Es war nur »sau geil« zu verstehen. Er schnappte sich ein Bier eines betrunkenen Kumpels und exte die Hälfte. Das Bier floss an seinem Kinn herab und tropfte auf sein T-Shirt. Dann kletterte der angetrunkene Junge mit einem schiefen Blick auf eine Bierbank. Um ihn herum feuerten ihn seine Freunde an. Ein Mädchen rauchte und tanzte ausgelassen. Der Junge begann wie ein Wahnsinniger Luftgitarre zu spielen. Schweißperlen flogen von seinen Wangen, er lachte und sang wie ein Plüschhai auf Ecstasy.

»Ist das nicht irre?!«, staunte Jack wie in einem Museum, das das Alltagsleben in Westeuropa der 1970er Jahre ausstellte.

»Ja«, hauchte Lassia. »Wie sich die Jugendlichen verhalten dürfen, fremdartig.«

»Warum greift keiner ein, wenn die dort trinken? Oder rauchen? Es müsste doch längst ein Alarm ausgelöst worden sein, irgendein Sensor automatisch gefunkt haben oder eine Kamera die Bilder an die AW-Abteilung gesandt haben.« Term konnte sich gar nicht vorstellen, dass die Jugendlichen auf dem Video so ungestraft feiern konnten.

»Nein. Das war damals alles erlaubt. Mit 16 durfte man trinken und rauchen«, erklärte Jack. »Und auf Feste gehen, bei denen die Musik laut war, das Essen fettig und die Menschen unkontrolliert.«

»Das Rauchen ist mir egal. Das ist nichts für mich, auch wenn einige der Alten den Zigaretten nachtrauern. Aber wir dürfen nicht mehr als eine Flasche Bier in der Woche kaufen. Und wer das zu regelmäßig macht, bekommt Besuch vom Lebensberater.« Term verschränkte seine Arme vor der Brust.

Hinter ihnen knisterte es leise. Roland hatte sich eine Zigarette mit einem Schweißbrenner angezündet. Term verzog seine Nase. Es roch wie brennendes Heu. Genüsslich zog Roland an dem Glimmstängel.

»Woher hast dann du die Zigaretten, Roland?«

»Die sind illegal aus China.« Roland bot ihm demonstrativ die Zigarette an. Chinesische Schriftzeichen in Gold waren auf dem Papier abgedruckt. »Willst‘ auch mal? Habe ich unter der Ladentheke bekommen.«

»Nein, verlierst du damit nicht Rentenansprüche? Beim jährlichen Gesundheitsscan fliegt doch sowieso auf, ob du nachhaltig gelebt hast«, gab ihm Term zu bedenken.

Roland legte seinen Arm um Lassias Schultern und lachte ihn herzhaft aus. »Was ich nicht vorhabe anzutreten, brauche ich auch nicht einlösen. Lieber sterbe ich vorher an einer Raucherlunge.«

»Vorher fliegen deine ganzen Pläne auf«, regte sich Lassia auf. »Jeder Schluck, jede Zigarette bringt einen Minuspunkt mehr auf deinem Konto und irgendwann wird jemand von der ÖSP oder AW nachsehen. So wie bei Term hier. Das alles wegen ein paar idiotischen Zigaretten. Und stinken tun sie auch noch!« Genervt sahen sich Lassia und Roland an, sie führten diesen Streit nicht zum ersten Mal.

»Warum arbeitest du dann jetzt in dieser Werkstatt?« Term hätte nicht gedacht, dass ein Rebell, für den Roland sich ausgab, einfach so seiner Alltagsarbeit nachgehen würde.

»Weil es mir dient.« Rolands Stimmung schlug um und er sah ihn übel gelaunt an – wie ein Boxerhund aus einer zu kleinen Hundehütte. »Diese verdammten Miniwagen hier brauche ich für meine, unsere, Pläne. Dieser hier«, er trat gegen das Aluminium, so dass eine Delle zurückblieb, »war mal eine MiniHealthWagen. Da konnte man drinnen scheißen, wurde gewaschen und gleichzeitig der Blutzucker gemessen. Da liegt das Toilettensystem.« In der Ecke lag tatsächlich eine Kreuzung zwischen Bürostuhl und Toilette. Staubbedeckte Kabel und Leitungen hingen aus den Armlehnen und Sitzpolstern herab.

»Jack, wie lange haben wir noch bis es auffällt?«

»Ein paar Minuten. Ich habe die Kameras jetzt schon eine halbe Stunde mit dem Feed von letzter Woche gefüttert. Wenn wir längere Zeit falsche Bilder liefern, könnten wir durch Abgleichungen mit anderen Kameras auf der Straße auffliegen.« Jack faltete sein Pad zusammen und steckte es in seine Jackentasche.

»Okay, wir hauen ab. Term.« Rolands Augen sprangen ihn an, groß und dunkel wie die Rückseite des Monds. »Kein Wort. Nicht zu deinen Eltern. Nicht in der Schule, um wichtig zu wirken.«

»Darauf gebe ich eh nichts …«

»Ruhe«, unterbrach Roland ihn. »Lassia bringt dir deine Aufgabe, wenn es soweit ist. Wann wir uns wieder treffen, erfährst du ebenfalls über sie. Du gehst zuerst raus und gib Gas, dass du schnell vom Gelände runterkommst.« Nachdem Term unter dem Garagentor durchgeschlüpft war, hetzte er zwischen den parkenden Wagen hindurch. Das Blech und Eisen verlieh der nächtlichen Kälte einen stechenden Biss.


TERM

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