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Der 99. Geburtstag

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Wenn er jetzt Luks mit voller Wucht … ach mit einem leichten Kick von der Seite gegen die Schultern treten würde, müsste er nicht zum Geburtstag. Term wollte ihn wegkicken, allein damit er nicht neben diesem alten Monster stehen würde, das ihn ständig zu Recht wies und korrigierte.

»Nä«, krächzte Luks, »wir können stolz sein auf unser System. Niemand hungert und die Busse und Bahnen sind pünktlich. Das schaffen die meisten Länder in Afrika immer noch nicht.« Term hatte dem Scheusal auf seine Frage, wo er hinreisen wolle, ehrlich geantwortet. Sofort erhielt er Belehrungen von Luks, der sein Leben lang die Welt bereist hatte. Etwas, das Term niemals möglich sein würde. »Fahr nach Portugal, Griechenland oder hoch nach Dänemark und du wirst einen schönen Urlaub erleben. Dort gibt es keine bösen Überraschungen und nur Essen, das vorher auch nach ökologischen und gerechten Kriterien zertifiziert, geprüft und zubereitet wurde.«

»Dort gibt es auch keine guten Überraschungen«, entgegnete Term. Der Tritt hätte ihn ins Gefängnis gebracht. Bei einem so alten Menschen konnte die leichteste Erschütterung an Schulter, Torso oder sonst wo zu gebrochenen Rippen und Hüften führen. Die uralten Knochen mussten morsch wie gammlige Sumpfäste sein. »Sie waren schon lang nicht mehr in Afrika. Dort haben die Menschen …«

Ein kühler Lufthauch entwich aus dem Bus, der leise wie eine Schnecke an die Haltestelle gekrochen war. Term konnte ganz schwach die Kompressoren hören, als der Bus standardmäßig auf Gehsteigniveau abgesenkt wurde. Zwischen Bus und Bordstein presste sich fester, schwarzer Plastik-Elastostoff. Schnell wie ein Airbag schoss er unter der Eingangstür hinaus und füllte die gefährlichen Stolperlücken.

»Dort haben die Menschen noch quietschende Busse. Die sind erbärmlich laut und die Luft verpestet. Es kostet einen bestimmt ein gutes halbes Jahr an Leben, wenn man sich in Afrika oder Asien aufhält. Das kann die AW nicht kompensieren und daher ist es zu Recht verboten. In diese Länder reisen ist ja wie freiwillig Gift essen und atmen. Wer macht das schon?« Luks schob seinen Lebensbaum in den Bus und setzte sich auf die Unterstützungsplätze. Dort stöpselte er seinen Lebensbaum an die Energieversorgung an und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er sah aus, als wäre er tot.

»Früher wäre ich die Strecke gerne mit meinem Auto gefahren. Wir wären in einer Viertelstunde bei Jacqueline. Ich hatte einen Ferrari. Der war lang und knallrot. Die Zylinder haben eine unglaubliche Kraft entwickelt. Junge, bist du schon mal 200 km/h gefahren?«

»Nein. Ist verboten.«

»Wann ist denn das passiert?« Luks klang ehrlich überrascht. Aber nicht überrascht genug, um eine Regung in seinem Gesicht zu produzieren. Term war sich nicht sicher, ob das seine Gesichtsmuskeln überhaupt noch hergaben.

»Bei hohen Geschwindigkeiten ist der Schaden an den menschlichen Körpern bei einem Unfall zu hoch. Sie wissen schon, dann kann man keine Organe mehr retten.« Term blickte aus dem Fenster. Sie würden für die kurze Strecke eine gefühlte Stunde brauchen. Aber der Bus durfte nicht schneller als 30 km/h fahren, da er fast ausschließlich von alten Menschen genutzt wurde. Außerdem dauerte das Ein- und Aussteigen. Es dauerte.

»Hä … klingt vernünftig.« Dann knickte Luks Kopf nach vorne und er öffnete mühsam seine Augen. »Vernunft ist wichtig. Der Verbrauch meines Ferraris war zu hoch. Auch der Lärm war zu hoch und für die Materialien wurde … wurde irgendein Volk irgendwo ausgebeutet. Das war schon okay, dass die von der Partei Sportwagen verboten haben.« Luks klang, als wäre es überhaupt nicht okay gewesen. »Nicht einmal einen Kleinwagen durfte ich mehr fahren. Nur diese Mini-Elektromobile, bei denen die Route vorher einprogrammiert wird. Zeitung soll man dann lesen oder das Mobi-TV schauen. Das ist doch kein Autofahren. Da, schau sie dir an.«

Am Bus flitzten ein paar Mini-Es vorbei. Wie kleine silberne Fische machten sie einen engen Bogen um den dicken, dunklen Bus, der sich wie ein Wal durch die Wohngebiete schob. Term mochte die Fahrzeuge. Wenn man den Bordcomputer ausschaltete, konnte man die Mini-Es sogar selbst steuern. Das machte Spaß … war aber nicht erlaubt. Er zuckte Luks gegenüber die Schultern, er hatte diesen Verbots- und Besserwisserwahn nicht begonnen. Luks tat ihm nicht leid. Term kannte es nicht anders.

»Wie lang muss ich denn bei Ihnen bleiben?« Seine Blicke folgten den kleinen Flitzern, die jetzt vor dem Bus fuhren. Würden sie noch schneller fahren, würden die Kameras sofort ihre Geschwindigkeitsübertretung aufzeichnen und ein paar Stunden später eine elektronische Nachricht an den Postkasten der Fahrzeughalter senden.

»Bis die Feier vorbei ist.«

Jetzt legte Term den Kopf in den Nacken und stöhnte laut. »Feier? Sie werden Kuchenkapseln zu sich nehmen und über längst vergangene Zeiten reden, als Sie noch laufen und lachen konnten. Wenn Sie sich überhaupt noch an alles erinnern können.«

»Du hast gerade mal 16 Jahre in deinem Kopf gespeichert und schon die ersten vier bis sechs Jahre verloren. Die Babyjahre verliert der Mensch immer zuerst. Warte ab bis du acht oder neun Mal so viele Erinnerungen hast.«

»Ich hätte lieber Erlebnisse als Erinnerungen.« Luks gab nur ein verächtliches »Hä« von sich.

Term war der erste aus dem Bus. Er sprang über den schwarzen Plastik-Elastostoff und half Luks beim Aussteigen. Die drei silbernen Flitzer hatten auch gehalten. Term beobachtete, wie eine gläserne Seitentür nach oben klappte und ein Mädchen in seinem Alter sich athletisch mit den Beinen voran aus dem Wagen schälte. Sie war etwas über einen Meter achtzig groß, trug einen silber-glänzenden Jeansrock und ein schwarzes Oberteil. Ihre feinen, schwarzen Haare gingen ihr bis zu den Schultern und waren gestylt. Term musste an die Federn eines Raben denken. Das Mädchen steckte ihren Kopf zum Abschied in die Fahrertür und ging dann zielstrebig auf ein großes Restaurant zu.

Das Restaurant »Zum Liliengarten« war ein breites, einstöckiges Gebäude mit zwei Flügeln an der Ost- und Westseite. Es war weiß gestrichen und hatte großzügige Fenster, die von hellem Holz umrahmt waren. Die Kellner trugen weiße Handschuhe und dunkle Jacketts. Ihre Augenbrauen waren genauso gerade wie ihre schmalen Münder. Die Geburtstagsfeier war leicht zwischen den wenigen älteren Pärchen zu finden, die hier still wie Statuen vor sich hin aßen.

»Gabriela. Du siehst so gesund aus wie vor zehn Jahren«, versuchte Luks sich in einem Kompliment.

Die Angesprochene war tatsächlich die vitalste aller Anwesenden. Term wusste, dass sie auf die hundert Jahre zu ging, da er die Einladungskarte gesehen hatte. Von ihrem Gesicht her hätte er es nicht erschließen können. Auch nicht von ihrem Gang. Sie bewegte sich wie eine gesunde 75-Jährige. Das war beachtlich. Ab der 90 spätestens schob die Mehrheit der Senioren Rollatoren oder einen Lebensbaum. Aber Gabriela in rotem Blazer und gelockten braunen Haaren zeigte nicht die offensichtlichen Folgen des Alters.

»Raphael. Schön, dass du dein Home-Entertainment-Studio für mich verlassen hast. Das ist ja eine richtige Ehre.« Nach einer äußerst vorsichtigen Umarmung, ohne dass sich beide tatsächlich berührten, setzte sich Luks zur Gesellschaft.

»Nun sag schon, wie machst du das?«, bohrte Luks mit seiner üblichen Penetranz nach.

Stolz hob Gabriela ihr linkes Armgelenk und schob den Ärmel des roten Blazers nach unten. An ihrem Unterarm blinkten grüne und gelbe Lichter. Der dürre Knochen, der ihr Arm eigentlich war, wurde von silbernem Metall und grauem Plastik eingefasst. Es war ein überdimensionaler Unterarmreif, der vom Handgelenk bis zum Ellenbogen mit ihrem Arm verschmolzen war. Ein Raunen ging durch die versammelten Gäste, ein sehr leises.

»Ein ElderCareManager, oder ECM. Dieser schicke Armreif regelt all meine Körperfunktionen. Jede Nahrungsaufnahme, jeder Stoffwechsel … einfach alles wird gespeichert und ausgewertet. Jede geringfügige Änderung bis hinunter zum Sauerstoffgehalt und den Enzymen wird so gehalten, als wäre ich 75. Das Gerät macht im Endeffekt dasselbe wie eure Lebensbäume und die täglichen Scans, nur rund um die Uhr. Dadurch, dass der ECM mit meinen Nervenbahnen und Blutbahnen verbunden ist, bekomme ich noch genauere Daten geliefert und die Software reagiert sofort. Im ECM sind genug Medikamente und Stoffe für eine Woche gespeichert. Ich habe tatsächlich dieselben Biowerte, wie mit 75 Jahren. Ist das nicht fantastisch?«

»Aus dem Weg.« Neben ihm stand das schwarzhaarige Mädchen. Ihre schmalen Augen blickten ihn angenervt an. Term sprang zur Seite.

»Aber ich habe kein Alzheimer.« Das sonderbare Mädchen schob eine alte Dame zum Tisch, ohne auf Term Rücksicht zu nehmen.

»Sicher, Frau Gonelli.« Das Mädchen hatte eine schöne Stimme, aber sie klang flach wie ein Stein, den man übers Wasser springen ließ. Sie betonte wenige Vokale, aber diese besonders.

»Ich hatte immer ein anderes Mädchen …«, schnell wurde die alte Dame im Versorgungsstuhl unterbrochen.

»Frau Gonelli freut sich heute hier zu sein. Der Motor muss ausgefallen sein, deshalb habe ich sie hergebracht«, ergriff das Mädchen das Wort. Gabriela nickte freundlich und deutete auf eine Lücke am Tisch.

»Ich könnte schwören, dass er heute Morgen noch ging.«

»Ja, ja, Frau Gonelli. Manchmal geht ein Teil kaputt und schon geht nichts mehr. Aber dafür haben Sie ja mich.« Term beobachtete fasziniert wie das Mädchen die alte Frau mit breitem Mund anstrahlte und den Kopf leicht zur Seite neigte.

»Aber ich kenne die Menschen hier gar nicht«, versuchte es die alte Frau erneut.

»Wen bringst du mir da, Mädchen«, wollte die Jubilarin wissen. Ihre grauen Augenbrauen schwangen nach außen und dann über ihrer Nase nach oben und sie funkelte das sonderbare Mädchen an.

»Erinnern Sie sich nicht mehr an Frau Gonelli, Frau Peskic«, entgegnete ihr das Mädchen selbstbewusst.

»Nein, ich kenne alle meine Freunde«, verlautete sie in einem herablassenden Ton und sah die Gesellschaft am Tisch mit einem aufgesetzten Seufzen an. »Kind, du musst bei deinem Lebensunterstützerdienst sorgfältiger sein.«

»Frau Gonelli hat mit Ihnen in der Lübecker Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Sie war zwei Zimmer neben ihnen. Zehn Jahre lang.« Mühsam nahm Frau Peskic ihr Kinn nach unten und zwang ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.

»Frau Gonelli, so schön, dass Sie an mich gedacht haben.« Frau Gonelli wurde mit einer Umarmung beschwichtigt und als Geburtstagsgast aufgenommen.

Das Mädchen ging zu Term, der aufhörte der Geburtstagsgesellschaft zuzuhören. Jemand am Tisch bemerkte, wie schön der ECM-Armreif gestaltet worden sei.

»Verwandt oder verpflichtet?« Der Mund des Mädchens war schmal und aus der Nähe wirkte ihr Haar wie Federn, die über ihren Ohren tanzten. Als Term nicht sofort reagierte, wiederholte sie ihre Frage.

»Der alte Sack mit den langen Fingern, der neben dem sitzt, bei dem sich die Lippen unabhängig vom Gesicht bewegen«, beschrieb Term die Sitzanordnung.

»Ein Lippenzitterer meinst du. Dein Zombie sieht mit seinem langen dünnen schwarzen Mantel wie eine Mischung aus Rachegeist und Comicfigur aus. Diese Dienstaufgaben sind doch große zermscheiße. Ich hasse sie dafür, dass sie mir meine Zeit klauen.« Term sah sie baff an, ihre kalte Wut ließ ihn die Schultern hochziehen.

»Sag das nicht so laut. Bist du wahnsinnig. Denk an die Strafen.«

»Pff, das ist mir scheißegal. Dir etwa nicht?« Ihre dunklen Augen warteten.

»Nun …«, eigentlich nicht, dachte sich Term. Tatsächlich war sein Vergehenskonto sowieso schon im roten Bereich. Es schien, als könne er die Unbekannte damit beeindrucken. Deshalb sagte er, »… für mich ist es eh schon zu spät. Niemand hat mehr Maluspunkte als ich.«

Sie nickte. Als er sie nach ihrem Namen fragen wollte, warf sie einen Blick auf den leeren Tisch und sagte: »Dann lass uns diesen Zeitdieben mal ein scharfes Geburtstagsfest bereiten.«

»Warte. Kennen sich diese Frau Gonelli und Peskic wirklich?«

»Nein.«

Sie zwinkerte ihm mit dem rechten Lid zu. Dann wandelte sich ihr Gesicht in das eines unschuldigen Mädchens, das in einer Zahnpastawerbung hätte lächeln können. Ganz süß strich sie sich eine Strähne hinter die Ohren, wandte sich an die Gesellschaft und fragte dann die alten Menschen, ob sie denn ihre Geburtstagstorte haben wollten.

»Oh ja, gerne. Ihr könnt alles hereinbringen.«

»Ich habe nicht so viel Glück mit meinem Lebensunterstützer. Der Junge ist unhöflich, widerspenstig und zu wirklich nichts nutze. Dreimal, mindestens, muss ich ihm einen Auftrag geben, bis er seine Sache auch wirklich ausfüllt.« Luks wurde bemitleidet. »Dann gibt er auch noch Widerworte – könnt ihr euch das vorstellen?«

»Warum lässt du dir kein anderes Kind zuteilen. Es steht dir zu«, bemerkte Gabriela. »Was hat das Kind schon geleistet? Geschweige denn der Gesellschaft zurückgegeben? Derweil sind es wir 100 bis 120-Jährigen, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wir haben den perfekten und weltweit einmaligen Wohlfahrts- und Gesundheitsstaat geschaffen. Gerechtigkeit zwischen den Generationen sollte diesen undankbaren Jugendlichen in der Schule beigebracht werden. Glauben die, es fällt alles vom Himmel? Dafür sollte extra ein Schulfach eingerichtet werden!«

»Das gibt es schon … Ökologie und Gerechtigkeit heißt das glaube ich. ÖK sagte mein erster Lebensunterstützer immer. Aber das ist nicht so einfach. So viele Kinder gibt es auch wieder nicht zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Dann dürfen sie wegen des ökologischen Fußabdrucks ja nicht weiter als 45km entfernt wohnen.«

»Wohl wahr, wohl wahr«, murmelte es wie in einer Kirchengruft.

»Da gibt es eine Ausnahmeregelung. Ein Kind aus dem Umland kann zum Dienst in die Stadt beordert werden, wenn wirklich kein anderes frei ist. Jedem von uns steht per Gesetz ein Lebensunterstützer zu. Es ist auch verboten ohne Unterstützer durch das Alter zu gehen, damit die nachwachsende Generation auch gleich und gerecht ihren Dienst leistet.« Für die wenigen Sekunden, in denen Luks Sitznachbar sprach, zitterte seine Lippe nicht. Seine Hände ruhten auf seinem dicken Bauch.

»Ich musste ihn nehmen, da kein anderes Kind frei war. Er wird des Mordes verdächtigt.« Luks wurde noch mehr bemitleidet und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Wenigstens für einen Moment hatte er Gabriela die Show gestohlen.

»Es ist ganz und gar nicht gerecht, dass wir unser Leben lang arbeiten und diese verzogenen Kinder meinen, sie müssen nichts zurückgeben. Das bisschen Pflege, pah. Sie sollten es als Geschenk verstehen, Zeit mit uns zu verbringen und von unserer Lebenserfahrung zu lernen …«, Gabriela schimpfte sich wieder in die Mitte der Aufmerksamkeit zurück.

»Lass uns gehen.« Das Mädchen mit den schwarzen Haaren ging zielstrebig zur Küche. Term hatte sich noch gar nicht im Restaurant umgesehen, während sie offenbar alles im Blick hatte.

»Wieso müssen wir das machen? Wieso müssen wir überhaupt hier sein? Es gibt doch Kellner.«

»Sei nicht so weinerlich.« Das brachte ihn sofort zum Verstummen. »Diese Aufgaben sind doch nur ein Vorwand des Systems. Diese Handgriffe könnten auch von Maschinen erledigt werden, teils sogar von den Alten selbst. So immobil sind diese Zombies nicht. All diese belanglosen Arbeiten sollen uns vertraut mit den Alten machen. Blumen gießen, Nahrungspillen in die Lebensbaum werfen oder mit ihnen fernsehen. Sie erzählen dir von ihrem Leben und wenn was schiefläuft, haben wir Lebensunterstützer in der Regel auch dieselbe Blutgruppe wie unsere Alten. Nur für den Notfall. Hauptsache sie haben das Enkel-Gefühl, da sie dann geistig gesünder altern. Dafür sind wir da, denn das Management der biologischen Alterung liegt ja bei der AW.«

»Das Gefühl Kinder und eine Familie zu haben, ist besser als jede Pille.« Sie sah ihn kurz an. »Dann lass uns mal die Torte holen.«

»Seid ihr die Lebensunterstützer der Gesellschaft Gabriela Peskic?« Sie nickten dem hochgewachsenen Kellner zu. »Bloß nicht runterwerfen.« Der Kellner stellte eine echte Sahnetorte vor ihnen ab. Sie sah schmackhaft auf. »Finger weg!« Der Kellner schlug Terms Hand weg.

»Du hattest nicht wirklich vor, von der Torte zu naschen?«, fragte ihn das Mädchen ungläubig.

»Wieso nicht, mir doch scheißegal, was die Alten sagen. Hast du das nicht auch gesagt?« Sie lächelte.

»Kinder, benehmt euch! Der Liliengarten ist ein angesehenes Restaurant. Kann ich mich auf euch zwei jetzt verlassen oder soll ich sie rüberbringen?« Der Kellner hatte noch Servietten und einen Tortenheber dazu gelegt.

»Sie können sich auf uns verlassen«, reagierte das Mädchen umgehend. Als der Kellner weg war, holte sie mehrere kleine, weiße Kapseln aus einer Tasche in ihrem Rock. »Diese Torte ist nicht für dich, Term.«

»Sind das Essenskapseln?«

»Ja. Nimm welche … ich dachte, es gibt keinen echten Kuchen. So ein Mist, aber hier schau.« Sie nahm sich einen kleinen Löffel vom Tisch, piekte mehrere Löcher in die Mitte des Kuchens. Ungefähr dort, wo die Spitze eines Kuchenstücks sein würde, wenn er angeschnitten wurde.

»Mach eine Kapsel auf und lass den Inhalt in das Loch fließen.«

»Was ist da drin?«

»Schnell«, zischte sie konzentriert. Zwei Kapseln hatte sie schon so in die Torte eingearbeitet. »Ist eine kleine Aktion, um es den undankbaren Kommandeuren heimzuzahlen.«

»Aber ich kenn die doch alle nicht …«

»Wenn du nicht mitmachen willst, dann halt die Klappe.« Ihre Wangen waren rot, sie war wütend und hatte Angst bekommen, entdeckt zu werden. »Was kümmern dich die alten Säcke? Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein Schwachmaten-Programm bist.« Warum hatte sie erwartet, dass er anders reagieren würde, fragte sich Term.

Er knickte die Kapsel entzwei. Die Beleidigungen des Mädchens wirkten wie Befehle auf Term. Weiße Sahnemasse tropfte in ein Loch. Dann füllte er noch ein Löffelloch. Gekonnt verstrich das Mädchen die obere Tortenschicht. »Fast perfekt, denn die vordere Spitze wird immer gegessen.«

Jetzt grinste sie ihn breit an. »Das wird ein Spaß.«

Die Geburtstagsgesellschaft war begeistert. Ein echter Kuchen, keine Kapseln. Die Augen der Anwesenden wurden größer, als Gabriela den Kuchen anschnitt. Nur das erste Stück, den Rest durften Term und das Mädchen verteilen.

»Er ist so echt wie möglich. Selbstverständlich Laktose-, Gluten und Zuckerfrei. Der Kaloriengehalt eines Stückes entspricht in etwa dem eines Teelöffels Erbsen. Ihr könnt ihn bedenkenlos essen.« Es raunte wieder am Tisch. Einige bedankten sich.

»Was haben wir da reingetan?« Term versuchte keine Aufregung zu zeigen. Nervös sah er eine Uhr über den Tischen an.

»Konzentriertes Wasabi.« Das Mädchen klang stolz. »Das Wasabi ist geschmacksneutralisiert worden. Man kann es nicht schmecken. Es ist nur die Schärfe geblieben.«

»Das ist nicht dein Ernst.« Langsam drehte er sein Gesicht zu ihr. Fröhlich strahlte sie ihn an. Der Moment fühlte sich wie in einem Comic an: Als würde gleich etwas richtig Witziges passieren, ein Clown aus der Torte springen oder ein großer Ambos vom Himmel fallen. »Hast du jemals darüber nachgedacht, dass einer daran sterben könnte? Schock, erhöhte Herzfrequenz … was weiß ich, ich bin kein verdammter Doktor.«

»Term.« Er war völlig überrascht, dass sie seinen Vornamen benutzte. Woher kannte sie ihn? »Von Wasabi stirbt man doch nicht.« Aber in ihrer Feststellung klang eine leise Frage mit.

Bevor Term weitersprechen konnte, explodierte ein Konzert aus elektronischen Warnsignalen. Gabrielas ECM fiepte wie eine gefangene Maus, Luks Lebensbaum blinkte rot und andere schrille Warnsirenen brachen aus den technischen Geräten an den alten Menschen hervor. Ein alter Herr röchelte um Hilfe. Luks spuckte das Stück Torte aus. Hilflos stürzte eine Dame ein Glas Wasser hinunter. Flüssigkeit tropfte an ihrem dürren Kinn herab und sie schien Feuer spucken zu wollen. Panisch drückte Gabriela Tasten auf ihrem ECM. Kellner standen hilflos bei der Geburtstagsgesellschaft. Keiner traute sich, die würgenden und hustenden Alten anzufassen, denn ein falscher, zu starker Griff war gefährlich. Erst recht traute sich niemand, den Lebensbäumen und Maschinen Befehle einzugeben, denn das durften nur ausgebildete Pfleger und Ärzte.

»Luft …« Eine Rentnerin zwang das Wort aus ihrer Kehle, dann fiel sie nach vorne mit dem Gesicht auf ihr Stück Torte. Entsetzt betrachtete Term die alte Frau. Kurzes, weißes Haar hing über ihre Ohren und verklebte mit dem weißen Tortenbelag.

»Von wegen, davon stir…«, wollte er das Mädchen anschreien, aber sie war verschwunden. Schnell schluckte er seine letzten Worte hinunter. Er wollte nicht verdächtig wirken. Er drehte Luks Stuhl zu sich und überprüfte seinen Alten.

»Luks. Sind Sie in Ordnung?« Raphael Luks saß ganz entspannt in seinem Stuhl und betrachtete seine Umgebung argwöhnisch. Das Zappeln und Hilfesuchen seiner Tischnachbarn ließ ihn kalt. Es interessierte ihn, wie ein Botaniker ein misslungenes Beet studierte. Er wirkte gelangweilt und verächtlich zugleich.

»Gabrielas Kuchen war wohl nicht richtig zubereitet. Geschieht ihr Recht, diese hochnäsige Schlange.« Sprachlos sah Term seinen Alten an. Luks wollte nur die Niederlage seiner »Freundin« auskosten. Term überblickte die um Luft und Fassung kämpfende Geburtstagsrunde. Kannten sich die versammelten Alten hier überhaupt? Oder war das Treffen nur wie eine Singstunde, eine Stunde Fremdsprachenunterricht oder ein Ausflug zu einem Restaurant auf dem Land. Waren sie Freunde?

»Alle weg vom Tisch! Ihr da drüben, macht die Glastüren im Wintergarten auf. Wir werden alle auf Liegen abtransportieren.« Der Notarzt trat souverän auf und gab knappe Befehle. Die Kellner rannten sofort zu den Fenstertüren und rissen sie auf. Term stellte sich an die Wand und beobachtete das Geschehen. Es hatte knapp fünf Minuten gedauert, schon waren drei hochmoderne Krankenwagen vor dem Restaurant aufgefahren. Zwei waren vom staatlichen Gesundheitswesen, das erkannte Term an ihrer roten Aufschrift. Der dritte Wagen war blau-grün lackiert und das neuste Model der Notfallserie. Die großen Hintertüren waren aufgeschwungen. Das Wageninnere bestand aus einem massiven silbernen Block medizinischer Geräte mit einer rechteckigen Öffnung. Term musste an die Form eines Sarges denken. Im Inneren der rechteckigen Aushöhlung waren Sonden, Schläuche und Sensoren zu erkennen. Die zwei Notärzte in den grün-blauen Uniformen schoben Gabriela Peskic durch den Biergarten und dann in die Öffnung des Krankenwagens. Sie verschwand in der Öffnung wie ein Sarg im Leichenwagen und dann knallten die Wagentüren zu. Mit einem Heulen verschwand der erste Wagen.

»Packen Sie den Kuchen ein und geben Sie ihn meinen Kollegen. Der muss in die Toxikologie.« Der nächste Befehl für die Kellner wurde ebenso schnell ausgeführt. »Zur Sicherheit werden wir sie auch mitnehmen, Herr Luks. Bis Ihre Werte wieder normal sind«, entgegnete der Notarzt Luks‘ Protesten.

»Du bist der Lebensunterstützer des Herrn Luks?« Der Notarzt kaute Kaugummi und klang so aufgeregt wie eine Schildkröte. Die vielen Einsätze hatten ihn ruhig werden lassen. Sehr ruhig und abgebrüht. Term nickte. »Du hast ab jetzt frei. Wenn Herr Luks aus der Klinik entlassen ist, geht dein Dienst weiter. Genieß deine Freizeit.«

Dann fuhren die restlichen zwei Krankenwagen davon. Die Kellner schlossen die Türen wieder, räumten den Tisch auf und deckten ihn neu.

»Wer hat den Kuchen gebacken«, verlangte der Chef zu wissen, der mittlerweile aus seinem Büro herausgestürzt war. Die Krankenwagen waren fast genauso schnell wie er gewesen, da die Werte schneller an die Gesundheitszentrale übermittelt wurden, als die Betroffenen vor Ort die Veränderung in ihrem Kreislauf spürten. Als der Mund und Rachen der Alten zu brennen begonnen hatte und das Herz losraste, waren die Biosignale bereits in der AW eingegangen und hatten Alarm geschlagen. Während der Restaurantchef noch die Speisekarte für den nächsten Tag geplant hatte, waren die Notärzte bereits in den Wagen gesprungen und losgefahren. Der Chef hatte erst zwei Minuten später von seinem ersten Kellner erfahren, was im Restaurant los war. Als er dann aus der ersten Etage hinuntergeeilt war und sich ein Bild gemacht hatte, war die Tür schon aufgeschwungen und der Notarzt hatte das Kommando übernommen.

»Der wurde geliefert.« Die Erleichterung standen Chef und Angestellten ins Gesicht geschrieben.

»Entschuldigen Sie. Haben Sie das Mädchen gehen sehen?« Planlose Gesichter sahen Term an. »Das Mädchen, das mit mir hier war?«

»Muss wohl mit im Krankenwagen sitzen. Keine Ahnung, sie war doch die Lebensunterstützerin der Dame mit Alzheimer«, antwortete ihm der Kellner.

Term bedankte sich und verließ das Restaurant. »Genieß deine Freizeit«, hatte der Notarzt gesagt. Aber das mysteriöse Mädchen ließ ihm keine Ruhe. Die alte Dame sah aus, als ob sie erstickt worden wäre. Wenn rauskam, dass Term den Kuchen manipuliert hatte, würde ihn Polizeikommissar Berg eines zweiten Mords beschuldigen. Nein, Term konnte seine Freizeit nicht genießen. Er musste dringend das Mädchen finden.


TERM

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