Читать книгу TERM - Felix Leitner - Страница 4
Das Ende des Fleischdeputats
Оглавление»Du hast ihn doch nicht umgebracht! Ich finde den Verdacht der Polizei eine Zumutung.« Seine Mutter war eine schöne Frau. Jedenfalls sagte das sein Vater sehr oft. Auch Lukas, sein Schulfreund, meinte das. Aber für Term war sie einfach seine Mutter. Das Fantastische an ihr war: sie war unkompliziert. Keine langen Reden, keine tausend emotionalen Erinnerungen, wie sehr sie sich wünsche, wie schön es wäre und wie gut es einem selbst täte. Nein, seine Mutter brachte die Dinge auf den Punkt. Ohne Umschweife. Leider setzte sie damit aber auch immer ihren Willen durch. Term mochte zwar nicht immer aufräumen oder Hemden an Geburtstagen tragen, aber dafür trug ihm seine Mutter nichts nach.
»Term, hast du jemanden umgebracht?« Sein Vater stand noch in der Küche, als er die Frage zwischen laufendem Wasser und dampfendem Ofen stellte. »Ah, Mist. Ich habe mir den Finger an der Auflaufform verbrannt.«
Mutter legte ihr Nachrichtenpad weg und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mit ihren braunen Augen Term mitfühlend an. Term tippelte mit seinen Füßen auf dem Boden. »Kommst du mit deinem neuen Senior zu Recht?«
»Nein. Er ist ein A …« Seine Mutter sah ihn streng an. Liebevoll oder streng, sie konnte sehr schnell zwischen beiden Stimmungen wechseln, wenn nötig. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«
Sein Vater stellte die dunkelblaue Auflaufform auf den Tisch. Sie hatte die Form eines Xes. »Term«, ermahnte ihn sein Vater, während er die Beine des Xes schnitt und Käse-Schinken-Gratin auf den Tellern verteilte. »Du musst lernen mit diesen Aufträgen klar zu kommen. Du sammelst verdächtig viele Mahnungen. Das bleibt doch alles in deiner Akte.«
»Die Akte ist mir egal.«
»Term. Die Akte der AW ist nicht egal. Die Akte bestimmt dein Leben. Geht das in deinen Kopf nicht rein?« Sein Vater strafte ihn wütend mit seinen Blicken. Term verbrannte sich die Zunge.
»Schau Term, das war nicht klug. Dein Vater will nur, dass du daran denkst, was deine Handlungen für Konsequenzen haben. Die Polizei wird bestimmt zweimal nachsehen, weil du so … so wirklich viele und unnötige Ermahnungen hast.« Seine Mutter sorgte sich immer noch wegen des Mordverdachts. Ihre helle Stimme berührte ihn durch seine düstere Genervtheit hindurch.
»Ja. Es tut mir ja leid«, sagte Term leise und etwas komisch. Die Zunge schmerzte noch.
»Du bist doch gar nicht so.« Term nickte.
»Ach er hat doch Recht«, entfuhr es seinem Vater. Das Grau an den Schläfen seines sonst dunkelbraunen Haares erinnerte Term an einen alten Baum, der verwitterte.
»Heinrich?«
»Wenn da nicht die Konsequenzen für sein Einkommen wären, würde ich genauso reagieren.« Sein Vater schnitt das Gratin und aß einen Happen.
»Du bist ja ein schönes Vorbild. Ermutige ihn nur dazu, die Senioren weiter zu ärgern, zu beleidigen. Was hatte er letztens gemacht? Er hat in jede Nahrungskapsel Beta-Carotin gemischt. Heimlich, über Wochen hinweg. Der alte Mann hatte lächerlich ausgesehen. Ein Glück, dass sein Körper das vertragen hat. Ansonsten …«
Bei der Geschichte schien sein Vater beinahe zu grinsen. Zum Glück war die medizinische Seite glimpflich ausgegangen. Term war in der Vorbereitung gewarnt worden, dass jede Nahrungsveränderung zu körperlichen Konsequenzen führen könnte. Aber es war ihm in dem Moment egal gewesen. Er wollte herausfinden, ob der alte Moralbonze orangefarben anlaufen würde. Aber es hätte auch ganz anders ausgehen können, da hatte seine Mutter recht. Wie so oft.
»Schmeckt es dir?«, fragte seine Mutter nach. Term schmeckte wegen der verbrannten Zunge nicht viel, aber es roch gut.
Das Gesundheitsarmband seines Vaters piepte. »Neeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiin. Jetzt schon?«
»Hast du auf der Arbeit Fleisch gegessen? Heinrich?«
»Es war doch nur eine Leberkässemmel.« Echos von Tränen liefen an den Wangen seines Vaters herab. Sehnsuchtsvoll sah er den Schinken im Auflauf an.
Sie haben Ihr Fleischdeputat für diesen Monat aufgebraucht. Sie können bis zum Ersten des nächsten Monates kein Fleisch mehr erwerben und dürfen keines mehr verzehren. Ihr Gesundheitsbetreuer in der Allgemeinen Wohlfahrt ist benachrichtigt. Vergessen Sie nicht: Fleischkonsum beschleunigt den Klimawandel, deswegen wurde er dank dem GNHL stark eingeschränkt. Sehen Sie ihre fleischfreie Zeit als Chance die Welt ein Stück besser zu machen. Als die Computerstimme verstummte, schwiegen seine Eltern. Sein Vater sezierte den Schinken aus dem Auflauf auf seinem Teller heraus. Seine Mutter streichelte seine linke Hand und lächelte ihm mitfühlend zu.
»Ich wäre lieber Mao gefolgt als unter dem Gesetz für nachhaltiges Leben zu existieren«, murrte sein Vater kleinlaut. »Ich esse exakt gleich viel Gramm Fleisch, trinke exakt gleich viel Liter Milch im Monat und habe bestimmt den exakt gleichen Stuhlgang wie jeder 49-jährige Deutsche. Unter Mao konnte man zwar jederzeit zwangsexekutiert werden, aber wenigstens konnten sich die Kommunisten noch besaufen und überfressen.«
»Können wir nach Brasilien fliegen? Einfach mal Urlaub machen?« Traurig stocherte seine Mutter mit der Gabel im Gratin herum. Term fühlte sich sofort schuldig, er wusste, wie gerne sie verreiste.
»Ausgeschlossen, Term. Das Geld haben wir nicht so locker.«
»Wieso denn nicht? Ihr arbeitet beide.«
»Das habt ihr wohl in der Schule noch nicht drangenommen … Du kennst doch das System, dass jeder Jugendliche ab seinem zwölften Lebensjahr als Lebensunterstützer arbeiten muss. In dieser Zeit kannst du dir für deine Rente Zusatzpunkte erarbeiten. Wenn du nicht ordentlich arbeitest oder die Alten beleidigst", Vater hob seine Augenbrauen, »dann bekommst du weniger oder nichts für deine Rente gutgeschrieben. Wenn du ins Arbeitsleben eintrittst, ist dein Guthaben bei null, plus all die Boni … bei dir eher die Mali, die du dir bereits in der Jugend erarbeitet hast. Bei uns Erwachsenen im Arbeitsleben gab es früher mal den Tag des Steuerzahlers. Der sagte aus, bis wann man im Jahr für den Staat arbeitete und ab wann man den Lohn für seine Arbeit für sich behielt. Das war so …«
»Juni. Aber nach der Staatsschuldenkrise, dem Ausbau der Gesundheitssysteme, der Sozialsysteme und der Glückssysteme für alle Bereiche des Lebens sprang der Tag auf September. Wanderte mit der Gründung der Allgemeinen Wohlfahrt in den November und als er auf dem 31. Dezember lag wurde es verboten, über diesen Tag zu reden oder zu schreiben.« Mutter wusste solche Details immer besser als sein Vater.
»Genau. Damit dieser Garantie- und Absicherungsstaat noch irgendwie funktioniert, arbeitet man jetzt sein Leben für die Sicherungssysteme und kurz vorm Ende für sich. Ich muss bis ich 55 bin für den Staat arbeiten, dann hab ich noch die verbleibenden Jahre, um nur für die Altersabsicherung zu arbeiten. Ohne die Boni aus der Jugend hat man keine Chance auf etwas Zeit, bevor man an einen Lebensbaum angeschlossen ist.« Sein Vater warf wütend die Gabel auf den Teller und stützte seinen Kopf auf das Kinn. Term war erschrocken, er sah so gebrochen aus.
Das machte Term noch wütender. »Dann verkaufen wir das Auto. Dafür bekommen wir bestimmt drei Tickets. Wir müssen ja nicht zurückfliegen.«
»Term!« Doch er ließ seine Mutter nicht zu Wort kommen.
»Ich werde dort sofort arbeiten. Das Geld gebe ich euch, damit wir alle gut auskommen.« Term sah sich schon unter der Sonne Brasiliens in einer Bar aushelfen. Wenn er dann 18 war, würde er Elektromechaniker werden und in einer lauten Nebenstraße täglich die E-Wagen reparieren. Abends dann kühlen Limettensaft trinken und zum Tanzen in den Club gehen – in den Club Celecao oder in die Bar Dragao oder im Calido oder wie sie hießen. Seine Eltern würden in Brasilien bestimmt Jobs finden. Sie hatten beide sehr gute Abschlüsse. »Ihr beiden könntet abends Cocktails trinken gehen. Zusammen Tanzen. Nicht wie hier, wo ihr müde nach Hause kommt und nur eure Zeit ableistet.«
»Term. Es ist genug.« Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr Mutters Augenbrauen aus Sorge zusammengewandert waren.
Term warf die Gabel in seinen Auflauf. Der Stuhl schabte laut über den Boden, als er wütend den Tisch verließ. Sein Vater schimpfte. Seine Mutter bat ihn, wenigstens doch etwas zu essen. Hunger müsse er doch haben! Er hatte keinen Bock auf das Minimum. Wenigstens zusammen zu sein, als Familie am Tisch. In solchen Momenten nervten ihn seine Eltern gewaltig. Sie dachten nur an den Alltag. An das, was zu tun war, was sich gehörte und worüber er nachdenken sollte. Und dann? Wollten seine Eltern nicht auch leben? Nicht einfach nur funktionieren?
Er schlug die Tür nicht zu. Theatralik lag ihm nicht. Seine Wutausbrüche verunsicherten ihn selbst schon genug. Das am Tisch war aber keiner seiner unkontrollierten Wutausbrüche gewesen, sondern einfach nur Ärger mit den Eltern.
Terms Zimmer war voll und eng. Es glich einem Urwald aus alten Zeitschriften und ein paar Büchern. Nicht mehr viele, die meisten las er elektronisch. Aber manche alten Ausgaben waren anders nicht zu bekommen. Vor allem die Naturkunde- und Reisezeitschriften. Er kaufte sie für wenig Geld online oder bei Hausräumungen. Deswegen roch es in seinem Zimmer manchmal muffig. Viel altes Papier auf einem Fleck produzierte eine abgeschmackte Luft. Er kippte deshalb immer sein Fenster. Auf den Zeitschriften, die unordentlich auf dem Boden und in den Regalen herumlagen, standen elektronische Bilderrahmen. Fotos von Urwäldern, Bergen und Küsten wechselten sich ab. Die Bilder gingen sanft ineinander über und verstrahlten ein leichtes blaues oder grünes Licht.
Term warf sich in sein Bett und starrte an die Decke. An der Decke hing sein Lieblingsposter. Es zeigte das Nachtleben von Rio de Janeiro. Term verlor sich in seinen Gedanken. Bei diesem fantastischen Poster ging das in Sekundenschnelle. Auf dem Gehsteig neben ihm tanzte ein brasilianisches Pärchen wild und leidenschaftlich. Ihr roter, geknitterter Rock flatterte laut in der Luft. Ein Cocktailverkäufer und er stießen freundlich zusammen. Die kantigen Gläser klirrten. Er war doch fast siebzehn. Wen kümmerte es? Überhaupt, wen kümmerten Regeln und Vorschriften, wenn man durch die Straßen Rios ging? Kleine Mopeds schossen an ihm vorbei, hupten, überholten sich und bogen scharf ab. Term schmeckte das Benzin in der Luft. Alle Menschen dort waren mit Leben beschäftigt, mit Lachen, mit Geld ausgeben, für das, was das Herz gerade begehrte. Hier gab es keinen Sparzwang und keinen Nahrungs- und Konsumplan für die nächsten 365 Tage. Die Nacht lebte in Rio und die Bewohner Rios lebten in der Nacht. Unter ihnen Term.