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Das Institut für Allgemeine Wohlfahrt
ОглавлениеDas Institut für Allgemeine Wohlfahrt, oder AW, war mehr als nur ein Hochhaus, es füllte einen ganzen Block der Stadt aus. Das Gebäude sah wie eine abgebrochene Treppe aus, deren letzte Stufe steil in den Himmel ragte. Term fühlte sich etwas an eine Pyramide erinnert, bei der die Treppenstufen aber nur in drei Himmelsrichtungen verliefen. Die Vorderseite war flach und aus Glas. Auf dem Glas lag eine feine Nanoschicht, die die Wand des Hochhauses in einen gigantischen Bildschirm verwandelte. Der dunkelbraune, schwarz-gepunktete Marmor wirkte farblos unter den grauen Wolken, die den Himmel bedeckten. Lange, schmale Fenster liefen wie Striche die Außenwände hinauf. Unter dem Logo des Instituts, zwei skizzenartigen Wellen, wurde der Selbstdarstellungsfilm der AW abgespielt. Gesunde Mütter hoben Kleinkinder in die Luft und sportliche Senioren mit wallendem grauem Haar fuhren Fahrrad oder übten sich im Extrembergsteigen. Sich selbst fand Term in der Werbung nicht wieder.
Term las den Online-Eintrag über das AW. Das Institut umfasste das ehemalige Gesundheitsministerium, das Sozialministerium, das Institut für Senioren und Rentner, die Teile des Wirtschaftsministeriums, die für die Gesundheitsbranche zuständig gewesen waren, mehrere ehemals universitäre Forschungszentren und weitere Einrichtungen unter einem Dach. Da die Gesundheit eines Menschen von seinem sozialen Umfeld, seinem Arbeitsplatz, seinem Einkommen, seinem Glücks- und Zufriedenheitsfaktor und tatsächlich auch von seiner körperlichen Gesundheit abhing, war die AW als Fusionsprodukt entstanden. Nicht auf einen Schlag, sondern schleichend, so wie sich alle großen Veränderungen vollziehen. Term verfolgte die Zeitlinie der Fusionen online. Erst war der Name des Instituts immer länger geworden: von Ministerium für Gesundheit und Soziales mit besonderer Achtung der Senioren und der Wohlfahrt, oder MfGuSmbASuW, war im letzten Schritt die AW geworden. »Von Kindesbeinen bis zum hohen Alter sorgt sich die Allgemeine Wohlfahrt um Dich!« Term verdrehte die Augen. Der Spruch seiner Kindergärtnerin war ihm im Gedächtnis geblieben wie ein Trojaner im Computer.
»Bitte lege das Armband um.« Eine freundliche Empfangssekretärin reichte ihm ein knallblaues Plastikband mit eingebautem Chip. »Es speichert alle Informationen und wird dich immer in die richtige Etage und ins richtige Zimmer bringen. Du darfst es erst ablegen, wenn du das Haus wieder verlässt. In die dafür vorgesehene Schublade.« Sie lächelte ihn aufrichtig freundlich an. Term wollte zwar nicht zu dem Termin gehen, aber er fühlte sich gegen seinen Willen willkommen.
Piep. Term sah die Sekretärin an. Sie deutete strahlendweiß lächelnd auf sein Armband. Auf einem kleinen Display war ein Pfeil. »Einfach folgen«, munterte sie ihn auf. Mit überraschend wenig Wartezeit erreichte er das Behandlungszimmer von Dr. Bolz. Das System funktionierte perfekt. Term ging leise in den Raum. Er war aufgeräumt. Nur ein Tisch und zwei Stühle standen in der Mitte des hellen Raums. Fenster gab es keine so tief im Gebäudekomplex der AW, aber Wanddisplays simulierten das Gefühl als säße man in einer Landarztpraxis. Die täuschend-echten Displays sahen aus wie Fenster aus Holz, durch die Term auf grüne Wiesen mit gelben Sonnenblumen blicken konnte. Die grauen Wolken der Stadt verflüchtigten sich aus seiner Erinnerung. Es war unglaublich hell in allen Ecken des Raumes, sodass Terms Blick auf ein kleines Pad auf dem Tisch fiel. Es musste das Pad des Psychiaters sein. Schnell ergriff er es und berührte es mit seinen Fingern. Akte: Term, 09777321.
»Die meisten überprüfen erst die Echtheit der Fenster. Einige, eher unterwürfige Charaktere setzen sich auf ihren Stuhl und warten. Während sie warten, beäugen sie misstrauisch das Pad des Doktors. Man kann richtig ihre Gewissenskämpfe sehen, ob sie in den Unterlagen lesen sollen. Ich stoppe dann immer die Zeit, wie lange sie brauchen, um den Konflikt zu lösen.« Das strahlende Licht in der Ecke links neben der Tür wurde schwächer und Dr. Bolz trat aus dem Licht heraus. Für Term hätte er ein gutes Alien abgegeben. Er war unglaublich lang, über zwei Meter hoch, und dünn. Sein Kopf saß auf seinem dürren Hals wie eine Melone auf einer Sprungfeder. Eine winzige, eckige Brille aus Messing lag auf seinen Gesichtsfalten. Er hatte etwas Haar, nicht besonders viel. Seine rechte Hand lag auf seiner linken und er ging etwas gebückt. Dunkle Blutadern hoben sich aus der pergamentfarbenen Haut hervor. Er machte auf Term einen freundlichen, fast träumerischen Eindruck, als er zum Tisch ging. »Du hast nach zwei Sekunden zu dem Pad gegriffen.«
»Ich bin Dr. Frederik Bolz. Du kannst mich Fred oder Erik nennen. Oder beides. Hihi.« Sie setzten sich. Bolz‘ Blick scannte ihn sanft wie ein Sicherheitsgate an den Flughäfen nach verstecktem Metall und Sprengstoff.
»Das Pad bitte.« Term legte es zurück auf den Tisch. Dr. Bolz schenkte dem Gerät keine Beachtung.
»Warum willst du alte Menschen wie mich umbringen?« Seine Frage überrumpelte Term wie eine lautlose Lawine.
»Ich will euch nicht umbringen! Ich will nur, dass ihr mich in Ruhe lasst«, fuhr es aus ihm heraus.
»Du siehst dich in einer Abwehrhaltung, in der Verteidigung. Interessant. Daher greifst du zu diesen extremen Mitteln.«
»Ich greife nicht an … ich … hören Sie, Sie alter Sack«, der alte Sack reagierte überhaupt nicht. Die Beleidigung registrierte nicht in den Gehirnzellen des Psychiaters. Alles, was Term sagte, waren nur Datensätze, die Bolz auswertete, »Ich will nur leben. Mein eigenes Leben führen.«
»Aha, die benannten Wutausbrüche sind also noch vorhanden. Kein Mitgefühl für Sorgen und Nöte alter Mitmenschen. Starke Abneigung gegenüber älteren Menschen weiterhin sichtbar. Term, du stehst gerade am Anfang deines eigenen Lebens. Wenn du demnächst 17 wirst, darfst du Auto fahren, Verträge alleine abschließen und ein Jahr später auch wählen. Du hast noch zwei Jahre verpflichtend als Lebensunterstützer vor dir, wobei ich dir empfehlen würde auch in Ausbildung oder Studium mit dem Programm freiwillig weiterzumachen. Mit einem Jahr Extrastunden könntest du dein Konto wieder aus dem Negativen auf null bringen. Dann kannst du mit 85 in Rente gehen.«
Term sah Bolz irritiert an. Die Rente kümmerte Term überhaupt nicht. Doch der Psychiater fuhr unbeirrt fort: »Aufgrund deiner derzeitigen Situation macht es Sinn, kooperative Strategien zu entwickeln, um deine Minuspunkte abzubauen. Stattdessen verfolgst du weiterhin ein aggressives Verhalten. Was willst du damit erreichen?« Diesmal klang der Psychiater neugierig.
»Ich habe nichts verbrochen«, hielt Term an seiner Lüge fest. Er hatte vor seiner Mutter gelogen, er würde jetzt nicht vor einem Psychiater zur Wahrheit finden. »Deshalb brauche ich mich auch nicht zu ändern.«
Dr. Bolz schwieg. Term hasste die Ruhe im Raum. Und die Helligkeit. »Computer: Licht aus.«
Es wurde stockfinster. Dr. Bolz sagte nichts. Term hörte ihn nicht einmal atmen. Aber er war sich nicht sicher, ob der uralte Doktor vorher überhaupt geatmet hatte. Warum reagierte der Doktor nicht?
»Term, ich bin 120. Ich habe seit … langem künstliche Augen. Ich kann im Dunklen sehen. Hat dich Herr Hoffmann schlecht behandelt?«
»Nein. Er war ein einfacher, alter Mann. Er mochte es Modelle zusammenzustellen. Sie wissen schon, diese 3D-Modelle. Manchmal hat er mir auch eine Stunde gutgeschrieben und mich früher gehen lassen. Er war nicht so ein Arschloch, wie Luks jetzt.«
»Warum hast du dann Hoffmann umgebracht?«
»Zermscheiße, sind Sie ein Roboter oder ein Psychiater? Wiederholen Sie doch nicht immer denselben Müll. Ich habe Ihnen das schon beantwortet.« Term wollte diesen bescheuerten Dr. Bolz aber richtig treffen. »Wie menschlich sind Sie überhaupt noch? Sie haben künstliche Augen. Ein 120 Jahre alter Mensch hat in der Regel einige organische und mechanische Ersatzeinheiten in seinem Organismus … wo ist Ihre Energiezelle, die sie antreibt. Ihr Geist kann es doch nicht mehr sein.«
»Willst du wissen, wo die Energiezelle ist, um mich auch umzubringen?« In der Redepause hörte Term tatsächlich die im Körper integrierte Lungenbeatmung arbeiten. Es klang, als wenn man auf ein Luftkissen trat. »Term, unterschätze niemals den Überlebenswillen eines Menschen.« Jetzt klang er wie ein alter Lehrer. Term glaubte nicht, dass er den Psychiater getroffen hatte. »Unser Überlebenswille stellt uns Menschen vor schreckliche Entscheidungen.«
»Welche Entscheidung haben Sie getroffen?«
»Computer: Licht an.« Term hörte etwas in den Augen des Doktors summen. Die Rezeptoren mussten sich umgestellt haben. »Na, ich habe mich fürs Überleben entschieden. Wie es jeder machen würde.«
»Was werden Sie mit mir machen?« Term vermisste die Dunkelheit.
»Empathietraining. Solltest du wirklich unschuldig sein, musst du dennoch lernen, an unserer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft teilzuhaben. Jeden Mittwochnachmittag, hier im AW. Die Termine sind in deinem persönlichen Kalender als verpflichtend vermerkt. Du kennst die Regeln: Erscheinst du zu spät oder gar nicht, gibt es Strafpunkte und du wirst zwangsabgeholt.«
»Ich hasse Sie.« Dr. Bolz zuckte zurück. Term sah seine Hand an. Sie hatte sich nicht bewegt. Er war ruhig geblieben. Umso mehr machten ihn seine Worte Angst. Er wollte nicht hassen. Er ließ seine Hände unter den Tisch fallen und zog sich das Armband ab.
»Kein Wutausbruch? Keine Attacke?« Der Psychiater klang geradezu fasziniert von ihm. Term fand es abstoßend, wie ein Objekt seziert zu werden. »Ich muss deinen Fall noch weiter studieren. Ich werde dafür meine Kollegen konsultieren. Es lässt sich alles erklären, einordnen und kurieren. Keine Sorge.«
»Nein. Die Wutausbrüche sind eine Fehldiagnose.« Term hatte genug und stand auf. »Machen Sie es gut, Sie rostiger Roboter.«
»Das Gespräch beende ich, du Flegel. Ich bin kein Roboter oder Android, ich habe nur kybernetische …« Term ging einfach. Oh, er kannte den Unterschied zwischen einem Cyborg und einem Androiden. Ein Cyborg war ein Mensch, der zu großen Teilen aus einer Maschinen bestand. Ein Android war dagegen ein Roboter, der wie ein Mensch wirkte. Zügig ging Term durch den Korridor und studierte die Schilder vor ihm. Servicezentrale für Lebensunterstützer, Kardiologisches Zentrum, Geriatrie, Hoch-Geriatrie, Mechanische Erweiterungen, Partialgenetik, Institut für Biotechnologie.
Biotechnologie klang spannend. Stabile, weiße Gleittüren verschwanden in der Wand, auf denen in Rot der Name der Abteilung stand. In einer weiten Halle standen gläserne Ausstellungskästen mit Körperteilen und Gliedmaßen von Menschen. Term bestaunte eine Hand, die bis zum Schultergelenk reichte. Feine Blutäderchen und halbfertige Knochen ragten aus dem Oberarm heraus und waren in der Leere des Kastens deutlich zu erkennen. Erster geklonter Arm (funktionsfähig), 2028, Dr. Miroslav Kuzter. In einem anderen Kasten waren Ohren und Nasen zu sehen in allen Farben und Formen. Mehrere rote Muskelstränge hingen in einem anderen Kasten, so rot als würde gleich Blut von ihnen tropfen. Terms Blick fiel schnell auf eine holographische Simulation in der Mitte des Raumes: Partielle Gewebe- und Organerneuerung. Zahlen, Formen und Daten von Gensträngen hingen in der Luft. Eine Gensubstanz mit dem Namen NeoVivo wurde in der Simulation einer alten Dame gespritzt. Innerhalb weniger Tage regenerierte sich die Haut bis hinab in die Blutbahnen. »Minus 20 Jahre« stand unter dem Vorgang.
»Zu wem gehörst du, Junge?« Zwei Ärzte waren durch ihre Abteilung gelaufen und auf ihn aufmerksam geworden.
»Meine Oma wird hier behandelt«, log Term.
»In welchem Zimmer liegt sie denn?« Term wusste keine Antwort. Er hatte nicht auf die Zimmerbezeichnungen geachtet. »Wieso hast du kein Armband an?« Sein Kollege sprach etwas in seinen Kommunikator. Term lief los.
Hinter ihm stürmten zwei Sicherheitsmänner in grauen Uniformen in die Halle. Die roten Wellen der AW waren auf ihrer Brusttasche eingestickt, darunter standen ihre Namen. Der kleinere von beiden hielt Terms Armband in der linken Hand. »Stehenbleiben! Wieso hast du das Armband in Dr. Bolz Zimmer versteckt?«
Term war flink. Er schoss durch die Korridore und ließ Krankenbetten neben sich liegen. Schwestern und Pfleger sahen ihm nur kurz nach, sie hatten zu viel Arbeit. Die Sicherheitskräfte blieben an ihm dran. Sie waren gut in Form, denn nach jeder Ecke, die Term nahm, hatte er das Gefühl, dass sie näherkamen. Er lächelte. Er hatte sowieso kein Ziel. Er wollte sich selbst nur testen. Mit Wucht schlug Term auf einen dicken, roten Knopf. Langsam öffnete sich eine dicke, silberne Tür vor ihm. Angespannt packte er in die Öffnung und versuchte die Tür aufzuschieben. Ohne Erfolg. Sobald der Spalt zwischen Tür und Wand groß genug war, zwängte er sich hindurch. Zwei große, dumpfe Schläge verrieten ihm, dass die Wachmänner die Tür erreicht hatten und dagegen schlugen. Langsam öffnete sie sich weiter. Term hatte keine Zeit.
Wie schockgefroren blieb er stehen und nicht, weil der Raum deutlich kühler war als der Rest des Gebäudekomplexes. In Todesstille saßen alte und kranke Menschen angeschlossen an eine Art Dialysestation. Grüne Schläuche waren mit ihren Schlagadern verbunden, einmal an der linken und einmal an der rechten Hand. Sie schienen zu schlafen, aber ihre Augen standen offen. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Körper bebten und zitterten, wie trockene Puddinghaut. An den Stationen stand NeoVivo und das Mittel floss durch die grünen Schläuche in ihre Körper.
»Komm da sofort raus mein Junge. Die Temperatur darf nicht ansteigen und hier dürfen keine Keime hineingelangen.« Dafür war es wohl zu spät, dachte Term, denn ein rotes Alarmsignal leuchtete an der Wand neben der Tür. Terms Hände waren blitzschnell hinter seinem Rücken und im Polizeigriff stieß ihn einer der Wachmänner aus dem Raum. Er trug farbige Schläfenbemalung, die vor einigen Jahren bei manchen Männern in geworden war. Bei ihm waren es zwei dicke, grüne-gelbe Streifen, die von seinen schwarzen Augenbrauen ausgingen. Sein schwarzes Haar war auf einen Zentimeter kurz rasiert.
»Was hast du dir gedacht? Warum rennst du fort?« Term reagierte nicht auf die Fragen. Ärzte kamen angestürmt. Wer die Tür geöffnet habe, wollten sie wissen. »Gefährlich, gefährlich«, warfen sie ihm und den Sicherheitsmännern vor. »Kontaminationsgefahr sehr hoch … Keime müssen umgehend zerstört werden.«
»Das ist ja gruselig«, bemerkte Term über die NeoVivo-Stationen.
Ein Arzt beugte sich zu ihm herunter. Es war einer der wenigen jungen Ärzte. Er sah ihn ohne Vorwürfe an. »Du glaubst, das hier ist gruselig? Du hast noch gar nichts gesehen. Jetzt raus mit ihm!«